Zum ersten Mal seit fast vierzig Jahren biegt er ein in das weite Rund des Hotels Friesacher in der österreichischen Gemeinde Anif und steht dann genau dort, wo ihn einst Herbert von Karajan für gewöhnlich abgestellt hat. Und zwar immer dann, wenn er auf dem Heimweg nach der Probe sein Stammlokal ansteuerte, um sich unter dem Herrgottswinkel des Hotels eine Kalbskopfsülze zu gönnen. Der 1975 ausgelieferte Porsche 911 Turbo 3.0 (Typ 930) wird erwartet: von Wilfried Strehle. Er spielte 18 Jahre lang als Bratscher unter Karajan, der mit den Berliner Philharmonikern auf den Weltbühnen von Berlin bis Tokio präsent war. Salzburg, die Heimat Karajans, nahm dabei immer eine besondere Rolle ein. Hier hob der Dirigent vor fünfzig Jahren die Osterfestspiele aus der Taufe. Jetzt streicht Strehle über die metallenen Lettern am Heck. „Von Karajan“ steht dort vorsorglich – als gäbe es ein zweites Fahrzeug dieser Art. Dabei ist der Porsche ein Einzelstück, unverwechselbar. „Für mich ist das ein sehr emotionaler Moment“, sagt Strehle, selbst eine Größe der Musikszene. Mit seinem eleganten Erscheinungsbild – roter Samtjanker mit farblich passendem Einstecktuch und perfekt frisiertes silbergraues Haar – erinnert er ein wenig an seinen einstigen Chef.
Dass Strehle den Turbo einmal wiedersehen würde, hätte er nicht geglaubt. Nicht an diesem Ort, mit dem beide – den Porsche und ihn selbst – so viel verbindet. Der Klang des Boxers verhallt mit einem letzten Gasstoß, einem gewaltigen Crescendo an den winkligen Hauswänden. Das lockt zahlreiche Hotelgäste an, die wegen besagter Osterfestspiele ins Salzburger Land gekommen sind. Sie umringen den Porsche. Mancher scheint ihn zu kennen. Wird Karajan gleich die Fahrertür öffnen, um von den Blicken der Schaulustigen und dem Blitzlichtgewitter der Fotografen empfangen zu werden? Beinahe.
Herbert von Karajan umwehte stets ein Hauch des Überirdischen. Ein Mann von zierlicher Statur mit der Aura eines Giganten, der seine stechend blauen Augen beim Dirigieren konzentriert geschlossen hielt, weil er sämtliche Partituren seines immensen Repertoires auswendig kannte. Er war Musiker, Intendant, Produzent, Regisseur, Baumeister und ein Visionär des Marketings. Ein Renaissancemensch. Ein Genie: bewundert, aber auch gefürchtet. Er kümmerte sich mit unerschöpflicher Energie um jedes noch so kleine Detail, was zuweilen in bizarren Inszenierungen seines Orchesters gipfelte. Strehle erinnert sich an Filmaufnahmen mit den Berliner Philharmonikern, bei denen die Musik per Playback eingespielt wurde, damit sich die Musiker darauf konzentrieren konnten, die Instrumente und Bögen haargenau parallel zueinander zu halten. Wie oft dies wiederholt werden musste, bis der Chef mit dem Ergebnis zufrieden war, ist Legende.
Karajans Elfer sollte weniger als 1.000 Kilogramm wiegen
Mit derselben akribischen Autorität, mit der der Nibelungen-Meister seine Klangfantasien umsetzte, ließ er auch seine Fahrzeuge gestalten. Als er 1974 eine Sonderanfertigung des neuen Typ 930 bei der Porsche Sonderwunschabteilung in Auftrag gab, machte er unumwunden klar, dass er sich eine leichtere und noch sportlichere Variante des Serienfahrzeugs wünscht. Der Elfer sollte weniger als 1.000 Kilogramm wiegen, das Leistungsgewicht deutlich unter vier Kilogramm pro PS liegen – bei 260 PS und 1.140 Kilo Gewicht des regulären Modells keine einfache Modifikation. Es war Ernst Fuhrmann, damals Vorsitzender des Vorstandes bei Porsche, der die Sonderwünsche des prominenten Kunden erfüllte. Karajans Turbo wurde mit dem Rennsport-Chassis des RSR und der Karosserie des Carrera RS, mit Rennfahrwerk und Überrollbügeln ausgerüstet. Für den Innenraum galt rigoroser Verzicht: statt einer Rückbank das Stahlgestell des Überrollkäfigs, statt Symphonien aus dem Radio die Harmonien des Sechszylinder-Boxers, der mit einem vergrößerten Turbolader und einer schärferen Nockenwelle rund 100 PS mehr mobilisierte. Der Leichtbau ging so weit, die Türöffner gegen schlanke Lederriemen auszutauschen, die die Schlösser durch Ziehen entriegelten. Für die Lackierung in den Martini-Racing-Farben des 911 Carrera RSR Turbo 2.1, der bei den 24 Stunden von Le Mans 1974 Platz zwei belegt hat, holte Porsche eigens die Erlaubnis des Wermutherstellers Rossi ein.
