Gleich geht es los. „Test in drei, zwei, eins Sekunden“, tönt es aus dem Funkgerät. Sofort nach Ende des Countdowns setzt sich der silberne Porsche Cayenne in Bewegung. Aber Mario Toledo, Testingenieur von Porsche Engineering, hat weder die Hände am Steuer noch die Füße auf den Pedalen. Stattdessen hat ein Fahrroboter das Kommando und sorgt dafür, dass das Auto sicher auf der Spur bleibt.
Gemeinsam mit dem Cayenne ist an diesem Morgen auch ein grauer Panamera auf der Fahrdynamikplattform des NTC in Süditalien unterwegs. Auf dem Testgelände von Porsche Engineering untersuchen die Ingenieure heute die Performance von autonomen Fahrfunktionen. Einen ganzen Stapel an Test-Szenarien hat Toledo ausgedruckt auf der Ablage über dem Armaturenbrett liegen, darunter: mit ausreichendem Abstand auf parallelen Spuren fahren, Spurwechsel nach rechts oder links und einem entgegenkommenden Fahrzeug ausweichen.
„In der Automobilindustrie bahnt sich eine Revolution an"
Solche Versuche für autonome Fahrfunktionen auf SAE-Level 4 (vollautomatisiertes Fahren) gehören im NTC mittlerweile zum Alltag – denn hier wird die Mobilität von morgen bis zur Serienreife getestet. Ständige Weiterentwicklung ist aber auch vom NTC selbst gefordert: „In der Automobilindustrie bahnt sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine Revolution an, verursacht durch Trends wie autonomes Fahren, Connectivity und E-Mobilität“, sagt NTC-Geschäftsführer Antonio Gratis. „Darauf müssen wir uns einstellen – mit neuer Infrastruktur und neuen Kompetenzen.“
Was das bedeutet, zeigt sich auf der Rundstrecke des Testzentrums: Die innere Ringbahn, in der Vergangenheit vor allem für Tests von Nutzfahrzeugen genutzt, wurde 2020 mit 48 Kilometer neuen Fahrbahnmarkierungen versehen und sieht jetzt teilweise wie eine dreispurige Autobahn nach EU-Standard, teilweise wie ein dreispuriger US-Highway aus.
Die neuen Fahrbahnmarkierungen sind entscheidend für uns“, erklärt Davide Palermo, Manager des ADAS-Kompetenzzentrums. „Ohne sie wären Tests für autonome Fahrfunktionen auf SAELevel 4 nicht möglich.“ Palermo führt gemeinsam mit seinem Kollegen Toledo sowie einem weiteren Testfahrer auf einem Motorrad vordefinierte Manöver durch, die typisch für die Autobahn sind: Spurwechsel, Fahren auf der mittleren Fahrbahn mit und ohne einen anderen Verkehrsteilnehmer voraus.
Effiziente Dauerlauftests mit Lenkrobotern
Manche Tests könnten in Zukunft im NTC sogar ganz ohne Menschen stattfinden: Im Februar 2020 war ein Porsche Cayenne mehr als 600 Kilometer bei maximal 130 km/h auf der Rundstrecke unterwegs – ohne menschlichen Eingriff. Steuer und Pedale wurden während des Dauerlauftests von einem Lenkroboter bedient, ein Testfahrer war lediglich aus Sicherheitsgründen an Bord. „Diese Form der Testautomatisierung verspricht höhere Effizienz und bessere Reproduzierbarkeit“, so Palermo. „Sie kann menschliche Fahrer aber nicht vollständig ersetzen.“
Neben den Verbesserungen der Teststrecken bereitet eine weitere Neuerung den NTC-Rundkurs auf die Zukunft vor: Ein Glasfaserkabel soll als Daten-Backbone künftig Displays, Ampeln und Sendemasten längs der Strecke miteinander verbinden und so die Kommunikation zwischen Fahrzeugen und umgebender Infrastruktur ermöglichen (Vehicle-to-infrastructure). Zu diesem Zweck hat das NTC die Infrastruktur für die Verlegung von 91 Kilometer Glasfaserkabel rund um die Kreisbahn und die Fahrdynamikplattform vorbereitet.
