Nur um die Mittagszeit lässt sich die Sonne kurz am Himmel sehen. Wenn überhaupt. Es ist bitterkalt, minus 20 Grad. Der See ist metertief zugefroren. Genau deshalb sind sie hier, im schwedischen Lappland bei Arjeplog. Am Ufer warten zwölf warmgelaufene Porsche 911 auf ihren Einsatz. Vorsichtig, fast zögerlich, tasten sich die Fahrer in ihren Autos auf das Eis, zu einem Tanz der besonderen Art: Geübt wird der vollendete Drift.
Etienne Salomé schließt die Augen. Er war einer dieser Fahrer. Wenn er heute, fünf Jahre später, daran denkt, ist es ihm, als sei es gestern gewesen: Gas geben, einlenken, die Balance finden – und dann einen geschmeidigen Kreis auf das Eis zirkeln. Geschwindigkeit begeistert ihn. Er war zwölf, als ihn sein Vater das erste Mal zu den 24 Stunden von Le Mans mitnahm. Aber erst an diesem Wochenende im skandinavischen Winter 2014 hat er das erhabene Gefühl, die absolute Beherrschung der Beschleunigung, die Verführung der Physik, die Choreografie des schier Unmöglichen mit jeder Faser seines Körpers zu spüren.
Salomé verarbeitet seine Erlebnisse künstlerisch
„Es gibt kein besseres Auto für diese Art von Training als den 911“, sagt er. „Der Heckantrieb erzeugt den perfekten Schwerpunkt für Pirouetten. Man lenkt ein und gibt im richtigen Moment kurz Gas. Das Heck schwenkt aus – und ab da lenkt man mit exakt dosiertem Gaspedal über die Hinterräder. Ein wunderbares Gefühl.“
Dass auch Rennfahrer auf dem Eis Extremsituationen üben, machte das Training für Salomé noch eindrucksvoller. Das Wochenende hatte Folgen. Der in Paris geborene 38-jährige Head of Interior Design bei Bugatti hat seine Erlebnisse in Schweden künstlerisch verarbeitet.
Salomés Atelier an der Berliner Kastanienallee, im zweiten Hinterhof eines alten Fabrikgeländes. Auf dem Weg zur eisengrauen Studiotür Catwoman und Marilyn Monroe, Streetart unbekannter Herkunft. Der Industriehof zählt zum Standard des Berliner Sightseeing-Programms, weshalb an Salomés Tür steht: „No Shop. No Gallery. Just an Office.“ Dort arbeitet er, frei, unabhängig, ohne kommerziellen Druck – ein Lebensmodell, das ihm schon im Kopf umherschwirrte, als er sich zwischen Kunst und Design zu entscheiden hatte. Damals studierte er Industriedesign in Paris und später am Royal College of Art in London.
In Salomés Atelier sammeln sich Porsche-Kunstwerke
In dem Berliner Atelier fallen gleich mehrere Kunstwerke mit Porsche-Bezug ins Auge. Zum Beispiel Salomés Interpretation des schwedischen Eis-Abenteuers: ein Porsche 911 in 23 Phasen eines Drifts, aneinandergereiht in einem fast geschlossenen Kreis und zu einer aufrecht stehenden Skulptur aus Aluminium gegossen. Gegenüber dem Eingang hängt eine moderne Chronofotografie – im Kern eine Technik, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts genutzt wurde, um mit seriellen Momentaufnahmen Bewegung darzustellen. Salomé wählte ein Motiv, das Geschwindigkeit greifbar macht: 35 verschiedene Porsche-Drehzahlmesser aus 70 Jahren Firmenhistorie.
Viele davon hat er, wie auch die Felgen, im Porsche Museum in Zuffenhausen fotografiert. Er legte die Aufnahmen übereinander, sodass sie auf einer Fläche von zwei mal zwei Metern zu einem einzigen Instrument verschmelzen, das die unterschiedlichen Skalen zwar diffus erahnen lässt, aber fast wie ein abstraktes Gemälde aussieht. „Die Überlagerung friert Geschwindigkeit und Zeit zu einem einzigen Moment ein“, sagt Salomé. Seine „Adrenalinkunst“, wie er sie nennt, findet Anerkennung: Seit kurzem vertritt ihn die Düsseldorfer Galerie Breckner. Die hat auch Tony Cragg und Jeff Koons unter Vertrag.
Auch Salomés jüngste Arbeit beschäftigt sich mit Porsche. Es ist ebenfalls eine Chronofotografie, nur dass er dafür 25 verschiedene Felgen auswählte. Von der schlichten, planen Radabdeckung des frühen 356 bis zu den Hightech-Designs neuer Modelle repräsentieren die Felgen ebenfalls fast ein Dreivierteljahrhundert Design-Geschichte von Porsche. Die übereinander gelegten Aufnahmen haben noch einen zusätzlichen Effekt: Sie wirken wie ein holografisches Bild. Beim Betrachten entsteht der Eindruck, als seien die Räder in rasender Bewegung – Salomés Thema.
Das Thema Porsche wiederum wird Salomé so schnell nicht loslassen. Die Skulptur, die den perfekten Drift nachstellt, möchte er mit anderen Materialien und neuen Farben gestalten und sich damit weiter auf dem Kunstmarkt etablieren. Am liebsten würde er sich dafür noch einmal neu inspirieren lassen – gerne wieder während einer aufregenden Rutschpartie im vereisten Lappland.
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche-Kundenmagazin Christophorus, Nr. 390