„Lieber Freunde rund um den Globus als Feinde”

Die Lockdowns haben globale Lieferketten erschüttert. Experte Edwin Keh aus Hongkong rät Unternehmen, genauer hinzusehen und Sicherheit zum strategischen Top-Thema zu machen.  

Professor Edwin Keh blickt von seinem Schreibtisch in die Kamera seines Computers. Der CEO des Hongkonger Forschungsinstituts für Textil und Kleidung (HKRITA) sitzt in seinem Büro, umgeben von Bücherstapeln und Unterlagen. Keh, der auch an der Wharton School der University of Pennsylvania und an der Hong Kong University of Science and Technology Supply Chain Operations lehrt, hat langjährige Erfahrungen im Beschaffungs- und Supply-Chain-Management für namhafte Marken wie Walmart, Payless Shoes und Abercrombie & Fitch. In den letzten Wochen hatte er, wie er selbst sagt, „ungeheuer viel zu tun“. Da die Covid-19-Pandemie in den Volkswirtschaften rund um den Globus für Nachfrageschocks gesorgt hat, ist sein Rat gefragter denn je. Zwischen Meetings mit staatlichen Vertretern, mit denen er an einer wiederverwendbaren antiviralen Gesichtsmaske arbeitet, die man bis zu sechzig Mal waschen kann, nimmt sich Keh die Zeit für ein Interview mit dem Porsche Consulting Magazin.

Professor Keh, welche Auswirkungen von Covid-19 auf die globalen Lieferketten beobachten Sie? Welche Botschaften sendet dies an die Unternehmen?

Edwin Keh: Wir erleben die erste moderne Pandemie. Es gab zwar durchaus einige Erfahrungen, an denen man sich orientieren konnte, aber das Herunterfahren der Wirtschaft war doch beispiellos. Im Februar 2020 stoppte auch die Angebotsseite, als die Produktion vielerorts stillgelegt wurde, und bis März verschwand die Nachfrage. Seit Mai kommen wir langsam wieder aus diesem allgemeinen Stillstand heraus. Mittlerweile ist klar, dass unser moderner Lebensstil und unsere derzeitige Lebensqualität auf diesen bislang gut funktionierenden globalen Lieferketten beruhen. Ihre Schwachstellen zu erkennen, war ein Schock. Ihr Funktionieren ist nur in einem sehr stabilen und vorhersehbaren Umfeld möglich. Seit einem halben Jahrhundert leben wir weltweit weitgehend in einer Zeit des Friedens, es gab keine unliebsamen, umwälzenden Veränderungen. Das hat uns ein Gefühl von Sicherheit gegeben und uns vermittelt, dass dies die Normalität sei. Zu den psychologischen Veränderungen, die wir nun erleben, gehört die Erkenntnis, dass die letzten fünfzig Jahre sozusagen die abnormale Zeit der Geschichte waren. Wir müssen über robustere Lieferketten nachdenken und darüber, wie wir gewährleisten können, dass sie sicherer werden.

Welche Schwächen unserer modernen Lieferketten brachte Covid-19 zutage?

Keh: Wenn wir Lieferketten betrachten, gibt es immer einen Kompromiss. Sie sollen schnell, billig und hochwertig sein. Man kann wahrscheinlich zwei der drei Kriterien umsetzen, aber es dürfte schwierig werden, alle drei voll zu erfüllen. Da wir uns in einem sehr sicheren Umfeld befanden, strebten die Unternehmen nach immer günstigeren Preisen. Viele dachten, sie könnten immer so weitermachen, ohne einen Aufpreis für die Risiken zu bezahlen. Wenn man sich einige der Engpässe in der ersten Phase der Pandemie anschaut, betrifft dies Artikel, die normalerweise eine sehr flache Nachfrage ohne saisonale Schwankungen aufweisen. Das Paradebeispiel ist Toilettenpapier. Die ganze Panikstimmung schaffte diese Nachfrage für etwas, das eigentlich sehr vorhersehbar hätte sein müssen. Persönliche Schutzausrüstungen sind das andere Extrem: Das waren Artikel, die niemand herstellen wollte, weil sie so billig und allgegenwärtig waren. Und dann mussten wir plötzlich feststellen, dass wir einen Single Point of Failure, einen einzelnen Ausfallpunkt, in der Versorgung haben.

In Teilen der Welt hatten sich die Störungen bereits angekündigt, aber viele Lieferketten konnten trotzdem nicht mehr rechtzeitig reagieren. Was, glauben Sie, ist der Grund dafür?

