Du weißt mit 19 schon, wo du mit 35 beruflich stehen willst? – Respekt. Es lohnt sich dennoch, diesen Text zu lesen. Häufig kommt es anders als man denkt. Häufig ist es gut so. Kerstin Hess, 35, ist seit Anfang 2020 Leiterin der Stabsabteilung Finanzstrategie und Organisation. Eine Top-Position bei Porsche. Geplant war das nicht. Hätte sie eine andere Abzweigung genommen, würde sie heute vielleicht an einem Institut für Biochemie in der Zellforschung arbeiten.
Es schadet nicht, einen Plan zu haben. Wohl aber, aufs eigene Fortkommen fixiert zu sein. „Es muss immer inhaltlich passen“, sagt Kerstin. „Ich bin vorsichtig, wenn ich einen Posten angeboten bekomme, mit dem ich strategisch den nächsten Schritt machen kann. Wenn ich mit der Aufgabe fremdele, kann ich nicht erfolgreich sein.“
Kerstin hat in Sindelfingen in den Wahlfächern Mathe, Biologie, Chemie und Physik Abitur gemacht. Es lag nahe, bei Daimler irgendwas mit Autos zu machen. Oder doch lieber Mathe studieren? Technische Mechanik? Aber was später damit anfangen? „Dann habe ich den Studiengang Wirtschaftsingenieur entdeckt. Für mich war das eine gute Kombination. Ich fand es gut, dass Unternehmen das anbieten: Man bekommt Einblick in die Praxis. Welche Berufsbilder es dazu gibt.“
„Man sollte nicht verbissen der Karriere hinterherrennen.“ Kerstin Hess, Leiterin der Stabsabteilung Finanzstrategie und Organisation
Das Duale Studium begann sie 2004 an der Berufsakademie Stuttgart und bei Porsche („Da wollte ich hin“). Der Anteil junger Frauen bei den Wirtschaftsingenieuren lag bei etwa 20 Prozent, das hat sich geändert, heute arbeiten Frauen auch im Maschinenbau und in der Elektrotechnik. Mit 22 schrieb sie ihre Diplomarbeit über Finanzstrategien. Einen Job im Finanzressort gab es allerdings nicht. Wieder eine Wegscheide: Was tun? Bei Porsche bleiben? Sie blieb, war im Einkauf für den Zukauf von Dienstleistungen (Medien, Print, Filme) zuständig. Kurz darauf meldete sich die Finanzstrategie bei Kerstin: Ob sie als Projektleiterin ins Lieferantenrisiko-Management wechseln wolle? Kerstin wollte. Weil es inhaltlich passte. Sie beschreibt sich als „eher risikoavers“, sprich: als vorsichtigen Menschen. Fortan betreute sie insolvente Lieferanten und gelangte durch die tägliche Bilanzanalysen-Praxis zurück zur Finanzstrategie.
„Wenn die Chance kommt, diese auch wahrnehmen!“
Wichtiger als ein Karriereplan sind Bauchgefühl, Mut und Entscheidungsfreudigkeit. Oder wie es Kerstin sagt: Wenn die Chance kommt, diese auch wahrnehmen! Als der Finanzvorstand eine Assistenz suchte, bewarb sie sich. Kollegen rieten ab: Nach nur zweieinhalb Jahren wechselt man nicht. Das könnte als illoyal gewertet werden. Auch im Lebenslauf machen sich Kurzeinsätze nicht gut. „Mir war das egal, ich hatte Lust auf das Thema.“ Sie bekam die Assistenz. Rückblickend war der Wechsel der entscheidende Schritt. Sie bewährte sich, erarbeitete sich das Vertrauen des Vorstands und wurde mit 30 Leiterin des Risikomanagements.
Als 2018 ihr Mann eine Stelle in den USA antrat, ermöglichte Porsche ihr einen Teilzeitjob bei Porsche in Atlanta. Gut gelaufen. Kerstin hätte es dabei belassen können. Tat sie nicht. Sie schrieb sich in Washington, D.C. an der Universität ein. Um nach der Dualen Hochschule an einer Universität zu studieren. Sie hielt Kontakt zur Basis in Zuffenhausen, war alle paar Monate mal da. Die Rückkehr im Januar 2020 war eine Heimkehr, verbunden mit dem neuerlichen Aufstieg: Beförderung zur Leiterin der Stabsabteilung Finanzstrategie und Organisation.
Geplant war das nicht. Kerstin sagt: „Man sollte nicht verbissen der Karriere hinterherrennen. Das macht einen unentspannt. Man sollte sich an die richtigen Personen halten, Netzwerke aufbauen, Kontakt halten. So was hilft.“
Info
Text erstmalig erschienen im Magazin „Campus“.
Text: Jo Berlien