Frau Dr. Becker, Sie sind als Senior First Officer Langstreckenpilotin auf dem Airbus A340, zugleich auch Start-up-Mitgründerin in Hamburg und Mutter eines vierjährigen Sohnes und einer zweijährigen Tochter. Hat Sie die Corona-Krise gleich dreifach getroffen: als Angestellte, als Gründerin und als Mutter?
Dr. Tanja Becker: Ja, in der Tat. Bei mir zeigten sich gleich verschiedene Schwierigkeiten, mit denen ich konfrontiert wurde. Im Alltäglichen natürlich zum einen die 24-stündige Betreuung meiner Kinder. Zum anderen ein bedrückendes Bild von geparkten Flugzeugen an vielen Flughäfen allein in Deutschland. Und dann die Verwundbarkeit eines Start-ups, das gerade eine sehr positive Auftragsentwicklung zu verzeichnen hatte und jetzt durch die Krise wieder vor neuen Herausforderungen steht.
Welche Herausforderungen sind das? Die Firma, die Sie mitgegründet haben, beschäftigt sich mit Kabinenlicht, das für Passagiere auf Langstreckenflügen den Jetlag abschwächen soll.
Becker: Bei Start-ups ist die Liquidität natürlich – ähnlich wie bei Selbstständigen oder Gastronomen – nicht mit weitreichenden Rücklagen versehen, sodass ausbleibende Geschäfte sehr schnell Auswirkungen zeigen. Wie Sie andeuten, haben wir uns zunächst auf die Luftfahrt oder andere Unternehmen in der Reisewirtschaft konzentriert. Diese Branche war als Erste von der Krise betroffen und wird sie als Letzte verlassen. Das bedeutet, wir mussten umschwenken und uns auf andere Kundenkreise und Märkte konzentrieren. Wie sich jetzt langsam zeigt, tun wir das auch recht erfolgreich. Bei Start-ups ist die Flexibilität zum Umdenken bei Produktentwicklung und Strategie ein entscheidendes Merkmal, um erfolgreich sein zu können.
Die Pandemie gilt als globale Krise. Per Definition ist die Krise eine Situation, die den Höhepunkt einer sehr gefährlichen Lage beschreibt. Es kann aber auch der Wendepunkt sein – mit der Chance zur Lösung des Problems. Falls diese Entschärfung der Situation nicht gelingt, kann aus der Krise eine Katastrophe werden. In der Luftfahrt wäre das zum Beispiel der Ausfall aller Triebwerke, gefolgt vom Absturz des Flugzeuges über dicht bewohntem Gebiet. Wie werden Pilotinnen und Piloten darauf trainiert, solche Ereignisse zu verhindern?
Becker: Training ist ein entscheidender Faktor für den Umgang mit Situationen dieser Art. Training verschafft uns nicht nur die Möglichkeit einer gezielten Vorbereitung auf konkrete Situationen, sondern es werden dabei auch Abläufe und Herangehensweisen verinnerlicht. Zum Beispiel das Prinzip des Aviate, Navigate, Communicate. Zuerst ist es wichtig, das Flugzeug, einfach gesagt, in der Luft zu halten. Danach spielt die Position im Raum und die Richtung eine große Rolle. Erst im Anschluss kommunizieren wir mit der Flugsicherung oder unseren Kollegen in der Kabine. Durch Training erreicht man neben dem Flugalltag zusätzlich eine Erhöhung des Erfahrungsschatzes. Dies führt dazu, dass Handlungen und damit auch Entscheidungen in der Praxis intuitiv abgearbeitet werden können. Dies gibt dem Piloten wieder entscheidende freie Kapazitäten, um zusätzliche Problematiken abhandeln zu können. Vereinfacht gesagt: Im Notfall sollte ich als Pilotin genügend Reserven haben, um mich auf das Wesentliche zu konzentrieren und nicht in Hektik zu geraten.
