Estland, eines der kleinsten Länder Europas, ist in Sachen Digitalisierung und digitales Unternehmertum führend auf dem Kontinent. Während viele größere europäische Länder mit Bürokratie und langsamen, papiergebundenen Behördendiensten kämpfen, hat Estland diese Herausforderungen schon vor Jahren in Angriff genommen. Was ist Estlands Erfolgsrezept? Karin Fess, Partnerin bei Porsche Consulting, hat jemanden gefragt, der es wissen sollte: Andres Sutt, Mitglied des estnischen Parlaments und ehemaliger Minister für Unternehmertum und IT, gab in einem kurzen Interview Auskunft.
Herr Sutt, Estland gilt als Vorbild im Bereich der Digitalisierung und des Bürokratieabbaus. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Erfolge?
Estlands derzeitiges digitales Ökosystem wurde innerhalb eines Vierteljahrhunderts in öffentlich-privater Partnerschaft aufgebaut. Dieses System zu schaffen, ist eine Reise, die immer weitergeht. In diesem Jahr wurden alle öffentlichen Dienste Estlands zu 100 Prozent digitalisiert. Dieser Meilenstein führt zu einer erheblichen Verringerung der Bürokratie in unserem Land. Durch die Digitalisierung sparen wir jährlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Unsere digitale Transformation hat zahlreiche bemerkenswerte, international anerkannte Lösungen hervorgebracht. Ein Beispiel dafür ist die Internet-Wahl, die es allen Bürgern ermöglicht, von ihren Laptops – und bald auch von Smartphones – aus zu wählen, ohne das Haus zu verlassen. Bei den Parlamentswahlen 2023 wurden fast 51 Prozent aller Stimmen über das Internet abgegeben. Ermöglicht wird dies durch eine eindeutige und sichere e-ID, über die jeder Bürger per Gesetz verfügt und die er verwendet, um sich zu authentifizieren und rechtsverbindliche Dokumente digital zu unterzeichnen. Darüber hinaus verzeichnete das e-Residency-Programm, das die Anmeldung von Unternehmen in Estland ermöglicht, im Jahr 2024 eine Rekordzahl von Registrierungen. Im Durchschnitt wurden 400 neue Unternehmen pro Monat angemeldet. Weitere Beispiele sind digitale Dienste zur Minimierung der Interaktion mit dem Staat. Dazu gehören beispielsweise ein automatisiertes System zur Steuererklärung, in dem Bürger innerhalb von Sekunden Erklärungen einreichen können, digitalisierte und zentralisierte Gesundheitsakten, ein Online-Unternehmensregister und ein nahtloser Datenaustausch zwischen staatlichen Stellen.
Was sind die Erfolgsfaktoren, die Estland zu einem Vorreiter in diesem Bereich gemacht haben?
Mentalität, Ehrgeiz und Mut. Dass Estland zum Vorreiter bei der Digitalisierung der Verwaltung wurde, war auch ein glücklicher Zufall. In den 90er-Jahren, nachdem wir unsere Unabhängigkeit von der Sowjetunion wiedererlangt hatten, mussten wir einen modernen Staat aufbauen. Da unsere Ressourcen begrenzt waren, entschieden wir uns für digitale Lösungen. Wir hatten nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Wir hatten also die richtige Initiative, die richtigen Leute und das richtige Timing. Der Rest ist Geschichte.
Welche Grundsätze lassen sich auch auf größere europäische Länder wie Deutschland, Italien oder Frankreich übertragen?
Zusammenarbeit mit dem Privatsektor, Vertrauen und Transparenz. Ich glaube, das wahre Ziel ist nicht einfach eine 100-prozentige Digitalisierung, sondern vielmehr Benutzerfreundlichkeit sowie ein Höchstmaß an Cybersicherheit für öffentliche Dienstleistungen. Die grundlegende Frage, die sich größere Regierungen stellen sollten, wenn sie sich auf den Weg der Digitalisierung machen, lautet: Wie kann der Staat für seine Bürger leicht zugänglich gemacht werden? Zu einer Zeit und von einem Ort aus, der den Menschen passt, nicht zu den Öffnungszeiten und an den Orten von Verwaltungsbüros. Menschen und Unternehmen müssen die greifbaren Vorteile digitaler Dienstleistungen sehen und spüren, dann werden sie sich schnell anpassen. Die digitale Gesellschaft Estlands wurde nicht an einem Tag erbaut. Die Auswahl der richtigen Anwendungsfälle trägt dazu bei, Akzeptanz und Vertrauen zu schaffen.
Was sind die größten Herausforderungen der Digitalisierung, an denen Estland derzeit arbeitet?
Die größte Herausforderung und Chance zugleich ist der effektive und kreative Einsatz von Künstlicher Intelligenz als leistungsfähiges Instrument in Wirtschaft, Bildung, Gesundheitswesen, öffentlichen Diensten und so weiter. Einfach ausgedrückt: Wenn wir die besten Nutzer, Innovatoren und Anwender von KI sind, sind wir in einer guten Ausgangsposition, um zur Avantgarde der KI-Ära zu gehören, sie anzuführen und unseren Erfolg zu wiederholen – so wie wir es beim Aufbau des wahrscheinlich fortschrittlichsten digitalen Ökosystems des Internet-Zeitalters getan haben. Neben der bestmöglichen Nutzung der Möglichkeiten, die KI mit sich bringt, besteht unser Ziel bei den öffentlichen Diensten darin, die Benutzerfreundlichkeit zu maximieren. Das bedeutet, dass wir die Nutzung durch Smartphones optimieren müssen, da Laptops von den Menschen nicht mehr bevorzugt werden. Eine weitere ständige Aufgabe ist die Gewährleistung der Cybersicherheit unserer Systeme, da die böswilligen Akteure immer raffinierter werden. Die Cybersicherheit ist jedoch eine globale Herausforderung. Der Cyberspace ist zu einem neuen Konfliktfeld geworden, so dass er für alle eine Priorität darstellt. Die Aufrechterhaltung von Systemen nach modernen Standards erfordert kontinuierliche Investitionen, eine Priorität, auf die wir in Estland Wert legen.