Die ersten Anzeichen der heraufkommenden Krise bemerkte Filippo Catalano Anfang Januar 2020, als das Personal von Nestlé vor Ort in China versuchte, rasch auf Berichte über eine ansteckende Krankheit zu reagieren, die sich in der Stadt Wuhan ausbreitete. Doch von der schnellen Ausbreitung der Krankheit nach Europa und darüber hinaus wurde auch der Chief Information Officer überrascht. „Wir hatten einen gewissen Vorsprung, weil wir sahen, was unser Team in China unternahm“, meint Catalano. „Aber am Anfang ahnte niemand, dass dies einen globalen Fußabdruck hinterlassen würde.“ Zwei Monate später war Catalano in Norditalien im Skiurlaub, als erste Berichte über steigende Covid‐19-Fallzahlen in der Region in den Nachrichten auftauchten. Zu der Zeit, als er wieder nach Hause in die Schweiz zurückkehrte, wurden Reisende, die von dort zurückkamen, unter Quarantäne gestellt. Catalano war keine Ausnahme. „Unsere gesamte Reaktion auf den Ausbruch des Coronavirus erfolgte virtuell und auf Distanz“, erklärt Catalano. Bis Ende Juni hatte er bereits mehr als drei Monate im Homeoffice verbracht.

Von zu Hause aus, ganz in der Nähe der Nestlé-Zentrale in Lausanne in der französischsprachigen Schweiz, steuerte Catalano die digitalen Abläufe des 90 Milliarden Schweizer Franken schweren Unternehmens inmitten einer Krise. Die Herausforderungen waren gewaltig. Catalano und sein Team strukturierten die Datenflüsse neu, um in Echtzeit auf sich wandelnde Verbraucherpräferenzen zu reagieren, richteten Tools ein, um Veränderungen der Lieferketten vorherzusagen, und dachten neu über ihre Werke nach, um sich auf die Reisebeschränkungen einzustellen. Aber bevor all das passieren konnte, mussten Catalano und sein Team das global tätige Unternehmen mit fast 300.000 Mitarbeitern, 2.000 Marken und mehr als 400 Werken und Niederlassungen in 170 Ländern quasi über Nacht auf die Arbeit aus dem Homeoffice umstellen. „Als klar wurde, dass der Ausbruch über China hinausgehen würde“, sagt er, „war unsere oberste Priorität, das Unternehmen betriebsfähig zu halten.“

Die Vorsorge zahlte sich aus

Es half, dass das Team von Catalano vorausgeplant, Krisenmanagementpläne erstellt und Redundanzen in seine Systeme eingebaut hatte, um reibungslose Abläufe zu gewährleisten – egal, was passieren würde. In einer Unternehmenswelt, die zunehmend von Just-in-time-Produktion und schlanken Abläufen beherrscht wird, waren Vorsorgeübungen und Notfallplanung nicht immer populär. Aus heutiger Sicht hat es sich aber gelohnt. „Es ist nicht die attraktivste Tätigkeit, die man sich vorstellen kann, aber die Vorsorgemaßnahmen haben sich absolut ausgezahlt“, sagt Catalano. Für ihn, einen Italiener, der nach 15 Jahren beim US-Konsumgüterriesen Procter & Gamble 2015 zu Nestlé kam, bedeutete dies, Notfallpläne auf den neuesten Stand zu bringen und spontan Maßnahmen für eine völlig neue Krisensituation zu entwickeln. „Wir mussten die Möglichkeit, Onlinemeetings abzuhalten, für einen nie da gewesenem Umfang ausbauen“, meint Catalano.

„Auf einmal hat keines unserer Modelle mehr funktioniert.“ Filippo Catalano CIO von Nestlé

Im Laufe eines verlängerten Wochenendes machten die Tech-Teams von Nestlé beispielsweise die digitale Kooperationsplattform Microsoft Teams für 180.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weltweit zugänglich. Um zu gewährleisten, dass alle Mitarbeiter auf dem neuesten Stand sind, packte ein Kommunikationsteam mit Instruktionen im Intranet und auf der Unternehmensplattform mit an. In mehr als zehn Sprachen gingen sie mit den Mitarbeitern Aufgaben durch, mit denen die meisten nie zuvor zu konfrontiert waren: Wie optimiert man das heimische WLAN-Netzwerk für die zusätzlichen Anforderungen von Videokonferenzen? Wie richtet man eine VPN-Verbindung ein? Und wie startet man sichere Videokonferenzen von zu Hause aus? „Damit sich die Leute von außerhalb des Büros verbinden konnten, haben wir Best Practices verbreitet“, so Catalano. „Wir mussten sicherstellen, dass wir Hunderttausende Mitarbeiter auf diese Reise mitnehmen.“