Außerdem arbeitet das NTC an einer eigenen Mobilfunk-Infrastruktur, die weitere Tests autonomer Fahrfunktionen und der Kommunikation zwischen Fahrzeugen (Vehicle-to-vehicle) möglich machen wird. Und in wenigen Jahren soll „Sim City“ als neues Testareal hinzukommen – eine Stadt mit beweglichen Häusern und Verkehrszeichen, in der sich unterschiedliche urbane Szenarien für die Untersuchung fortschrittlicher Fahrerassistenzsysteme (Advanced Driver Assistance Systems, ADAS) aufbauen lassen.
Neuer Asphalt auf der Kreisbahn des Nardò Technical Centers
Ein weiteres Upgrade des Rundkurses führt Antonio Leuzzi, Senior Manager Project Management, in der Praxis vor. „Bemerken Sie irgendwelche Unebenheiten?“, fragt er bei einer Fahrt mit 297 km/h über die 12,6 Kilometer lange Kreisbahn. „Letztes Jahr haben wir den Asphalt komplett erneuert – und er ist jetzt so extrem glatt, dass man selbst bei hohen Geschwindigkeiten keine Vibrationen spürt. Das ist besser für die Fahrer und führt zu genaueren Ergebnissen, etwa bei Schwingungsmessungen – besonders wichtig für E-Fahrzeuge mit ihrer von Haus aus geringen Geräuschkulisse.“
Auch neben dem Werkstattbereich des NTC befindet sich eine Investition in die Elektromobilität. An zwei von Porsche Engineering entwickelten Schnellladesäulen können die Kunden des Testzentrums ihre elektrisch betriebenen Versuchsfahrzeuge in kürzester Zeit aufladen. Insgesamt sechs solcher HPC-Stationen (High Power Charging) sind über das Gelände verteilt, vier davon mit 920 Volt und 320 kW, zwei mit 950 Volt und 350 kW. „Das NTC soll wie eine Stadt der Zukunft sein“, erklärt Salvatore Baldi, Senior Manager Facilities Management. „Darum haben wir alle Arten von Ladesystemen installiert – von Wandboxen mit 7, 11 oder 22 kW über 50-kW-Ladestationen bis hin zu den HPC-Systemen.“
Um die Fahrzeugbatterien der Zukunft auf Herz und Nieren testen zu können, hat das NTC auch sein Brand-Testgelände aufgerüstet. Seit mehr als zehn Jahren finden hier Untersuchungen von Tanksystemen statt, mittlerweile rückt aber immer mehr die Sicherheit von Lithium-Ionen-Batterien in den Vordergrund. Sie können im NTC beispielsweise einer bis zu 700 Grad Celsius heißen Flamme ausgesetzt werden, um ihre Feuerfestigkeit auf die Probe zu stellen. Und falls es bei einem Versuch mit einem E-Fahrzeug zu einer gefährlichen Situation kommen sollte, steht in der NTC-Feuerwache ein Spezialcontainer bereit.
„Dort können wir Elektroautos und Batterien in kritischem Zustand unter eine Art Quarantäne stellen“, sagt Baldi. „Wir ziehen sie mit einer Winde hinein und schließen den Container dann komplett.“ Wenn die Rauchmelder Alarm auslösen, startet die Sprinkleranlage, um die Flammen in der Anfangsphase des Brandes zu reduzieren. Gleichzeitig wird das Flutungssystem aktiviert, das 800 Liter Wasser pro Minute bei einem Druck von 6 bar in den Container pumpt. Bei der Konzeption und dem Bau der Anlage hat das NTC mit den Arbeitsschutzexperten von Denios zusammengearbeitet.