Keh: Der amerikanische Wissenschaftler Jim Collins bezeichnet das als Stockdale-Paradox. Angesichts eines Problems darf man nicht einfach nur optimistisch oder pessimistisch sein. Denn wenn man zu optimistisch ist, wird man gar nichts unternehmen. Wenn man zu pessimistisch ist, ist man gelähmt. Man muss also realistisch bleiben und sich den brutalen Fakten stellen, und das ist sehr, sehr schwierig. Das Ausmaß der Pandemie hat uns überwältigt, da wir nie mit etwas Derartigem gerechnet hatten. Es wurden im Voraus keine angemessenen Maßnahmen entwickelt, deshalb kamen die Reaktionen auch nur langsam in Gang.

Wenn also mangelnde Vorbereitung auf die Risiken das Problem ist, was können Supply-Chain-Manager tun, um Änderungen einzuleiten?

Keh: Supply-Chain-Manager sollten neben Kostenoptimierungen jetzt auch nach mehr Sicherheit streben, vielleicht einfach, indem sie mehr Einblicke gewinnen. Es stellt sich gerade heraus, dass viele nur wenig über ihre eigenen Lieferketten wissen. Sie wurden überrascht, als ihr zweit- oder drittrangiger Zulieferer einen Engpass verursachte. Einerseits sind Tools wie die Blockchain hilfreich, aber das ist nur die Hardwareseite der Antwort. Ich halte die Softwareseite dieser Antwort – also die Beziehungen und das Netzwerk der Personen und der Unternehmen – für noch wichtiger. Wir hätten dies bereits mit SARS und mit dem Tsunami in Japan lernen sollen – es gab viele Gelegenheiten für einen Probelauf. Stattdessen fielen wir wieder darauf zurück, alles billig zu machen. Ich glaube daher, das sollten die Entscheidungsträger jetzt überdenken. Sie müssen nun wirklich Zeit investieren, um die Wechselwirkungen und das Beziehungsgefüge der Lieferketten zu verstehen. Es wurden so viele Kompetenzen ausgelagert und die Supply Chains sind derart zerklüftet, dass es für manche Manager schon schwierig ist, die richtigen technischen Fragen zu stellen. Als Henry Ford das Modell T baute, war alles unter einem Dach: Ihm gehörten der Wald, die Minen und die Montagebänder. In den letzten Jahrzehnten bestand die Versuchung für Unternehmen darin, sich allein auf den kundenorientierten Teil ihres Geschäfts zu konzentrierten und die anderen Teile auszulagern. Von dieser Pandemie lernen wir nun aber, dass dies problematisch sein könnte.

„Der Welthandel ist die Grundlage für Frieden und Wohlstand.“ Edwin Keh, CEO des Forschungszentrums für Textil und Kleidung Hongkong (HKRITA)

Das führt uns zu der verbreiteten Diskussion über „Onshoring“. Meinen Sie, eine Art Selbsteffizienz ist die Antwort auf den Mangel an Sicherheit in den Lieferketten?

Keh: Aus emotionaler Sicht sind Lokalisierung, Onshoring und Regionalisierung alles Themen, über die man nachdenken wird. Aber diese Überlegungen sollten als Strategiediskussion beginnen. Wenn Sie sagen, die Verfügbarkeit von persönlichen Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräten oder bestimmten Arzneimitteln ist für Sie entscheidend, sollten Sie aufgrund dieser Strategie eine Entscheidung treffen. Aber Sie müssen sich auch fragen, ob Sie weltweit Freunde haben wollen. Der Welthandel hat uns einander nähergebracht, er hat mehr Verständnis und Beziehungen geschaffen und ist die Grundlage für den Frieden und Wohlstand, den wir genießen. Dies könnte also eine strategische Überlegung sein: Ich mache Geschäfte in China, weil ich dort Freunde oder einen Kundenstamm haben möchte, oder mich unter bestimmten Umständen auf China stützen will. Eine bessere Lösung wäre also eine robustere Globalisierung, weil es besser ist, rund um den Globus Freunde statt Feinde zu haben.

