Sie waren ihrer Zeit voraus: eine kleine Gruppe aus IT-Fachleuten, Designern, Studenten und Gründern, die in ihrer Freizeit drei Tage lang diskutierten, programmierten – und kaum Schlaf fanden. Am Ende stand das Konzept für eine App, die das Leben vieler Menschen während einer Epidemie sicherer machen kann. Weil sich mit ihr Arzttermine so organisieren lassen, dass Patienten keine unnötige Zeit in Wartezimmern verbringen müssen – und damit weniger Zeit auf engem Raum mit anderen Menschen. Eine Idee, wie gemacht für die Herausforderungen der Coronakrise. Doch entwickelt wurde sie bereits Monate vor dem Ausbruch des Virus, im September 2019.

Die App ist die Idee von Teilnehmern eines Hackathons in München. Dort suchten Hunderte Nachwuchstalente Lösungen für Problemstellungen, die mehrere Unternehmen vorgegeben hatten. Die Aufgabe „Wartezimmer abschaffen“ kam von GE Healthcare. Und sie ist nur ein Beispiel dafür, wie sich in der Pandemie eine Strategie auszahlen kann, auf die das Tochterunternehmen des amerikanischen Konzerns General Electric einen immer stärkeren Schwerpunkt legt: die digitale Transformation des Gesundheitswesens.

Homeoffice für Klinikärzte

Mit 50.000 Mitarbeitern an Standorten in mehr als 160 Ländern entwickelt GE Healthcare technologische Lösungen und Dienstleistungsangebote für das Gesundheitswesen. „Die Nachfrage nach digitalen Innovationen in diesem Sektor ist immens“, sagt Jan Beger, General Manager Digital bei GE Healthcare, „inzwischen können wir bereits ein großes Angebot an Lösungen bereitstellen. Die Coronakrise hat gezeigt, dass digitale Lösungen in Zeiten von Epidemien deutliche Vorteile für das Gesundheitswesen mit sich bringen.“ Denn viele digitale Innovationen steigern nicht nur Effizienz und Komfort, sondern bringen auch einen schützenden Effekt mit sich – weil sie physische Kontakte reduzieren können.

„Wir müssen diese Pandemie zu einem Beschleuniger für den digitalen Wandel im Gesundheitswesen machen.“ Jan Beger

Einige Lösungen betreffen vorrangig das medizinische Personal, wie etwa die radiologische Untersuchungsbefundung aus der Ferne. So lassen sich beispielsweise Computertomografie-Scans digital von einer Station eines Krankenhauses in die nächste übertragen – oder von einem Krankenhaus zum anderen. Kein Arzt muss mehr den Scan-Abzug oder eine CD-ROM mit den Daten in die Hand nehmen. „Das Besondere an unserer Lösung ist, dass sie mit nahezu allen Systemen kompatibel ist, die Krankenhäuser verwenden“, sagt  Mathias Goyen, Chief Medical Officer bei GE Healthcare. „Mit einem hochauflösenden Monitor können Radiologen Befunde problemlos von zu Hause aus erheben.“ Homeoffice für Klinikärzte – einige Kliniken konnten so die Kontakteinschränkungen während der Corona-Pandemie bereits bestens umsetzen.

Zentraler Zugriff auf alle Daten

Auch die Belegung von Intensivbetten ist in Zeiten von Epidemien ein enorm wichtiges Thema. Aber ob und wie lange ein Bett belegt ist, wusste bislang oft nur das Personal auf der jeweiligen Station. „Wenn Ärzte ein Bett brauchen, rufen sie meist auf den Stationen an, um nachzufragen“, sagt Radiologie-Professor Goyen. Selbst wenn die Belegungszahlen im Krankenhauscomputer angezeigt werden, fehlen oft wichtige Details: Wurde ein Bett vielleicht für einen Patienten reserviert, der erst morgen kommt? Ist ein Patient früher entlassen worden als geplant?

Command Center des britischen Bradford Teaching Hospitals NHS Foundation Trust, 2020, Porsche Consulting GmbH
Mitarbeiter im Command Center des britischen Bradford Teaching Hospitals NHS Foundation Trust. Sie verwenden Echtzeitdaten um den Patientenfluss über Krankenhäuser in Bradford und Gemeinden in der englischen Grafschaft Yorkshire hinweg zu steuern.