Das NTC arbeitet zudem kontinuierlich an der Renovierung bestehender Werkstätten und am Ausbau der Werkstattkapazitäten. Kurzfristig sollen 20 modulare Werkstätten entstehen, die sich flexibel an die Bedürfnisse der Nutzer anpassen lassen. Neben der modernisierten technischen Infrastruktur können die Kunden in Zukunft aber auch von umfangreicheren Engineering-Services rund um ihre Versuchsfahrzeuge profitieren. „Bisher haben wir vor allem unser Testgelände vermietet“, erklärt Gratis. „In Zukunft wollen wir mehr Turnkey-Projekte übernehmen: Der Kunde bringt sein Fahrzeug zum NTC, und unser Team führt alle Tests vor Ort durch – bis hin zum finalen Report und den Empfehlungen für das Engineering. Die Kunden profitieren von vermiedenen Reisekosten und größerer Effizienz, weil sie vom NTC alles aus einer Hand bekommen.“
Höherwertige Services im Engineering
Um diesen Plan umzusetzen, baut Pierpaolo Positano, Senior Manager Engineering, sein Team aus mehr als 70 Ingenieuren, Mechatronikern, Technikern und Fahrern aus und erweitert es um neue Fähigkeiten in Bereichen wie ADAS und E-Mobilität. „Wir haben in den vergangenen Jahren viel Erfahrungen gesammelt, etwa mit Zuverlässigkeitstests oder Tests zur Fahrzeugdynamik“, so Positano. „Jetzt stehen wir vor neuen Herausforderungen, denen wir mit spezialisierten Gruppen aus Experten begegnen – zum Beispiel für NVH, ADAS und elektrische Antriebe. So können wir in Zukunft nicht nur Kilometer auf unseren Teststrecken, sondern auch unser Know-how anbieten – also höherwertige Services für unsere Kunden. Sie erwartet ein magischer Mix aus Infrastruktur und Kompetenz.“
Die nötigen Experten findet das NTC einerseits auf dem Arbeitsmarkt, andererseits durch seine enge Zusammenarbeit mit Hochschulen. So haben Positano und Nildo Sestini, Senior Manager Human Resources, Universitäten in Süd- und Norditalien besucht und den Studenten dort spielerisch Aufgaben gestellt.
„Wir wollen nicht nur eine Präsentation halten, sondern mit den Nachwuchstalenten in einen Dialog treten“, sagt Sestini. Umgekehrt besuchen Gruppen von Hochschulen regelmäßig das NTC. „Das ist immer eine gute Gelegenheit, um sich besser kennenzulernen und geeignete Kandidaten für uns zu finden“, so Sestini. „Wir bieten vielversprechenden Studenten ein Praktikum über einen Zeitraum an, der so bemessen ist, dass sie Erfahrung und Kompetenz sammeln und ihren Beitrag zu unserem Zentrum leisten können.“
Wachsende Attraktivität des NTCs
Auch über die inhaltliche Zusammenarbeit mit den Universitäten in Lecce (Fahrzeugdynamik), Bari (Batterien und Batteriemanagementsysteme), Florenz (ADAS und autonomes Fahren) und Neapel (Fahrzeug- und Motorraddynamik) ergeben sich immer wieder Kontakte zu Top-Nachwuchskräften. Sestini glaubt an die ständig wachsende Attraktivität des NTC für kluge Köpfe: „Wer bei uns arbeitet, hat teil an einem großen Abenteuer: der Transformation der Automobilindustrie.“
Als besonders vielversprechende Talente gelten in der Automobilbranche die Teilnehmer an der Formula Student. Das NTC ist Sponsor des Teams der Universität Lecce, betrachtet sein Engagement aber nicht als reine Recruiting-Maßnahme – vielmehr will das Testzentrum damit auch einen Beitrag für die Entwicklung in Süditalien leisten. „Mit unserem Engagement bei der Formula Student und in anderen Bereichen wächst nicht nur das NTC, sondern unsere gesamte Region“, berichtet Sestini. „Wir wollen uns darum noch stärker in das Ökosystem um uns herum integrieren. Dazu gehören Schulen, Universitäten und lokale Institutionen.“
„Wir entwickeln unsere Infrastruktur, unser Know-how und unser Team kontinuierlich weiter“, fasst Gratis die vielen Aktivitäten im NTC zusammen. „Dabei haben wir immer die Megatrends der Automobilbranche im Blick. Und genauso wie neue Technologien bald das Fahrerlebnis revolutionieren werden, wird auch unser Testzentrum in eine neue Zukunft gehen. Das NTC 2.0 kommt sehr schnell.“
Zusammengefasst
Das traditionsreiche Nardò Technical Center von Porsche Engineering investiert in neue Infrastruktur und in seine Engineering-Kapazitäten. Ziel ist es, den NTC-Kunden eine umfassende Palette an Dienstleistungen anbieten zu können – immer orientiert an automobilen Megatrends wie autonomes Fahren, vernetzte Fahrzeuge und E-Mobilität.
Info
Text: Christian Buck
Mitwirkende: Antonio Gratis, Roberto Buttazzi, Pierpaolo Positano
Fotos: Theodor Barth
Text erstmalig erschienen im Porsche Engineering Magazin, Nr. 1/2021