Wenn Michael Mauer von seinem Schreibtisch aufschaut, sieht er nicht das, was Designer normalerweise sehen. Er sieht eine Staubwolke. Er sieht Berge. Er sieht eine abenteuerliche, nicht geteerte Schotterpiste, über die ein Porsche 356 bergaufwärts fährt. Michael Mauer sieht eine Fotografie, so groß wie eine Wand. Das Motiv wirkt, als könne man direkt hineinschauen in eine andere, vergangene Welt, in der das entstand, was man heute als die Porsche-DNA bezeichnet: der Markenkern – das, wofür Porsche steht, woran man sofort denkt, wenn man den Namen der Marke hört. Was zu sehen ist auf diesem Bild, das wie ein Motto, eine Erinnerung und Ermahnung in diesem Büro hängt, ist nicht das, was man mit einem Sportwagen normalerweise macht. Es ist etwas, was man, seit es ihn gibt, mit einem Porsche macht – oder machen kann. Denn seit 1948 der erste 356 auf die Straße kam, begeisterte die Kunden nicht nur die schöne, bald klassische Stromlinienform, nicht nur die Präzision, mit der die Technik die Form bestimmte – sondern auch die Fähigkeit des Autos, Abenteuer aller Art zu bestehen.
Das Bild ist ein imagetechnischer Geniestreich – denn der Porsche wird hier nicht nur als formschöner Sportwagen vorgestellt, sondern auch als ein Vehikel, das vor keinem Abenteuer, vor keiner verschneiten Piste kapituliert, das die Welt anders, intensiver erleben lässt und seine Fahrer – im Gegensatz zu anderen Sportwagen, die sich nur auf trockenen, glatten Teerstraßen bewegen lassen – ermutigt, sich auch jenseits der ausgetretenen Wege zu bewegen. Porsche-Design war von Anfang an mehr als Produktgestaltung; es ging auch darum, einen experimentierfreudigen Lebensentwurf zu ermöglichen, der auch einmal über Schotterpisten und Schnee führen darf.
Das Foto in Mauers Büro, das in den Fünfzigerjahren aufgenommen wurde, ist aber auch das Bild eines historischen Moments. Heute sind fast alle Straßen geteert, und auch sonst hat sich viel geändert – und es wird sich noch viel mehr ändern. Mit Digitalisierung, Elektrifizierung und Konnektivität steht das Auto vor dem größten Wandel in seiner Geschichte. Es sind spannende Zeiten eines so nie dagewesenen Umbruchs. Die Autos werden andere Antriebe haben, sie werden einander Signale senden, sie werden sich anders anfühlen. Auf lange Sicht werden die Verbrennungsmotoren, egal ob vorn, mittig oder hinten eingebaut, zu einer Ausnahmeerscheinung werden. Was bedeutet das für eine Marke, die auch und insbesondere für ihre Motoren berühmt war? Wie werden neue Antriebstechnologien das Design verändern? Das Layout von Elektroautos wird ja immer uniformer, knochenartiger – kurze Überhänge, vier große Räder, dazwischen ein langer überkuppelter Riegel für Batterien und Mitfahrer. Wie wird Porsche sich dieser Uniformierung entziehen? Was sind die Abenteuer, die Staubpisten der Zukunft, auf denen man neue, intensive Erfahrungen machen wird? Und wie können Ingenieure und Designer das, was den Markenkern und den Mythos ausmacht, in eine neue Form übersetzen und zwischen neuen ideologischen, technologischen und politischen Leitplanken hindurch in die Zukunft manövrieren?