Karajan, zeitlebens ein Vordenker, nahm mit den Berliner Philharmonikern so viele Platten auf, dass er bereits in den Siebzigerjahren ganz unbescheiden von der Unsterblichkeit seines Werkes zu träumen begann. „Für ihn gab es stets nur eine Richtung: vorwärts“, erinnert sich Strehle. „Er ruhte nie, lernte sein ganzes Leben lang und entwickelte sich und uns immer weiter, auch geschäftlich.“ Der ausgeprägte Vorwärtsdrang des Klangästheten äußerte sich bekanntermaßen nicht nur auf der Bühne, sondern auch in der Freizeit. Seine Vorliebe galt der Marke aus Zuffenhausen. Über die Jahre fuhr er einen Porsche 356 Speedster, einen 550 A Spyder, zwei 959 und mehrere 911. „Wir haben Jahr für Jahr fasziniert vor dem neuesten Modell gestanden und wie kleine Jungs gestaunt. Karajan war ein Vorbild in seinem ganzen Auftreten, und natürlich haben wir uns an ihm orientiert“, erzählt der Bratscher. Mit dem Maestro verband den gebürtigen Schwaben auch die Liebe zu Porsche. Ein Jahr nach seinem Einstieg bei den Berliner Philharmonikern legte er sich selbst seinen ersten 911 zu. Der Turbo blieb ein ferner Traum. Bis heute.
Strehle steigt in einen der schmalen, lederbezogenen Schalensitze, die auf die Figur des 1,73 Meter großen Karajan schließen lassen. Er dreht vorsichtig den Zündschlüssel und lauscht andächtig. Im Heck räuspert sich der Turbo zunächst und stimmt dann mit einem kraftvollen Bariton ein Vibrato an, das durch Mark und Bein mitten ins Herz geht. Mit Bedacht steuert Strehle den Porsche durch das Dorf und nimmt Kurs auf die majestätische Berglandschaft des Berchtesgadener Landes. An einer blumenbedeckten Wiese stoppt er den Sportwagen. Auf dieser Landstraße, die heute Herbert-von-Karajan-Straße heißt, entstand in den Siebzigerjahren der Kultschnappschuss, der später das Plattencover der Berühmten Ouvertüren zieren sollte. Strehle zeigt auf ein einsam gelegenes Haus mit weißem Schornstein: Karajans Anwesen. Der Turbo schweigt jetzt, es herrscht eine beinah andächtige Stille. Der Anblick des Porsche vor seinem früheren Heim, fast dreißig Jahre nach dem Tod seines berühmten Besitzers, ist ein Moment zum Innehalten.
Wie zum Trost für den Sportwagen lenkt Strehle ihn nun dorthin, wo er früher auf seine Kosten kam: auf die Bergstraßen der Alpen. Die Panoramastraße hinauf zum Roßfeld war Karajans Lieblingsstrecke. Gewöhnlich stand der disziplinierte Maestro morgens vor sechs Uhr auf, um Partituren zu studieren und Yoga zu machen – manchmal jedoch auch, um mit der ersten Morgensonne hinauf in die Berge zu fahren. Auf der fast 16 Kilometer langen Panoramarundstrecke ist es Zeit, den Karajan-Porsche noch einmal auf Touren zu bringen. Strehle schaltet herunter und lässt die Drehzahl hinaufklettern, da bricht aus dem Heck ein Inferno wie Wotan aus den Wolken. Fast möchte man den Stab der Walküre aus dem Fenster schwingen und den Berg auf den 360 Pferden mit lauten Schlachtrufen erobern. Karajan dagegen hat den Turbo wohl nicht allzu sehr getrieben – als er ihn 1980 verkaufte, zeigte der Zähler gerade einmal 3.000 Kilometer an. Doch die wenigen Jahre im Besitz des Dirigenten genügten, um dem legendären Porsche seinen aktuellen Schätzwert von mehr als drei Millionen Euro zu bescheren. Seit 2004 hat das Auto seinen mittlerweile sechsten Besitzer, der das kostbare Stück seiner geheimen Sammlung in der Schweiz zuführte. Gefahren hat er den Elfer bisher nicht ein einziges Mal.
Unvergessener Antreiber
Was bleibt von Herbert von Karajan, dem Mann, der das Klangempfinden einer ganzen Generation von Musikern und Musikliebhabern prägte? Manchmal lauscht Wilfried Strehle alten Aufnahmen, zum Beispiel der Vertonung von Puccinis La Bohème von 1972: „Man hört noch immer diese unglaubliche Leidenschaft, diese Schubkraft, die vielleicht – im übertragenen Sinne – seine Faszination für Porsche erklärt.“ Der überzeugte Buddhist Karajan glaubte nicht an den Tod. Vielleicht verhält es sich tatsächlich so, dass Teile unserer Seele in den Dingen und Menschen weiterleben, die uns in unserem Leben begleitet haben. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass der Turbo nach beinahe vierzig Jahren noch einmal seinen Weg nach Anif gefunden hat. Noch immer drängend, noch immer vorwärtstreibend. Noch immer überirdisch präsent.
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche-Kundenmagazin Christophorus, Nr. 382
Text: Lena Siep // Fotos: Patrick Gosling, Siegfried Lauterwasser/Karajan-Archiv