Das „Command Center“ von GE Healthcare ermöglicht es, dass all diese Informationen automatisch ausgewertet werden. „Das läuft ähnlich wie bei der Kommandozentrale bei einer NASA-Mission. Damit lassen sich Patientenflüsse optimal steuern“, sagt Goyen. Unmittelbar nach dem Ausbruch der Pandemie in Deutschland entwickelte GE Healthcare eine der Covid-19-Situation angepasste Version der Software, die sich innerhalb von zwei Wochen mit nahezu allen Schnittstellen eines Krankenhauses verbinden lässt. Zusätzlicher Vorteil: Die Implementierung kann komplett von außen gesteuert werden, kein Techniker muss dafür das Krankenhaus aufsuchen. Nach vier Wochen hatten bereits 150 Kunden weltweit diese Lösung im Einsatz. Dort hilft das System nicht nur, Patienten schneller zu behandeln, sondern schützt auch Pfleger und Ärzte – und damit letztlich wiederum die Patienten. „Ein zentraler Aspekt ist ja, dass das medizinische Personal gesund sein muss, damit wir das Gesundheitssystem aufrechterhalten können“, so Goyen.

Corona als Impulsgeber

Zunehmend entwickelt GE Healthcare auch digitale Lösungen, bei denen der Vorteil für die Patienten im Vordergrund steht. „Bislang werden Patienten noch viel zu wenig als Kunden mit entsprechenden Bedürfnissen wahrgenommen. Da hinkt das Gesundheitswesen anderen Branchen weit hinterher“, sagt Goyen. „Die Digitalisierung ist eine große Chance, das an vielen Stellen zu ändern.“ Ein Beispiel: Anstelle von kleingedruckten Informationsblättern könnten Chatbots die Aufgabe übernehmen, Patienten über den Ablauf einer aufwendigen Behandlung im Detail zu informieren. Der digitale Assistent kann zudem daran erinnern, wenn ein Patient zu einem Termin nüchtern erscheinen soll. Goyen beobachtet, dass auch bei den Medizinern ein Umdenken stattfindet: „Das Verhältnis von Arzt und Patient verändert sich. Patienten werden immer mündiger, sind etwa durch Bewertungsportale bestens informiert und wählen gezielt den für sie idealen Arzt aus.“ Kliniken und Praxen sollten darum die Chance erkennen, durch Kundenorientierung einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. „Wir machen Produkte für Ärzte, aber letztlich sollen sie immer dem Patienten nutzen“, sagt Goyen.

„Patienten werden immer mündiger. Das steht bei der Entwicklung neuer Produkte zunehmend im Fokus.“ Prof. Dr. med. Mathias Goyen

So wie auch die Wartezimmer-App, die auf dem Hackathon in München konzipiert wurde. Diese soll beispielsweise ermöglichen, dass der Patient bereits vor der Behandlung Daten an den Arzt übermitteln kann oder dass er in Echtzeit informiert wird, wenn sich seine Behandlung verzögert. Die App könnte ein Produkt ergänzen, das GE Healthcare bereits entwickelt hat: die „Smart Scheduling“-App. Diese wertet die unterschiedlichsten Faktoren aus, die beeinflussen, ob Patienten Termine tatsächlich wahrnehmen, etwa: Wie weit liegt sein Wohnort  von der Arztpraxis entfernt? Wie soll das Wetter am Tag des Termins werden? Zu welchen Uhrzeiten hat der Patient bei früheren Gelegenheiten Termine abgesagt? So ermittelt der Algorithmus Termine, die optimal auf seine Bedürfnisse abgestimmt sind. Das erlaubt es Ärzten, besser zu planen – und sorgt damit ebenfalls dafür, dass sich weniger Patienten in Wartezimmern aufhalten. Noch in diesem Sommer soll diese App in den ersten Praxen eingesetzt werden. Dann werden leere Wartezimmer nicht nur die Nerven der Patienten schonen, sondern auch deren Gesundheit schützen.

„Wäre die Pandemie vor zwei Jahren ausgebrochen, wäre die Situation deutlich schwieriger gewesen“, sagt Beger. „ Die vergangenen Wochen haben gezeigt, welche Chancen die Digitalisierung im Gesundheitswesen bietet. Das macht mir Hoffnung für die Zukunft.“ Corona sei ein Anstoß, diese Entwicklung noch schneller voranzubringen.

Marathon für Hacker

Bei der Entwicklung digitaler Innovationen setzt GE Healthcare auch auf innovative Entwicklungsmethoden. Dazu gehören beispielsweise Hackathons, bei denen Teams mit Teilnehmern aus unterschiedlichsten Disziplinen in begrenzter Zeit Lösungen zu vorgegebenen Aufgaben entwickeln. So entstand im Herbst 2019 auf dem Tech-Fest des Münchner Innovations- und Gründungszentrums UnternehmerTUM die Idee für eine App, mit der Wartezeiten für Patienten reduziert werden können. Hackathons helfen jedoch nicht nur Produkte zu entwickeln, sagt Jan Beger, General Manager Digital bei GE Healthcare, „hier lernen wir, wie agile oder selbstorganisierte Teams effektiv und schnell zu Ergebnissen kommen. Diese Erkenntnisse lassen wir in unsere eigenen Prozesse einfließen.“

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