Es ist bis zu 14 Meter hoch, besteht hauptsächlich aus ultraleichtem Carbon und steckt voller Technologie: Das Seitenleitwerk gibt jedem Flugzeug Richtungsstabilität. Fluggesellschaften nutzen die charakteristische „Flosse“ am hinteren Ende des Rumpfes, um ihr Firmenlogo weithin sichtbar zu platzieren. Das sogenannte VTP (Vertical Tail Plane) ist ein Bauteil, das viel Perfektion erfordert und wichtig für das Prestige ist. Bei Airbus kommt jedes einzelne Seitenleitwerk aus Stade, einer Stadt mit 46 000 Einwohnern bei Hamburg. Die 2200 Mitarbeiter dort haben schon etliche VTPs gebaut. Allein der Mittelstrecken-Jet Airbus A320 – das meistverkaufte Flugzeug der Welt – umfasst aktuell eine „fliegende Flotte“ von mehr als 6000 Maschinen weltweit.
„In den vergangenen Jahren sind wir allmählich an die Grenzen der Produktionskapazität gestoßen“, sagt Jens Walla, der als Werkleiter die Umstellung der VTP-Produktion von der Werkstatt- auf die Fließfertigung verantwortete. Insbesondere bei den kleineren Maschinen mit nur einem Mittelgang zwischen den beiden Sitzreihen konnten die Stückzahlen nicht weiter gesteigert werden. Für die sogenannten Single-Aisle-Maschinen wurden in Stade bis vor Kurzem 40 Seitenleitwerke im Monat gefertigt. Das ist viel, aber es reicht nicht, denn die Nachfrage ist riesig. „Airbus hat für die kommenden Jahre Aufträge für insgesamt 4000 Verkehrsmaschinen“, so Walla. „Mit der bestehenden Werkstattfertigung war an die notwendige Erhöhung der Produktionsraten nicht zu denken“, sagt Matthias Havekost, Leiter der Montage für die Single-Aisle-Seitenleitwerke.
Drei Schichten fertigten täglich zwei der sechs Meter hohen Bauteile. Sowohl die Personalkapazitäten als auch die verfügbare Produktionsfläche waren damit vollkommen ausgereizt. Die Ausrüstung der Mittelkästen aus Kohlefaserverbundwerkstoff mit hydraulischen und elektronischen Elementen fand über mehrere Etagen statt. Die Mitarbeiter bewegten sich in viergeschossigen Türmen an der aufrecht stehenden „Flosse“ entlang.
Skepsis gegenüber der Automobilindustrie
Für das Anbringen des Ruders musste ein Kran eingesetzt werden. „Das ganze Konzept führte zu sehr langen Wegen, und das ständige Treppensteigen bedeutete auch eine große ergonomische Belastung für die Mitarbeiter“, sagt Mona Lippmann, die als Projektleiterin die Einführung einer getakteten „Flow Line“ verantwortete. Diese „fließende“ Fertigung ist in Stade heute Realität.
Die Vision dazu entstand im Jahr 2011 bei einem Besuch des Porsche-Werks in Leipzig. „Danach stand die Frage im Raum: Warum produzieren wir unsere Seitenleitwerke eigentlich nicht genauso wie Porsche Autos produziert?“, erzählt Havekost. „An diesem Tag entstand eine erste Zeichnung, die zeigte, wie eine fließende Linie bei uns aussehen könnte. Und genauso haben wir es am Ende auch umgesetzt“, so der Leiter der Linie Single Aisle. Als damaliger Werkleiter hatte Jens Walla damit Neuland betreten. Er sagt: „In der Luftfahrt herrscht weithin Skepsis gegenüber Verfahren, die aus der Automobilindustrie kommen. Schließlich haben wir es mit viel geringeren Stückzahlen und ganz anderen Abmessungen zu tun.“ Dennoch: Statt einfach die Produktionshalle zu verlängern, entschied man sich in Stade für einen komplett neuen Montageprozess. Bevor jedoch der Schalter sprichwörtlich umgelegt werden konnte, musste erst einmal das Seitenleitwerk selbst von der Vertikalen in die Horizontale gebracht werden. „Nach vielen Tests waren unsere Ingenieure restlos davon überzeugt, dass wir VTPs auch in der Waagerechten bauen und verlässlich testen können“, so Lippmann. Dann erst konnte das Design der neuen Montagelinie festgelegt werden.