Nach der erfolgreichen Umstellung des Unternehmens auf den Onlinebetrieb wandte sich Catalano den größeren Zusammenhängen zu, wobei „größer“ im Fall von Nestlé eine Untertreibung ist. Mit Tausenden verschiedenen Marken und mehr als 400 Werken, die ein breites Spektrum von Lebensmitteln und Getränken für Verbraucher herstellen, hat das Unternehmen extrem komplexe Lieferketten. Nehmen wir Nespresso-Kaffee, eines der bekanntesten Produkte des Unternehmens. Die Bohnen für die Leitmarke werden aus mindestens elf Ländern auf vier Kontinenten bezogen; die Verpackung und die Kaffeepads erfordern speziell bearbeitete Kunststoffe und Metalle. Gleichzeitig erschwerten Grenzschließungen und Quarantäneregelungen es, die Produkte in die Supermarktregale zu bekommen. Die Marken von Nestlé reichen von San-Pellegrino-Wasser über Maggi-Fertigsuppen bis hin zu Purina-Hundefutter – alle in ihrer jeweiligen Kategorie weltweit führend. Würde der in Frankreich produzierte Nescafé an der deutschen Grenze gestoppt? „Wir wollten Ausverkaufsituationen im Einzelhandel verhindern“, sagt Catalano. „Aber auf einmal hat keines unserer Modelle mehr funktioniert.“

Die Coronakrise zeigte, was KI wirklich leisten kann

Ein intern zusammengestelltes Team baute ein Dashboard auf, das Daten über Covid-19-Fälle und Lockdown-Situationen weltweit aus öffentlichen Informationsquellen zusammenführte. Die Funktionen wurden schnell erweitert, um ein länderspezifisches Monitoring zu ermöglichen. Innerhalb einiger Wochen war das Dashboard in der Lage, lokale Situationen bis in einzelne Postleitzahlenbereiche hinein zu überwachen. Ein Muss für Catalano: die Kompatibilität der Informationen mit den bestehenden Datenverfahren des Unternehmens. Seit seinem Start bei Nestlé ist Catalano ein Verfechter Künstlicher Intelligenz: Algorithmen und Programme, die in massivem Umfang Daten durchsuchen und analysieren und so Unternehmen dabei unterstützen, Entscheidungen in allen Bereichen vom Einkauf bis hin zu Verbraucherpräferenzen zu treffen.

Aber um erfolgreich neue Trends aufzuspüren, müssen diese Algorithmen anhand bestehender Datensätze trainiert werden. Und die Datengenies von Catalano merkten schnell, dass die in Vor-Corona-Zeiten erfassten Datenpunkte angesichts einer Pandemie, die vom Konsumentenverhalten bis zur Logistik einfach alles änderte, nutzlos waren. „Eine Menge Leute haben falsche Vorstellungen und meinen, KI würde auf magische Weise Probleme schnell lösen“, erklärt Catalano. „Die Covid-19-Krise zeigte, was KI wirklich leisten kann: Es stellte sich heraus, dass in einigen Fällen nicht genügend Historie im Datensatz enthalten war, um Zuverlässigkeit aufzubauen.“ Das ändert sich derzeit rasant, indem die Datenwissenschaftler von Nestlé Informationen rund um den Globus erheben und in ihre Modelle integrieren. KI wird bei Nestlé – und anderswo – weiter eine wichtige Rolle spielen. „Dabei geht es um eine gute Datenstrategie, um Daten, die für das gesamte Unternehmen kompatibel, zugänglich und wiederverwertbar sind. Und es geht um die richtigen Mitarbeiter, die neben den Daten auch mit dem Informationsgehalt arbeiten können.“

„Es gab eine merkliche Verschiebung der Absatzkanäle.“ Filippo Catalano CIO von Nestlé

Den Fokus auf Daten und KI zu setzen bedeutet nicht, dass man die Stärken der Mitarbeiter vergisst. Im Jahr 2019 leitete Catalano eine Initiative, mit der das Unternehmen auf die Plattform Workplace umzog, die auf einer Social-Media-Oberfläche basiert. Als Zehntausende von Mitarbeitern plötzlich von zu Hause aus Videokonferenzen führten, war diese Plattform für die Teams eine willkommene Möglichkeit, auch virtuell im Kontakt zu bleiben. „Alles war bereits für solche Interaktionen und digitale Zusammenarbeit gerüstet“, sagt Catalano. „Dies war eine hervorragende Grundlage für die Notwendigkeit in der Covid-19-Krise, einen robusten und einfachen Kommunikationskanal zwischen den Teams einzurichten.“ In einem so großen Unternehmen wie Nestlé hat sich diese Art von Verbindung und Kommunikation als wichtiger Wettbewerbsvorteil erwiesen. Schon mit den ersten Warnsignalen aus den chinesischen Niederlassungen konnten in der Zentrale Erfahrungen gesammelt werden, die weltweit wiederum zu einem Vorsprung führten, als immer mehr Länder in den Lockdown gingen. „Land A konnte von Land B lernen, wie man am besten vorgeht“, so Catalano. „Es ist keine exakte Wissenschaft, aber man hat zwei oder drei verschiedene Szenarien, um zu verstehen, wie sich die Lage künftig entwickeln könnte.“

