Sebring, Stuttgart, São Paulo – André Lotterers letzte Wochen stehen sinnbildlich für den reiseintensiven Alltag eines modernen Rennfahrers. Wie sah es bei Ihnen aus, Herr Stuck?
Stuck: Es gab bei mir Zeiten in den Siebzigern, als ich mit der Formel 1, der Formel 2 und Tourenwagen 36 Rennen pro Jahr gefahren bin. Da war ich Samstag noch bei der Formel 1 in Brands Hatch und am Sonntag saß ich im Tourenwagen in Diepholz. Als Pilot ist man damals ähnlich viel unterwegs gewesen, aber es war nicht ganz so anstrengend, wie es heute ist.
Sie beide stammen aus Rennsport-verrückten Familien. Welche Rolle spielte Le Mans in Ihrer Jugend?
Lotterer: Bei mir waren erst die 24 Stunden von Spa mehr im Fokus, da ich in Belgien aufgewachsen bin. Mein Vater betrieb dort ein Rennteam, das aber leider nicht in Le Mans gefahren ist. Natürlich habe ich das Rennen aber immer verfolgt, und für mich waren schon in jungem Alter die Gruppe-C-Renner die coolsten Autos. Da gab es keinen Weg daran vorbei! Weil das Team meines Vaters Porsche-Kunde war, bekam es große Modelle dieser Autos. So stand bei meinem Dad ein Rothmans-Porsche im Büro, mit dem ich immer spielen wollte, aber nie durfte (lacht).
Stuck: Ich habe noch den letzten Renn-Abend meines Vaters mitbegleitet, der gefahren ist, bis er 62 Jahre alt war, und dabei sogar in Monza gewann. Er ist leider nie in Le Mans angetreten, aber in Gesprächen hat sich für mich herauskristallisiert, dass es drei wichtige Rennen gibt: das Indy 500, den Grand Prix von Monaco und Le Mans. Und ich dachte mir, Mensch, eines davon möchte ich mal gewinnen. Hinsichtlich Indy ging nichts, in Monaco wurde ich immerhin einmal Vierter, aber als ich dann zum ersten Mal in Le Mans auf dem Siegertreppchen stand, hatte ich eines der drei Ziele erreicht.
Bei Ihren Le-Mans-Debüts konnten Sie jeweils schon auf Langstrecken-Vorerfahrung setzen. Überwog trotzdem der Respekt?
Stuck: Ich hatte auf jeden Fall Respekt, auch später. Als ich die Chance bekam, für Porsche in Le Mans zu fahren – und auch davor in der Formel 1 –, gab es noch nicht die heutigen Sicherheitsstandards. In der Formel 1 erlebte ich viele tödliche Unfälle. Man wusste, auf was man sich da einlässt. Mich hat so was sehr stark belastet, aber sobald ich im Auto saß und der Motor lief, waren die Gedanken wie weggeblasen. Sonst hätte ich das nicht machen können. Wenn man sich überlegt, dass ich mit bis zu 400 km/h nachts auf der langen Geraden von Le Mans gefahren bin! Es durfte einfach nichts schiefgehen.
Lotterer: Da haben wir es natürlich besser. Als ich zum ersten Mal in Le Mans gefahren bin, brach die Leidenschaft für dieses Erlebnis aus mir heraus. Gleichzeitig verspürte ich aber auch sehr viel Respekt, weil jeder kleinste Fehler auf dieser Strecke hart bestraft wird. Es gibt kaum Auslaufzonen, und man ist häufig über 300 km/h schnell. Man muss immer höchst konzentriert und vorausschauend im Verkehr sein. Denn selbst wenn die Autos sicher sind, kann immer etwas passieren. Daran hat sich nichts verändert.
Hatten Sie Mentoren, die Ihnen in Le Mans unter die Arme gegriffen haben?
Stuck: Mit Derek Bell hatte ich einen sehr erfahrenen Mann an der Hand, und wir wussten, dass wir uns aufeinander verlassen können. Aber einen wirklichen Austausch über so etwas wie Gefahrenstellen gab es nicht.
Lotterer: Bei meinem ersten Le Mans bin ich in einem Team gestartet, das dort wie auch alle seine Fahrer debütierte. Meine Kollegen bei Kolles waren damals Charles Zwolsman junior und Narain Karthikeyan. Letzterer hat sich vor dem Start bei einem Sprung über die Mauer die Schulter ausgekugelt, wodurch wir von Beginn an ein Duo waren. Was zu Strietzels Zeiten normal war, war für uns eine riesige Herausforderung. Meine Schule in Japan mit den schnelleren Super-GT-Autos hat mich aber gut vorbereitet, denn auch dort gibt es Fahrerwechsel. Direkt im Jahr danach bin ich im Audi-Werksteam gelandet, in dem ich sehr gut von den Erfahrenen unterstützt wurde.