Wenn man über die Verlagerung von Lieferketten nachdenkt, kommt es auch darauf an, in welchem Segment des Marktes man sich befindet. Wenn Sie ein Stahlwerk betreiben, sind Sie vermutlich an einen Ort gebunden, weil eine Verlegung schwierig ist. Wenn Sie aber Louis Vuitton sind, haben Sie eine Menge Flexibilität und können ziemlich dynamisch sein. Wenn Sie Apple sind und der Wert Ihres Produkts in der Benutzeroberfläche oder Ihrem coolen Design besteht, sind Kosten für Sie möglicherweise kein so großes Thema, solange Sie die Nachfrage nach Ihren Produkten hochhalten. Wenn Sie Walmart sind, müssen Sie vielleicht immer weiter optimieren und darüber nachdenken, wie Sie etwas zehn Prozent billiger bekommen können.

Auch China selbst durchläuft als globales Produktionszentrum einen wirtschaftlichen Umbruch. Welche Rolle spielt das Land in der Verschiebung der globalen Lieferketten infolge der Pandemie?

Keh: Der Prozess wird vielleicht durch die Pandemie beschleunigt, aber es ging auch vorher schon in diese Richtung: China möchte nicht mehr die ganze Billigproduktion für den Rest der Welt ausführen – wegen der Verschmutzung und einer rasch alternden Bevölkerung. Die chinesische Wirtschaft bewegt sich nach und nach von einer produzierenden zu einer konsumierenden. Ich vermute allerdings, dass in den nächsten drei bis fünf Jahren die größte Veränderung nicht in China stattfinden wird. Stattdessen könnte sie Indien betreffen – die Veränderung wäre viel schneller und noch radikaler. 350 bis 500 Millionen Inder könnten den Sprung in die Mittelschicht schaffen. Ihre Bedürfnisse würden für geänderte Verhältnisse in den Lieferketten sorgen. Alles in allem haben einige Unternehmen noch nicht ausreichend über diese Dinge nachgedacht. Warum produzieren sie in China? Weil sie dies vor zwanzig Jahren taten, als sie etwas billig und in großen Mengen produzieren wollten. Heute geht diese Rechnung nicht mehr auf, aber viele Unternehmen machen trotzdem alles wie früher.

„Glaubwürdigkeit gehört zu den Dingen, die darüber bestimmen, wer aus dieser Pandemie als Gewinner oder als Verlierer hervorgeht.“ Edwin Keh

Die Volkswirtschaften rund um den Globus bewegen sich hin zu einer nachhaltigeren Geschäftstätigkeit. Glauben Sie, dass die Krise eine Chance oder eine Bedrohung für diesen Trend ist – zumal er zu einem Luxus werden könnte, wenn die Unternehmen knappe Kassen haben?

Keh: Wenn die Unternehmen ihr Engagement für Nachhaltigkeit und ihre soziale Verantwortung infolge dieser Pandemie aufgeben, wird man sagen: „Ihr habt ja nur ,Greenwashing‘ betrieben, Ihr habt es gar nicht ernst gemeint.“ Am Ende dieser Krise sind solche Unternehmen nicht mehr in der Lage, die besten Leute für sich zu gewinnen, und ihre Marken werden bei ihren Kunden an Glaubwürdigkeit verlieren. Wenn Unternehmen durch diese Krise gehen und sagen: „Wir stehen weiter zu den Aussagen über unsere Werte“, dann werden diese Marken viel glaubwürdiger und stärker. Das gehört zu den Dingen, die darüber bestimmen, wer aus dieser Pandemie als Gewinner oder als Verlierer hervorgeht.

Welchen Rat haben Sie für Unternehmen, die mit dieser Krise zu kämpfen haben?

Keh: Es geht nicht nur um ihr Überleben als Unternehmen, es geht um das Überleben jedes Glieds in ihrer Lieferkette. Um stark aus dieser Pandemie hervorzugehen, muss die gesamte Supply Chain intakt aus der Krise kommen. Ich habe mit zahlreichen Bekleidungsmarken zu tun, und bei einigen war die erste Reaktion, Aufträge zu stornieren. Davon konnte ich nur abraten. Denn wenn ein solches Unternehmen gut aus dieser Sache herauskommt und die Geschäfte öffnet, aber nichts zu verkaufen hat, weil alle Werke geschlossen sind, dann ist es trotzdem erledigt. Trotz aller Maßnahmen zur Erhaltung der Liquidität müssen die Unternehmen zusammen mit ihrer Supply Chain aus der Krise hervorgehen – wie auch immer diese dann genau aussieht. Diese Aufgabe geht über die vier Wände eines Büros hinaus und wird Supply-Chain-Manager umtreiben.

Info

Text erstmalig erschienen im Porsche Consulting Magazin.

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