So viel Geheimniskrämerei war ungewöhnlich, sogar für Weissacher Verhältnisse. Mitarbeiter des Porsche-Entwicklungszentrums sind einiges gewohnt an Sicherheitsmaßnahmen; schließlich ist Weissach die Heimat rasanter Träume und Ideen. Doch im Sommer 2009 verschärften die Gralswächter die Sicherheitsmaßnahmen noch einmal. Alle Schlösser zur Werkstatt tauschten sie aus. Sogar der Werkschutz bekam nur einen Schlüssel, eingeschweißt in Plastik und nur für den absoluten Notfall.
Engineered in Weissach
Die Maßnahmen galten einem Objekt, das selbst für Sportwagen jeden Maßstab sprengt und unter Porsche-Enthusiasten Schnappatmung auslöst: dem 918 Spyder. So außergewöhnlich der Hybrid-Technologieträger auch ist – seine Herkunft hat er mit jedem anderen Porsche-Automobil gemein: „Engineered and designed in Weissach“.
Sei es für die Serie oder die Rennstrecke, in Weissach trifft sich die Elite der Fahrzeugsentwickler: Konzeption und Design, Interieur und Exterieur, Bau von Modellen und Prototypen, Prüfung von Aerodynamik und Elektronik, Abstimmung von Motoren, Lenkungen und Fahrwerken, Sicherheitstechnik, Crashtests, Soundlabor und Farboptimierung, das Messzentrum für Umweltschutz und natürlich die komplette Motorsport-Abteilung von Porsche – all das befindet sich im Entwicklungszentrum Weissach (EZW).
Rund 6500 Personen arbeiten in der Porsche-Traumfabrik – fast genauso viele, wie das Örtchen Weissach Einwohner hat. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Hier liebevoll renovierte Fachwerkhäuser und hübsche Reihenhäuschen, Blumengärten und schmale Gässchen wie aus einer anderen Zeit. Dort abgeschirmte Hightech-Labors, wo Porsche die Zukunft sportlicher Mobilität gestaltet – für die Straße und für die Rennstreckte. Wie kommt es, dass Ingenieurskunst von Weltniveau ihre Heimat in diesem beschaulichen schwäbischen Dorf gefunden hat?
Kleines Dorf mit großem Potential
Tatsächlich hatte Ende der 1950er-Jahre kein Weissacher mit einer solchen Entwicklung gerechnet. Es war der Zufall, der die kleine Gemeinde zum hellen Punkt auf dem Radar von Autoliebhabern weltweit machen sollte. Anfang des Jahres 1960 war Ferry Porsche auf der Suche nach einem geeigneten Gelände für ein Prüffeld. Für umfangreiche Praxistests brauchte er viel Platz – mehr, als ihm das damals schon dicht bebaute Zuffenhausen bieten konnte. Zumindest ein großzügig angelegtes Skid Pad sollte auf dem neuen Gelände entstehen. Diese Endloskurve, eine runde Asphaltfläche mit einem Durchmesser von knapp 200 Metern, wird für Fahrverhaltenstests und Feinjustierungen gebraucht. Von dieser Suche erfuhr auch der Porsche-Mitarbeiter Herbert Linge und empfahl seinen Wohnort, eine kleine Ortschaft, umgeben von viel freier, aber landwirtschaftlich nur mäßig nutzbarer Fläche: Weissach.
Ein heißer Tipp, denn der nur 25 Kilometer vom Zuffenhausener Stammwerk entfernte Ort erwies sich als bestens geeignet für Porsches Expansionspläne. Als Chefunterhändler mit den Bürgermeistern von Weissach und dem angrenzenden Flacht fungierte Ghislaine E. J. Kaes, der Privatsekretär von Ferdinand Porsche. Schnell war eine Einigung getroffen, und am 18. September 1960 ging die Genehmigung des Regierungspräsidiums bei der Firma Porsche ein. Schon ein Jahr später erfolgte der erste Spatenstich, und 1962 drehte der erste Porsche seine Runden auf dem Weissacher Skid Pad.
Von der Prüfstrecke zum Entwicklungszentrum
Mit der Erweiterung der Prüfstrecke und der weiteren Erschließung des Geländes zeigte Weissach sein ganzes Potenzial. Im März 1966 zog die gesamte Entwicklungsabteilung der Dr. Ing. h.c. F. Porsche KG von Zuffenhausen in den beschaulichen Ort um, Werkshallen und Bürogebäude entstanden auf dem Weissacher Gelände. Die Nähe zum Stammwerk war ein großer Vorteil; den Ausschlag gab allerdings der reichlich vorhandene Raum – für weitere Bauvorhaben und für die kreative Freiheit und Entfaltung der Entwickler. Am 1. Juli 1971 wurde das EZW feierlich in Betrieb genommen. Seither hinterlässt es tiefe Spuren auf Straßen und Rennstrecken: Mehr als 7000 Patente weltweit gehen auf das Konto der Porsche-Entwickler; jedes Jahr kommen gut 400 Anmeldungen hinzu.
Der erste Paukenschlag aus Weissach erreichte die Weltgemeinde der Automobilfreunde auf dem Pariser Autosalon 1974: Der 911 Turbo stellte alles in den Schatten, was die Sportwagenzunft bis dahin zu bieten hatte: 260 PS, aufgeladener Sechszylinder-Boxer, breite Karosserie und ein Heckspoiler so groß wie ein Esstisch. Das launige Biest sprintete in damals unglaublichen 5,5 Sekunden von 0 auf 100 km/h und erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h – so viel wie kein anderes deutsches Straßenfahrzeug. Fortan stand „Turbo“ nicht nur für die Leistungselite aus dem Hause Porsche. Sie begründete einen eigenen Mythos.
Seit den Anfängen des Entwicklungszentrums Weissach hat Porsche den Standort kontinuierlich ausgebaut. So wurden 1981 die Werkhallen auf 4000 Quadratmeter Nutzfläche erweitert, die Büros und Studios stetig vergrößert. Seit 1986 ermöglicht der Windkanal aerodynamische Messungen und Feinjustierungen in höchster Präzision. Die Installation einer werkseigenen Anlage für Crashtests und die Erweiterung des Prüfgeländes für Motoren und Aggregate gegen Ende der 80er-Jahre unterstreichen die Bedeutung Weissachs in der Welt von Porsche. Noch heute wächst das EZW.
Erst 2014 hat Porsche das bislang größte Entwicklungsprojekt in der Geschichte des Entwicklungszentrums abgeschlossen. Für rund 150 Millionen Euro hat das Unternehmen den Standort Weissach erneuert und nochmals um drei Gebäude erweitert: ein Design-Studio, ein Windkanal und ein Elektronik-Integrationszentrum.