Die Aussicht auf eine elektrifizierte Zukunft scheint im Porsche-Entwicklungszentrum in Weissach jedenfalls nicht für Panik zu sorgen, im Gegenteil. Die vier Männer, die dort zusammensitzen, wirken selbst geradezu elektrisiert von den Aufgaben, die man ihnen stellt. Es sind Michael Mauer, Chefdesigner bei Porsche und seit 2016 auch Leiter Konzerndesign der Volkswagen AG, Matthias Kulla, Leiter Projektkoordination Design Sportwagen bei Porsche, sowie die jungen Führungskräfte des Porsche-Designs: Peter Varga, geboren 1978 in Ungarn, Leiter Exterieur-Design, und Ivo van Hulten, geboren 1977 im holländischen Waalwijk, Leiter Interior-Design. „Was“, fragt Michael Mauer an diesem Morgen, als draußen die ersten noch getarnten Modelle des Mission E ihre Runden durch den Nebel drehen, der über den Wiesen und Wäldern der südwestdeutschen Schichtstufenlandschaft liegt: „Was bestimmt eigentlich das Sportwagenerlebnis, wie wir es heute wahrnehmen? Macht der Sound 90 Prozent aus oder nur zehn? In jedem Fall ist ein Sportwagen mehr als das Geräusch, das er macht. Es gibt das Thema Beschleunigung, es gibt die G-Kräfte, die Art, wie er um die Ecke geht. Ja, Porsche ist für seine Motoren berühmt – aber eben nicht nur für sie. Wir müssen überlegen, wie wir das, wofür unsere Marke steht, in die Zukunft übertragen. Wenn ich einen elektrischen Antrieb habe, heißt das nicht, dass ich keine Emotionalität entfalten kann. Das Fahrzeug, das wir gerade entwickeln, wird keinen Verbrennungsmotor haben, aber in allem anderen ein tausendprozentiger Porsche sein. Und: Auch ein Elektroauto hat Akustik!“
Aber wie entwirft man so einen tausendprozentigen Sportwagen? Was darf man ändern, was muss bleiben? Mit diesen Fragen musste man sich in Weissach schon vor der Elektro-Revolution befassen. Auf die Mitteilung, es komme bald ein neuer Porsche 911 auf den Markt, reagieren Fans der Marke ja seit jeher wie Menschen, deren Ehepartner ihnen mitteilen, sie wollten mal eine ganz neue Frisur ausprobieren: mit einer Mischung aus Neugierde, Spannung und Angst. Wenn sie dann das neue Auto zum ersten Mal sehen, gehen sie hektisch um den Wagen herum und schauen, ob die wichtigen Dinge noch da sind: das elliptische Seitenfenster, das Zündschloss links vom Lenkrad, der zentrale Drehzahlmesser …
Porsche-Designer haben einen Beruf, den man mit dem eines griechischen Tempelbauers vergleichen kann: Die bekannte Form mit Säulen und Tympanon muss erhalten bleiben; die Kunst liegt darin, den Urtyp so zu verwandeln, dass er mit neuen Proportionen überrascht und sich veränderten Bedürfnissen und Gegebenheiten anpasst. Wie hält man als Designer die Balance zwischen der Herausforderung des Neuen und dem Wunsch, etwas Klassisches und Identitätsstiftendes zu bewahren? In einer Zeit, in der zumindest der Motor eines Elektro-Porsche nicht mehr das Alleinstellungsmerkmal sein wird, das er zu Zeiten der unnachahmlichen Flat-Six-Boxermotoren einmal war, ist es vor allem ja das Design, an dem die Identität der Marke hängt, das den Mitarbeitern und all denen, die einen Porsche bauen, das beruhigende Gefühl gibt, eine auch ökonomisch erfolgreiche Legende fortzuschreiben. Wie geht man als Designer an diese Aufwertung des Designs heran? Und wenn Design mehr ist als die Kunst, ein Objekt mit einer schönen Hülle zu versehen: Worauf muss das Porsche-Design der Zukunft dann achten?
„Man kann das, was einen Porsche, überhaupt einen Sportwagen, begehrenswert macht, aufteilen in zwei Kategorien“, sagt Matthias Kulla. „Es gibt etwas fast Archaisches, das uns angeboren ist, und etwas Gelerntes, das sich ändern kann. Zum Gelernten gehört der Sound dazu; wir assoziieren heute mit Sportwagen leistungsfähige Motoren, und mit diesen Motoren eine vernehmbare Lautstärke. Das muss aber nicht immer so bleiben – genauso wie es früher einmal als männlicher galt, ein Auto mit nicht synchronisiertem Getriebe zu fahren als eins mit synchronisiertem; heute interessiert das niemanden mehr. Aber dann gibt es etwas Grundlegendes, das sich nicht ändert. Das ist der Drang, selbstbestimmt irgendwo hinzukommen, und wenn man will auch auf abenteuerliche Weise. Diesen Drang – ich bestimme, wo ich hinwill – jenseits aller gelernten Formen zu bedienen und weiter zu erforschen, ist das, was wir hier eigentlich machen.“ Und es ist vieles eine Frage von Hör- und Sehgewohnheiten. Ein Porsche stand im Vergleich zu zeitgenössischen Autos in den frühen Siebzigerjahren beeindruckend breit da und wirkte mit seinen Faltenbalg-Stoßstangen bullig. Der gleiche Wagen sieht heute im Vergleich zum deutlich kräftigeren Heck eines aktuellen 911 filigran, schmal und fast schüchtern aus. Die Form kann sich in ihrer Evolution massiv verändern. Wichtig, so die Überzeugung der Designer, ist es, die Essentialia zu erhalten.