In der Zwischenzeit versuchte das Unternehmen, seine vielen Marken schnell an die sich verändernden Märkte anzupassen. In wenigen Monaten „gab es eine merkliche Verschiebung der Absatzkanäle“, so Catalano. „Es gab definitiv eine Veränderung des Kundenverhaltens, denn die Konsumenten probierten zum ersten Mal vieles online aus.“ Der Distanzhandel – Online-Absatz, Online-Einzelhandel und Direct-to-Consumer-Marketing – ist sprunghaft angestiegen. Mehr als zehn Prozent der Unternehmensumsätze werden nun über E-Commerce abgewickelt. Und da die Konsumenten mehr Zeit zu Hause und online verbringen, hat sich auch die Art, wie sie Produkte bewerten und Fragen stellen, verändert. Seit die Geschäfte leer blieben, verzeichnete Nestlé immer mehr Interaktionen mit digitalen „Chatbots“, die anhand von KI-Algorithmen gesteuert werden. Auf Plattformen wie Facebook, WhatsApp und dem chinesischen WeChat werden Fragen zu Produktverfügbarkeit, Inhaltsstoffen und Sicherheit zunehmend von Bots beantwortet.

Covid-19 brachte einige schnelle Veränderungen mit sich. Aber Catalano meint, dass Grundsätzliches wie Kommunikation, Zusammenarbeit und ein Fokus auf nützliche Daten für Nestlé wichtig bleiben wird, wenn das Unternehmen nach der Pandemie einen neuen Weg vorwärts einschlägt. „Sämtliche Grundlagen, an denen wir in den letzten drei oder vier Jahren gearbeitet haben, kommen uns jetzt auch zugute“, sagt er. Seine Philosophie, den Marken und Regionen die Freiheit zu lassen, ihre eigenen Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie die vom Konzern weltweit bereitgestellten Module und Bausteine zusammenfügen und wiederverwenden wollen, hat sich als sehr effizient erwiesen. „Vergessen Sie alles Nebensächliche. Sorgen Sie dafür, dass die Grundlagen vorhanden sind, und alles andere ergibt sich von selbst.“

Technologie-Trends – #1

Virtuelle Zusammenarbeit

Nach Monaten mit „Zoom“-Konferenzen und „Microsoft-Teams“-Sitzungen ist es keine Überraschung, doch Catalano ist sicher: Wer eine überzeugende Lösung für kreative Zusammenarbeit online findet – etwa um interaktive Brainstorming-Einheiten abzuhalten –, wird zu den nächsten angesagten Unternehmen gehören. „Die nächste Herausforderung besteht darin, verstreute Teams zusammenzubringen“, erklärt Catalano. Virtuelle Realität könnte eine Antwort sein.

Technologie-Trends – #2

Augmented Reality

Die Reisebeschränkungen und die weltweiten Lockdowns führten bei den vielen Werken von Nestlé zu einem überraschenden Problem: Die Reparaturtechniker konnten nicht mehr reisen. Wenn also eine komplizierte Maschine kaputt ging oder in Betrieb genommen werden sollte, war das Personal vor Ort auf sich selbst gestellt. Nestlé hat das mithilfe von Augmented Reality (AR) gelöst: Mit virtuellen Einblendungen können technische Daten und Abbildungen über die reale Maschine gelegt werden. Man muss nur sein Tablet an die Maschine halten – und die richtigen Schaltflächen werden hervorgehoben. Das hilft bei schnellen Support-Lösungen aus der Ferne. „Wegen des Reisestopps konnten die Wartungsexperten nicht mehr zu den Werken fahren“, erklärt Catalano. „Wir haben diese AR-Lösungen in weniger als zwei Wochen eingeführt. Die Akzeptanz war unglaublich.”

Technologie-Trends – #3

Berührungslos und Sprachsteuerung

Covid-19 hat vielleicht den Handschlag zum Geschäftsabschluss abgeschafft. Ebenfalls auf der Kippe steht der alte Verkaufsautomat im Flur – wer möchte derzeit schon auf die gleichen Knöpfe drücken wie all die anderen im Gebäude? „Die Touchless-Technologie wird Auftrieb erhalten“, sagt Catalano. Bei Nestlé wird bereits mit berührungslosen Kaffeemaschinen und Verkaufsautomaten experimentiert. Ein großer Gewinner könnten sprachaktivierte Maschinen sein: so etwas wie Alexa für den Fahrkartenautomaten an der Bushaltestelle. „Die Voice-Technologie wird in den privaten Haushalten gut angenommen“, so Catalano, „aber ich glaube, es wird zu Hause und anderswo noch mehr Sprachaktivierung geben.“

Info

Text erstmalig erschienen im Porsche Consulting Magazin.

Weitere Artikel