„Es ist von großer Bedeutung, seine Entscheidung hinsichtlich veränderter Grundbedingungen zu überprüfen.“ Tanja Becker
Sie sprechen von der Methode FORDEC. FOR ist der Analyseteil mit Facts, Options sowie Risks & Benefits. DEC sind die Handlungsschritte nach der Analyse: Decision, Execution und Check. Dieses Vorgehen hilft Piloten, unter Stress die richtigen Entscheidungen zu treffen, um eine Notlage sicher zu bewältigen. Funktioniert das nur im Cockpit? Oder könnte die Methode in Krisen wie der Corona-Pandemie auch Chefärzten in Krankenhäusern oder Vorständen in Großunternehmen den Weg aus der Gefahrenzone weisen?
Becker: Jemanden dadurch komplett aus der Gefahrenzone zu weisen, ist vielleicht etwas zu viel gesagt. Im Flugzeug geht es nicht selten um sehr komplexe Zusammenhänge. Das ist durchaus vergleichbar mit der Pandemie, mit dem Alltag in Krankenhäusern oder Großunternehmen. Oftmals steht man als Entscheider vor einem klassischen Dilemma: Es gibt mehrere Optionen. Mit der FORDEC-Methode lässt sich die Option mit dem geringsten Impact auswählen …
… um negative Auswirkungen auszuschließen oder wenigstens so gering wie in der Situation möglich zu halten?
Becker: Darum geht es. Hinter FORDEC steht ein Entscheidungsprozess, dessen Hintergründe im Operations Research liegen, dem wissenschaftlichen Ansatz zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen. Natürlich gelten die wissenschaftlichen Ursprünge aber auch für die Entscheidungsprozesse in der Luftfahrt oder sogar im Alltag, da sie von Menschen getroffen werden. Wir Menschen entscheiden oft ad hoc oder aufgrund von Präferenzen oder Annahmen. Wir bedienen uns hier den Heuristiken wie Trial and Error. Diese sind Teil der menschlichen Einschätzung. Genau die unterliegt oft einer kognitiven Verzerrung. Denn selten werden die Fakten der Situation wirklich umfassend und objektiv zusammengetragen. FORDEC ermöglicht es, in relativ kurzer Zeit zum Ziel zu gelangen – ohne aufwendige Entscheidungsmatrizen mit Wahrscheinlichkeiten und mathematischen Operatoren aus der präskriptiven Entscheidungsfindung.
Welche Rolle spielen bei dieser Methode Kompetenz und Wissen der Piloten?
Becker: FORDEC verknüpft einen vereinfachten präskriptiven Entscheidungsprozess mit Erfahrungen und dem sogenannten Bauchgefühl. Das ist nicht nur in der Fliegerei, sondern mit Sicherheit auch in der Medizin und Wirtschaft wichtig. Die menschliche Erfahrung ist ein Aspekt, der in der deskriptiven Betrachtungsweise zutage kommt. Piloten müssen sich der Heuristiken und der kognitiven Verzerrungen bewusst sein. Deshalb ist die Schulung der Piloten so wichtig. Sie müssen das Erkennen trainieren und bei Bedarf sofort anwenden.
Wie funktioniert FORDEC im Detail?
Becker: Die Analyse der Faktenlage, das F in FORDEC, ist ein elementarer Baustein. Grundlage ist eine umfassende Situational Awareness. Die ist für Piloten ein essenzieller Bestandteil der täglichen Arbeit – inklusive der Informationsbeschaffung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsprognosen. Die zur Verfügung stehenden Optionen könnten im Flugzeug unterschiedlichen Ausweichflughäfen oder Zwischenlandungen entsprechen. In anderen Bereichen wären dies mögliche Investitionsentscheidungen, Behandlungsmethoden, Verfahren und Techniken. Zu den Risks and Benefits zählt das Abwägen der genannten Optionen unter definierten Kriterien, wie beispielsweise die Sicherheit oder die Operation. So wäre die Option des Landens auf einem Flughafen, auf dem man später aber leider nicht mehr starten kann, nicht sinnvoll, wenn es nur ein recht kleines technisches Problem gibt. In der Decision-Phase wird anhand dieser Struktur eine Entscheidung unter Berücksichtigung der wichtigen Aspekte wie Sicherheit gefällt. Bei Entscheidungen in Krisen ist zu berücksichtigen, dass der Rumpfbetrieb, also der Hauptprozessor eines Unternehmens, trotzdem erhalten bleibt, um das spätere Hochfahren eines Betriebes schneller zu ermöglichen. Nach der Ausführung der notwendigen Handlungen – mit „Execution“ das E in FORDEC – erfolgt zuletzt mit Check ein Punkt, der gerne vernachlässigt wird. Es kann aber von großer Bedeutung sein, seine Entscheidung auch hinsichtlich möglicher veränderter Grundbedingungen zu überprüfen.
