Mumbai: vibrierende Lebendigkeit, pulsierendes Kraftzentrum, der Nukleus einer Welt, in der die Möglichkeiten nicht mehr von der Geografie bestimmt werden. Träume, Sehnsüchte, Ambitionen und Hoffnungen von Millionen Menschen streben aufwärts wie Hochhäuser. Wie alle Metropolen schläft auch Mumbai nicht, legt aber hin und wieder einen überraschenden Moment der Ruhe ein. Manchmal sind es nur Sekunden.

Dies ist einer dieser Augenblicke: Finger zeigen. Augen weiten, Blicke öffnen, Köpfe wenden sich. Passanten bleiben stehen. Handykameras werden gezückt. Eine fließende Form mit jenem unverwechselbaren Motorengeräusch, das vom Heck ausgeht, kommt näher. Tief liegende Karosserie und kompakte Abmessungen. Auf den Straßen der Zwölf-Millionen-Stadt wirkt der Wagen wie ein Exot. Alle, wirklich alle, die den weißen Porsche wahrnehmen, halten inne. Der gestikulierende Verkehrspolizist. Der aufgekratzte Fahrer des schwarz-gelben Taxis. Die gestresste Hausfrau. Der gehetzte Anzugträger. Sogar die Busladung lärmender Schulkinder verstummt.

Ein beweglicher Kunstgegenstand

Im hektischen Beat dieser Stadt gibt es kaum noch stilles Staunen, nichts, das die Menschen noch nicht gesehen oder gehört haben. Dieser Moment ist die Ausnahme, dieses Auto ein Solitär, der wohl einzig noch existierende 356 SC in Indien. Der Subkontinent verfügt über eine unglaubliche Fülle an klassischen Fahrzeugen. In Privatsammlungen finden sich Karossen, die nach Vorgaben märchenhaft reicher Maharadschas gebaut wurden. Aber dieses Modell von 1965 mit Boxermotor ist nicht von königlicher indischer Herkunft; es hat ihn stattdessen hierher verschlagen, denn sein aktueller Besitzer, Rajendra Kumar Jain, genannt Raj, verirrte sich.

Porsche 356, 2016, Porsche AG
Der Porsche 356 in Mumbai

Raj lebt und arbeitet eigentlich in London. Getreu der indischen Vorliebe für Abkürzungen ist er ein OCI-Passinhaber. OCI steht für Overseas Citizenship of India. Es ist die offizielle Bezeichnung für die indische Überseestaatsbürgerschaft, für indische Bürger, die jenseits der Landesgrenzen leben. Raj ist indischer Abstammung, hat jedoch einen britischen Pass und reist geschäftlich durch die ganze Welt.

Das Auto fand ihn

Er handelt mit Kunst, Antiquitäten, Sammleruhren und wertvollen Kuriositäten und hat sein Geschäft in der Bond Street im vornehmen Londoner Stadtteil Mayfair. Die schönen und seltenen Objekte der Welt sind ihm vertraut. Ein klassischer Porsche passt da ebenso gut in seine Garage wie das Exemplar der Antiques Trade Gazette auf den Tisch der großzügigen Wohnung mit dem imposanten Meerblick im Süden von Mumbai.

Raj hat den 356 nicht gesucht. Das Auto fand ihn. „Es war Karma“, sagt er mit ausgeprägtem britischen Akzent, „ausgleichende Gerechtigkeit.“ Irgendwann in den frühen 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stöberte Raj durch die Hallen von Christie’s, des berühmten Auktionshauses. Er landete im falschen Auktionssaal, „und da sah ich dieses schöne, makellose Auto“. Der Wagen wurde frei versteigert, also ohne Mindestgebot. „Instinktiv hob ich meine Hand.“ Es gab weitere Bieter, aber keinen mit echtem Biss. Raj bekam den Zuschlag schnell, für weniger als 1000 Pfund. Ein Schnäppchen, schon damals.

Ein egozentrischer Exot

Statt ihn in der Nähe seiner Londoner Wohnung in South Kensington zu parken, verschiffte er das Auto nach Mumbai. Zweimal pro Jahr reist er aus geschäftlichen und familiären Gründen in seine Heimat Indien – der Porsche ist ein Grund mehr. Rajs 356 war nicht der erste seiner Art in Indien; der Maharadscha von Sawantwadi soll bereits vor Jahrzehnten ein seltenes Vorserienmodell des 356 A ins Land gebracht haben. Alte Bilder zeigen den Wagen – doch er ist verschwunden, und so sieht sich Raj als Besitzer des einzigen bekannten und fahrtüchtigen 356er Indiens. Wie ein egozentrischer Exot, der etwas auf sich hält, macht auch der Wagen immer wieder Zicken. Aber meistens lässt er sich bewegen.

Um den Porsche fit zu halten, ließ Raj den Wagen früher alle zwei Jahre von Barry Curtis durchchecken, einem anerkannten britischen 356er-Spezialisten. Curtis wohnte dann im Haus von Raj und arbeitete in seiner recht gut ausgestatteten Garage an dem Auto. „Barry überholte den Motor, baute jedes Teil, jede Schraube und Mutter aus und wieder neu ein“, sagt Raj. „Ich habe extra eine Klimaanlage in der Garage installieren lassen, damit er auch arbeiten konnte, wenn es draußen extrem heiß war.“ Dann, vor knapp zwei Jahren, starb Barry. Der Porsche scheint ihn zu vermissen. Er weigert sich manchmal anzuspringen, setzt gelegentlich eine Fehlzündung und scheint generell etwas übellauniger geworden zu sein. An Barry, den Bewahrer dieser automobilen Seele, erinnert eine aus Metall gefertigte Plakette auf der Heckklappe des Wagens. Hauchdünn vervollkommnet sie den Wagen auf ganz individuelle Weise.

Schmelztiegel der Religionen, Sprachen und Kulturen

Mit einem Lächeln auf den Lippen taucht Raj wieder ein in das organisierte Chaos von Mumbai. Für alle, die neu sind in diesem Schmelztiegel der Religionen, Sprachen und Kulturen, scheint die Stadt bizarr und konfus, doch ihr Zauber entfaltet sich sofort, erlebt man doch die Menschen und ihr Talent, scheinbar alles möglich zu machen.

Genussvoll steuert Raj die 95 PS des Wagens im Slalom über die Fahrspuren und zieht immer wieder Blicke auf sich. Verlässt die lauten Hauptstraßen, wechselt in grüne Alleen, zieht vorbei an kleinen verschnörkelten Teehäusern. Erst als es dämmert, verschwindet die Auffälligkeit des Porsche 356 SC und wenig später der Wagen in seiner Garage. Raj schaut ihn lange an, setzt sich dann neben das geöffnete Tor und sagt: „Dieses Auto war für mich bestimmt.“

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