Jacky Ickx und Tom Kristensen gelten als die großen Le-Mans-Könner. Was machte sie an der Sarthe so besonders? Und haben Sie sich davon vielleicht etwas für Ihre Erfolge abschauen können?
Lotterer: Dem Tom habe ich zum Glück ein paar Siege weggenommen.
Stuck: Gut gemacht (lacht).
Lotterer: Natürlich muss man in Le Mans im richtigen Auto sitzen. Denn man kann so gut sein, wie man will, aber es braucht das richtige Material. Dazu kommt in Le Mans das Quäntchen Glück – was im Motorsport sonst eher eine Floskel ist. Das Beeindruckende an Tom ist, dass er sechs Mal hintereinander gewonnen hat. Zum einen muss man jedes Mal gut durchkommen – also keine Reifenschäden usw. –, zum anderen die ebenfalls guten Kollegen in den anderen Autos schlagen. Dazu müssen die eigenen Teammitglieder abliefern. Bei Jacky waren es im Vergleich andere Zeiten. Er konnte bei Problemen auch mal ein anderes Auto nehmen.
Stuck: Nach meinem Wechsel in das Porsche-Werksteam im Jahr 1985 habe ich mehr gelernt als in meiner ganzen Karriere davor. Da gab es Peter Falk und Norbert Singer, aber auch die Fahrerkollegen. Während es in der Formel 1 galt, nur Vollgas zu fahren, standen in der Gruppe C mit dem Spritverbrauch sowie dem Achten auf Bremsen und das synchronisierte Fünfganggetriebe andere Themen im Vordergrund. Als Fahrer lernte man, wie man mit dem Auto richtig umgeht, um erfolgreich zu sein. Ich habe in Weissach oft bis in die Nacht getestet und bin danach noch nach Garmisch zurückgefahren. Und auch in Le Castellet hat beim Testen keiner nach Zeit für das Mittagessen gefragt, man musste immer antreten. Das war verdammt hart, aber auch verdammt geil.
Ursprünglich wollten wir Sie, Stucki, fragen, ob Sie heutzutage froh sind, damals noch weitgehend ohne Simulator und Datenanalyse gearbeitet zu haben. Aber das klingt nun ähnlich zeitaufwendig?
Stuck: Zuletzt konnte ich auch neuartigere Rennautos fahren und ich bin froh, dass ich beides kenne. Wenn ich nun sagen müsste, was schöner war, tue ich mich echt schwer. Heute kann man sich viel mehr auf das Fahren konzentrieren. Damals musste man mehr auf die Armaturen schauen, um beispielsweise den Öldruck zu kontrollieren. Und auch Schaltfehler sind in dieser Form heute gar nicht mehr möglich. Obendrauf kommen Fahrhilfen wie das ABS. Früher war das Fahren sicher eine viel größere Herausforderung, das muss man ehrlich sagen. Allerdings ist der Sport nun sehr eng geworden, es geht um Zehntel, Hundertstel und Tausendstel.
Lotterer: Ich bin schon auf deine Zeit neidisch, das muss ich dir ehrlich sagen. Mit der LMP1 habe ich auch eine Megaära erlebt, in der die Autos bombastisch um die Kurven fuhren. Wenn ich mich nur daran erinnere, wie man die LMP1 in Spa fliegen lassen konnte und dabei jede Runde Qualifying hatte – und das fast vier Stunden lang am Steuer! Die Gruppe C hatte jedoch auf eine andere Art tolle Autos. Mein Gefühl ist, dass die Zeiten damals etwas lockerer, aber gleichzeitig puristischer waren. Den Wandel habe ich im Laufe meiner Karriere selbst erfahren. Am Anfang bin ich ausgestiegen, habe mit meinem Ingenieur gesprochen und ein paar Meetings absolviert. Jetzt mache ich meine eigene Administration. Das heißt: In einem vom Team gestellten Laptop erstelle ich online Berichte, damit alle Ingenieure darauf zugreifen können. Außerdem gibt es Simulator-Sitzungen. Für solche Aufgaben musste man sich anfangs schon motivieren und die Herausforderung professionell annehmen. Auch wenn man dachte: Ich will doch nur auf die Strecke!
Stuck: Computer sind ein interessantes Stichwort. 1987/1988 ging es bei uns mit Telemetrie los. Plötzlich konnte man sich mit anderen vergleichen und hat viel länger an Details herumgedoktert. Vorher hat nur der Popometer berichtet, was das Auto macht.