Ein psychologischer Eignungstest ist Teil des Auswahlverfahrens für Kandidaten zur Pilotenausbildung. Was halten Sie von einem psychologischen Eignungstest für Top-Führungskräfte in Industrie und Wirtschaft?
Becker: Das unterstütze ich sofort. Nicht ohne Grund haben viele Unternehmen selbst eigene aufwendige Auswahlverfahren und Entwicklungstracks für Führungskräfte oder greifen hier auf spezialisierte Anbieter zurück. Welche Eigenschaften hier untersucht werden sollten, ist jedoch diskutabel und hängt nicht zuletzt auch von der Firmenphilosophie oder den kulturellen Grundbedingungen ab. Die Auswahl der Führungskräfte ist aber nur eine Seite der Medaille. Die Weiterentwicklung der eigenen Fähigkeiten durch Schulungen, Trainings und auch Prüfungen ist, wie die Erfahrung aus der Luftfahrt lehrt, ein wichtiger Faktor, der noch konsequenter umgesetzt werden könnte. In der Luftfahrt haben Untersuchungen gezeigt, dass alleinige Schulungen nicht ausreichen, da das Wissen, aber auch dessen Anwendung sonst erodieren.
Was unterscheidet Führungskräfte am Boden von Piloten?
Becker: Top-Führungskräfte haben ein hohes Maß an Verantwortung für Mensch und Unternehmen, aber nicht unbedingt auch direkt für Leib und Seele der Person, die Medizin hier einmal ausgenommen. Der entscheidende Unterschied zwischen Piloten und den Führungskräften, aber auch Medizinern ist, dass wir immer selbst Teil der direkten Konsequenzen aus den Entscheidungen sind. Es geht konkret auch immer um unser Leben. Ein Chefarzt einer Geburtsklinik hier bei mir in Hamburg brachte genau diesen Aspekt bei dem Unterschied zwischen Ärzten und Piloten auf den Punkt. Würden bei den medizinischen Entscheidungen auch immer die Entscheider selbst betroffen sein, wäre die Bereitschaft zur Weiterbildung in den Human Factors und zu wiederkehrenden Trainings keine Frage mehr. Auch der Umgang mit Fehlern wäre mit Sicherheit ein anderer. Diese Aussage kann man ebenfalls auf viele Teile der Wirtschaft übertragen.
Heißt das, insbesondere angestellte Top-Manager sollten mehr Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen und offener für konstruktive Kritik oder gute Berater sein?
Becker: Die Reflexion der eigenen Entscheidung und des eigenen Auftretens ist nach meinem Empfinden für eine moderne Führungskraft unabdingbar. In der Wirtschaft, aber auch in der Politik, zeigt sich hier noch ein anderer Umgang, gerade bei Fehlentscheidungen. Ein offener Umgang mit seinen Fehlern kann die Karriere kosten. Hier hinkt noch das Gesamtsystem. Wir müssen eine nachhaltige Änderung erreichen, was jedoch noch eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen wird. Für die Führungskräfte selbst wäre jedoch eine kontinuierliche Begleitung durch Trainings, Schulungen, aber auch in Form von Coachings schon ein guter Schritt. Man darf nicht vergessen, dass gerade ein CEO oft einsam mit seiner oder ihrer Entscheidung ist.