Um die Bauteile mit ihren enormen Ausmaßen zum „Fließen“ zu bringen, wurden spezielle fahrbare Untersätze, sogenannte Carrier, entworfen. Sie transportieren die VTPs nach jedem Takt zur nächsten Station. An ihrer Konzeptionierung waren auch Montagemitarbeiter beteiligt. „Das technische Know-how der Belegschaft war für die Prozessentwicklung unverzichtbar“, betont Lippmann. Schließlich müssen Seitenleitwerke höchsten Sicherheitsanforderungen genügen. Ihre Fertigung ist alles andere als trivial. Gemeinsam mit den Mitarbeitern wurde in Workshops mit Porsche Consulting der Plan für die Fließfertigung erarbeitet – vom eigentlichen Montageprozess bis zur vorgelagerten Logistik. Heute „fließen“ die Seitenleitwerke durch zwölf Takte. Nach weniger als sechs Stunden pro Station wandern die Teile weiter.
Die neue Arbeitsweise machte auch eine neuartige Arbeitsorganisation notwendig. Schließlich funktioniert der Takt nur, wenn jeder Arbeitsplatz mit einem Mitarbeiter mit entsprechender Kompetenz besetzt ist. Die Mitarbeiter halfen dabei, das neue Schichtmodell zu entwickeln. Mittlerweile schätzen sie die höhere Transparenz. „Alle wissen zu jeder Zeit ganz genau, wer was zu erledigen hat. Das schafft Verbindlichkeit und auch eine höhere Fairness bei der Arbeitsverteilung“, betont Lippmann. Das System funktioniert: „Wir fertigen heute in einem Zweischichtbetrieb bereits 20 Prozent mehr als vorher“, so Havekost. Und da sei noch Luft nach oben, sagt der Hanseat und lächelt – schließlich rechnet er damit, dass künftig noch mehr Flugzeuge gebaut werden. „Bei voller Auslastung können wir auf der gleichen Produktionsfläche 50 Prozent mehr VTPs produzieren als im alten System.“ Und wo Extrastunden früher an der Tagesordnung waren, machen die Mitarbeiter heute nur noch etwa eine Stunde Mehrarbeit pro Leitwerk.
Fließfertigung in Stade ist Benchmark in der gesamten Airbus Group
„Bei einem Arbeitsaufwand von 200 Stunden für ein VTP ist das gerade mal ein halbes Prozent“, erklärt Havekost. Der größte Erfolg in seinen Augen ist aber die Liefertreue, die bis dato ungeahnte Dimensionen erreicht hat: „Stade liefert jetzt immer und zu hundert Prozent pünktlich. Von diesem Ergebnis hätten wir früher nicht mal zu träumen gewagt.“ „Aber es war auch ein langer und steiniger Weg bis dorthin“, ergänzt Lippmann. Die besondere Schwierigkeit bei der Umstellung: Die neue Linie musste während des laufenden Betriebs anstelle der alten aufgebaut werden. Dabei durfte die Produktion keinen Tag stillstehen. Wie dieser Kraftakt gelang? „Zuerst mussten wir in bestimmten Bereichen Puffer erarbeiten. Dann haben wir zunächst nur vier Stationen als Mini-Flow-Line aufgebaut und diese parallel zur alten Linie betrieben. Als die getakteten Bereiche stabil liefen, konnten wir anfangen, die alte Linie abzubauen. So haben wir das alte System Stück für Stück ersetzt“, sagt Lippmann.
„Die Fließfertigung in Stade ist Benchmark in der gesamten Airbus Group. Und wir sind schon dabei, das System auf weitere Bereiche zu übertragen“, berichtet Havekost. Nach der Ausstattung der VTPs soll bald auch die vorgelagerte Strukturmontage „fließen“. Hier wird der Mittelkasten, also das „Gerüst“ des Leitwerks, aus Carbonelementen zusammengefügt. Für die Umstellung wird Airbus die Erfahrungen aus der Beratung von Porsche Consulting nutzen. „Es war von Anfang an klar, dass wir uns das Know-how der Porsche-Berater selbst aneignen wollen, um es später wieder anwenden zu können“, so Havekost. Der neue Werkleiter Kai Arndt möchte den eingeschlagenen Weg weiterführen. Er sieht das Werk damit auf dem besten Weg, ein Vorbild in der Luftfahrt zu werden: „Stade hat den Beweis erbracht, dass Standardisierung und Fließfertigung auch im Flugzeugbau möglich sind. Die Motivation der Mitarbeiter, hier weiterzumachen, ist sehr groß.“ Von der Skepsis der Flugzeugbauer gegenüber der Autoindustrie ist nichts mehr zu spüren.
Info
Text erstmalig erschienen in „Porsche Consulting – Das Magazin 17“
Text: Maren Eitel // Fotos: Christoph Bauer