Was in der Gruppe C das Spritsparen war, war in der LMP1 das Energiemanagement. Ein fairer Vergleich?
Stuck: Absolut! Das Spritsparen in der Gruppe C und der dafür angepasste Fahrstil waren eine Herausforderung. In der Formel E ist es ähnlich, deswegen finde ich, dass sie auch eine Berechtigung hat.
Lotterer: Mit dem Beginn der Hybrid-Phase hat sich vieles sehr schnell verändert. Je nach Reglement musste man pro Runde ein bestimmtes Energielimit einhalten. Anfangs haben wir das als Fahrer manuell umgesetzt, weil wir nicht mochten, dass es unser Auto übernommen hat, indem es selbst vom Gas in den Segelmodus wechselte. Ich habe das mit einer Info auf dem Lenkrad selbst gesteuert. Mit der Zunahme des Segelns haben es die Autos dann automatisch gemacht. Parallel galt es, die Kombination aus Brems- und MGU-Verzögerung und die dazugehörige Verteilung der Rekuperation zu meistern. Diese Werkzeuge hatten einen großen Einfluss auf die Balance, auch die Differenzial-Sperre. In der Formel E wurde es für mich dann noch spannender, weil man durch das Energiemanagement selbst das Rennen steuern kann.
Das Klischee lautet, dass Piloten früher nur mit 70, 80 Prozent gefahren sind, um das Auto zu schonen. War es wirklich so?
Stuck: Man ist insgesamt schon mit 100 Prozent gefahren, aber mit den Mitteln, die es braucht, um am Ende anzukommen. Wenn man zum Beispiel bestimmte Rundenzeiten anpeilt, muss man mehr bremsen und so vielleicht zweimal statt nur einmal die Beläge wechseln, was einen zusätzlichen Stopp bedeutet. Diese Wechselwirkung muss der Pilot kalkulieren und überlegen, ob eine schonendere Fahrweise den Stopp wiederum einspart. Dasselbe gilt für das Spritsparen. In Le Mans hat man 23 Stopps, das Einsparen kann dadurch einen Unterschied machen.
Wie hat sich die Herausforderung des Kurses in den letzten 50 Jahren verändert?
Lotterer: Die Variante ohne Schikanen kenne ich natürlich nicht, aber ich hätte sie gerne mal erlebt – genauso wie das Fahren mit 400 km/h. Mein persönlicher Topspeed war 370 km/h mit dem Porsche 919 Evo in Spa, eine geile Nummer! Der war die Krönung von allem, was ich in meiner Karriere gefahren bin, und bewies, wie krass moderne Reglements Autos einbremsen müssen. Ich denke, manche Kurven sind in Le Mans durch Auslaufzonen schneller geworden. Die Herausforderung bleibt mega, denn ein Sportwagen erwacht auf solch großen Strecken zum Leben und lässt dich so in seinen Genuss kommen. In den Porsche-Kurven geht es dabei richtig zur Sache, denn man bremst dort kaum. Die Strecke verzeiht selbst kleine Fehler einfach nicht.
Stuck: Ich bin Le Mans zuletzt 1998 gefahren, kann aber sagen, dass die Herausforderung immer gleich geblieben ist. Zu der Zeit vor den Schikanen gibt es noch eine witzige Anekdote. Ab 380 km/h wurde aus der unterbrochenen weißen Mittellinie eine durchgezogene – wir Fahrer wussten so: Aha, wir nähern uns den 400 km/h.
Lotterer: Wie lange wart ihr so schnell und musstet ihr den Motor dabei schonen?
Stuck: Gar nicht! Wir sind wirklich Vollgas gefahren. Im ersten Drittel haben wir den Speed erreicht und sind dann hinunter mit bis zu 400 km/h. Dann kamen der Knick, für den man ein bisschen zielen musste, und dann der wichtige Bremspunkt der Mulsanne.
Wo wären Sie beide ohne Le Mans?
Lotterer: Wahrscheinlich noch in Japan unterwegs (lacht).
Stuck: Das muss ich deutlich sagen: Ohne Le Mans wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Das war ein ganz wichtiges Highlight in meiner Karriere und Teil meiner insgesamt drei schönsten Siege. Ein Le-Mans-Sieger ist und bleibt ein Le-Mans-Sieger.
Lotterer: Das steht quasi auf deiner Stirn. Dieses Rennen ändert dein Leben. Zugleich ist der Erfolg auch ein riesiges Dankeschön an alle, die von klein auf an uns Fahrer geglaubt und seit dem Kart-Sport in uns investiert haben. Damit ist man endlich angekommen.
Information
Text erstmalig erschienen in auto, motor und sport. Das Interview führte Philipp Körner.