Neben Ihrem Beruf als Verkehrspilotin beschäftigen Sie sich intensiv mit Verhaltensmustern von Führungskräften und stellen dabei den Faktor Mensch in der Arbeitswelt in den Mittelpunkt. Was möchten Sie verbessern und welche Mittel und Methoden wollen Sie dafür einsetzen?
Becker: Das Bild von Führungskräften wandelt sich nicht nur unter Einfluss der erhöhten Komplexität durch die Globalisierung, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, sondern auch ein Wandel in den Ansprüchen der Arbeitnehmer an ihren Beruf stellt neue Herausforderungen, denen eine Führungskraft begegnen muss. Ein inspirierender Leader ist gefordert. Einer, der nicht nur sein System managt. Es bedarf einer authentischen Führungskraft, die ihre Vorbildfunktion wahrnimmt und ihre Mitarbeiter entlang der Unternehmensziele motiviert. Ein Mensch wird nicht unbedingt als Leader geboren, man entwickelt im Laufe seines Lebens durch den Beruf und sein privates Umfeld seine Eigenschaften immer weiter. Ein entscheidender Aspekt für den Erfolg einer Führungskraft sind neben seiner fachlichen Stärke seine zwischenmenschlichen Kompetenzen.
Wie sieht das in der beruflichen Praxis aus?
Becker: Nur ein Leader, der sich seiner Wirkung und der Bedeutung der psychologischen Sicherheit für die ihm Anvertrauten bewusst ist, wird dauerhaft erfolgreich sein. Er muss sich Vertrauen verschaffen, ehrlich kommunizieren und wertschätzend mit seinem Umfeld umgehen. Viele Eigenschaften sollte ein Leader bereits mitbringen. Jedoch können auch Aspekte der interpersonellen Kompetenzen geschult werden. Dazu zählen Kommunikation oder Entscheidungsfindung. Um die erlernten Prinzipien umsetzen zu können, müssen in dem Unternehmen auch die Grundvoraussetzungen wie Feedbacks, Meeting-Regeln und Hierarchien stimmen. Aus diesem Grund setze ich neben der Schulung und Beratung auf den holistischen Ansatz der Begleitung. In Form eines Audits werden zunächst verschiedene Aspekte, die die Human Factors betreffen, im Unternehmen beleuchtet. Daraus formulieren wir Maßnahmen und setzen sie zusammen mit den Mitarbeitern um. Danach sollte die Tätigkeit aber nicht enden, denn ein entscheidender Faktor ist die weitere Begleitung zur Messung des Erfolges, ganz ähnlich wie beim „Check“ aus FORDEC. Darüber hinaus bin ich von der Relevanz persönlicher Weiterentwicklung in Führungspositionen überzeugt. Individuelle Coachings oder ein Sparringpartner auf Zeit sind hier die Aspekte meines Ansatzes.
Über den Tellerrand geschaut
Porsche Consulting ist im Jahr 1994 aus der erfolgreichen Bewältigung einer Unternehmenskrise bei Porsche entstanden. Damals schaffte der Sportwagenhersteller dank schlanker Prozesse den Turnaround. Heute hilft die Managementberatung Unternehmen aus unterschiedlichsten Branchen dabei, ihre Innovationskraft zu steigern und durch Transformationen und Krisen zu navigieren. Die Berater übertragen bewährte Methoden aus der Automobilindustrie und aus anderen Bereichen auf die Herausforderungen ihrer Klienten. Sie haben einen Blick für gute Vorbilder. Zum Beispiel für die offene Fehlerkultur und das Krisentraining bei Verkehrspiloten. Beides kann auch Unternehmen helfen, in schwierigen Situationen auf Kurs zu bleiben.
Das FORDEC-Prinzip
… hilft Piloten, unter Stress die richtigen Entscheidungen zu treffen, um eine Notlage sicher zu bewältigen. Dabei gehen sie in diesen Schritten vor:
F – Facts: Faktenlage analysieren
O – Options: Handlungsmöglichkeiten identifizieren
R – Risks & Benefits: Vor- und Nachteile abwägen
D – Decision: Entscheidung treffen
E – Execution: Handeln
C – Check: Ergebnis prüfen