„Die Würde des Menschen ist antastbar, Stand: 27.08.2018.“ Im Sommer 2018 hängen Aktivisten ein Plakat mit diesem Satz in Chemnitz auf. Der erste Artikel des Grundgesetzes, als Warnung verdreht ins Gegenteil. Das Plakat hängt an der Fassade eines Wohnturms, Ecke Bahnhofsstraße/Augustusburger Straße. Der Regierungssprecher Steffen Seibert spricht in diesen Tagen von Hetzjagden, es gibt Ausschreitungen, Demonstrationen, Gegendemonstrationen: Nach einem Mord ist die Stadt im Südwesten Sachsens damals zu einem Ort geworden, an dem die Risse innerhalb der Gesellschaft wie tiefe Schluchten wirken.
Der Hamburger Sportjournalist und Magazin-Macher Oliver Wurm schaut auf das Plakat an der Fassade des Wohnturms, neben ihm steht sein Neffe aus dem Sauerland. Sie sind nach Chemnitz gereist, um gemeinsam mit Hunderttausenden ein Zeichen für Toleranz und gegen Fremdenhass zu setzen, erzählt Wurm heute. Als er das Plakat sieht, trifft er eine mutige Entscheidung. Seit einigen Wochen arbeitet er bereits an einem neuen Projekt: Er will das Grundgesetz herausgeben, aber als modernes Magazin. In diesem Moment in Chemnitz beschließt Wurm, die Auflage deutlich zu erhöhen – auch wenn er sich das ohne Verlag im Rücken nur mit einem Kredit leisten kann.
„Eine Wertschätzung, über die ich mich sehr freue“ Oliver Wurm
Am vergangenen Montag ist Wurm nun mit dem renommierten Lead-Award in der Independent-Kategorie ausgezeichnet worden. Ein Preis, mit dem besonders mutige und innovative Leistungen prämiert werden. Die Auszeichnung in dieser Kategorie vergibt eine Jury gemeinsam mit Porsche, dem Hauptsponsor der Lead-Awards.
Die Lead-Awards zählen zu den hochkarätigsten Veranstaltungen in der deutschen Medienlandschaft, neben Wurm wird unter anderem Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur „Die Zeit“, zum überregionalen Blattmacher des Jahres gekrönt. „Das ist eine Wertschätzung, über die ich mich wirklich sehr freue“, sagt Wurm.
Besonders freut sich Wurm aber über seinen Lead-Award, weil der Preis nicht nur ein einzelnes Produkt ehrt, sagt er. Sondern die Macherinnen und Macher. „Wurm ist aus der deutschen Indie-Szene nicht mehr wegzudenken“, findet die Jury. „Einer, der immer wieder mit neuen ungewöhnlichen Heftkonzepten überrascht und den Magazinmarkt bereichert."
Wurm arbeitet unabhängig – und auf eigenes Risiko
Für Wurm schließt sich mit der Auszeichnung ein Kreis. 2006 gewinnt er einen silbernen Lead-Award für das Magazin „Player“. Das Heft ist eine Mischung aus Fußball und Lifestyle, 11-Freunde trifft GQ. Es war seine letzte Magazinentwicklung als Festangestellter, danach arbeitet Wurm unabhängig – und auf eigenes Risiko.
In den folgenden Jahren gibt er etwa das Neue Testament als Magazin heraus, oder – gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Alexander Böker – Sticker-Sammelalben, für einzelne Städte oder das ganze Land. In Hamburg kann man ein Franzbrötchen und Udo Lindenberg einkleben. „Ich bin ein Werte- und Inhalte-Erhalter“, sagt Wurm und lacht. Um Pressekarten für die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien zu bekommen, entwickelt er ein erfolgreiches Fußballmagazin. Die Projekte kommen zu ihm, sagt er, wenn man ihn nach seiner Methode fragt.
Mal sind seine Magazine erfolgreich, mal Ladenhüter – in den Zeiten rückläufiger Magazinverkäufe ist das aber schon ein Erfolg. Auch an den Lead-Awards geht die Printkrise nicht spurlos vorbei, zwei Jahre lang konnten die Preise nicht vergeben werden. 2018 wurde der Award wiederbelebt – mit Porsche als neuem Partner und Möglichmacher.
„Der Text ist pures Gold“
Die Gala ist seitdem wieder zu einem Event geworden, bei dem es um mehr geht als Preise. Die Veranstaltung setzt ein Zeichen für die Freiheit der Presse, eine Grundvoraussetzung demokratischer Teilhabe. Im Grundgesetz klingt das so: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“. Und: „Eine Zensur findet nicht statt.“
Es ist die Klarheit von Sätzen wie diesen, die Wurm zu seinem bisher erfolgreichsten Magazin inspirieren. „Der Text ist pures Gold“, sagt Wurm in Interviews über die deutsche Verfassung. „Ein Meisterwerk der Menschlichkeit.“ Aber: Ohne Moderator und Wissenschaftler Ranga Yogeshwar hätte er das Grundgesetz vielleicht nie für sich entdeckt.
Er sitzt eines Abends auf seinem Sofa, im Hintergrund läuft die Sendung von Markus Lanz. Der Physiker Yogeshwar ist zu Gast – und schwärmt vom Grundgesetz. Wurm ist interessiert, er bestellt die Verfassung bei der Bundeszentrale für politische Bildung, kostenlos. Er ist begeistert: „Allein die 19 Grundrechte, die sollte jeder verinnerlichen“, sagt Wurm. „Es lohnt sich für diese Werte zu streiten, sie zu leben und sie zu verteidigen.“
Vom Projekt zur Mission
Er beschließt gemeinsam mit dem Grafikdesigner Andreas Volleritsch, dem Text mit einer angemessenen Verpackung gerecht zu werden. 124 Seiten, auf hochwertigem Papier gedruckt, mit Akzenten durch Schriftgrößen und Fotos statt Kommentaren. „Haute Couture für die Verfassung“, titelte die Süddeutsche Zeitung.
Wurm trifft den Zeitgeist, die erste Auflage ist schnell ausverkauft. Wolfgang Kubicki, Bundestagsvizepräsident, bedankt sich in einem Brief bei Wurm, eine Jura-Dozentin aus Münster will Hefte für ihre Studenten nachbestellen, eine 80-jährige Frau braucht weitere Magazine als Geschenk für ihre Enkel.
Jetzt will Wurm weitermachen. „Aus einem Projekt ist eine Mission geworden“, sagt er. Im kommenden Jahr will er in Schulen mit Schülerinnen und Schülern über die Grundwerte der Gesellschaft diskutieren. 2019 hat er sich das als ehemaliger Sportjournalist noch nicht getraut.
Er sagt: Der Mut, den er anderen gemacht habe, mache ihm nun selbst Mut.