Ein Porsche war immer ein Auto, das einen wachen Fahrer verlangte, „der sein Fahrzeug bewusst erleben will“, sagt Mauer. „Für viele sind das Assistenzsystem und der Anspruch, nicht nur Passagier im eigenen Auto zu sein, sondern es intensiv als Fahrer zu erleben, auf den ersten Blick ein Widerspruch. Ich frage dagegen: Wie kann ich die Systeme wie etwa das Head-up-Display, das zunächst mal der Sicherheit und dem Komfort dient, auch anders nutzen, beispielsweise auf der Rennstrecke, indem ich darüber die Ideallinie einblende. Oft ist Innovation vor allem auch das Neudenken und das Neurekombinieren von vorhandenen Sachen.“ Wir nehmen dem Fahrer das Lenkrad nicht aus der Hand, sagt Mauer. „Das sogenannte Level 5 – das Gefahrenwerden in einem Auto ohne Lenkrad – ist für Porsche nicht die Zukunft. Die Person im Fahrzeug muss immer noch die Entscheidungshoheit haben. Im Stau sind Assistenzsysteme angenehm, aber sie sollen vor allem auch die Fahrtätigkeit unterstützen, und der Fahrer darf bei uns, mehr als bei anderen Marken, selber entscheiden, ob er die Assistenzsysteme abschaltet oder nicht. Das sind Kleinigkeiten, mit denen man aber Markenidentität schafft.“ Design ist längst mehr, als einem Auto eine schöne Form zu geben; die ganze Marke muss gestaltet werden. „Es gibt Dinge, die erwartet werden von uns“, sagt Mauer. „Connectivity und Butler-Dienste sind ganz klar Qualifier für unsere Marke. Aber wenn Ihnen eine Business-Limousine anderer Marken die glatte, kurvenlose Straße auswählt, schlägt Ihnen unser Produkt eine Straße vor, die Spaß macht. Die Art des Angebots muss zur Marke passen – auch das ist Brand Building.“
Porsche ist zu einer Produktfamilie mit Sportwagen, Sportlimousinen, Roadstern, geländegängigen Wagen und bald E-Autos geworden, was die Designer vor neue Aufgaben stellt. Mauer unterscheidet Markenidentität und Produktidentität; alle Fahrzeuge müssen als Porsche erkennbar sein. Zur Familienähnlichkeit trägt ein bestimmter Körperbau – die ausgestellte Hüfte, die Fensterlinie – bei, die Produktidentität drückt sich etwa durch unterschiedliche Scheinwerfer aus; ein Macan schaut anders als ein 911. Die Spannbreite, welche die Produktgestalter zwischen dem Wunsch nach Komfort und Sicherheit und dem nach Freiheit, Lebensintensivierung und Selbstverantwortung bedienen müssen, zeigt sich ebenfalls an der aktuellen Modellpalette, in der man einen Panamera mit allen Assistenzsystemen findet, aber auch einen 911 R, den es nur mit Handschaltung gibt.
Wofür steht die Magie des Handschalters? Für das Direkte, die unmittelbare Kommunikation, die Synthetisierung des Körpers mit der Maschine. Ein Porsche – vor allem die offenen Roadster und Cabrios – waren auch immer Maschinen, mit denen man die Elemente Wind und Sonne sowie die Geschwindigkeit und Lenkkräfte im Wortsinn intensiver „erfahren“ konnte. „Aber diese Form von Erfahrung, das Leichte, Direkte, Anstrengungsfreie, das Porsche ausmacht“, sagt Mauer, „funktioniert mindestens genauso gut mit einem Elektromotor.“ Ivo van Hulten ergänzt: „Die Erinnerung ist ganz wichtig, aber auch die Frage, wie kann ich diese Erfahrung moderner und besser noch einmal fassen, wie kann ich sie intensivieren?“ Wenn aber das Porsche-Gefühl intensiviert werden soll, dann muss man wissen, woraus es besteht. Was genau macht es aus? „Man sollte“, sagt Peter Varga, „die Produkte nicht überzeichnen. Man sollte funktional bleiben und einen Wagen entwerfen, den man auch im Alltag bewegen kann, der keinen Zentimeter zu lang und nicht zu breit ist und auch in eine Tiefgarage passt. Man könnte jeden Porsche krasser oder expressiver gestalten – aber was die Marke ausmacht, ist das souveräne, geschlossene Auftreten eines Porsche.“ Spätestens mit dem 911 stellte Porsche 1963 einen Klassiker der schnörkellosen klaren Linie auf die Straße, der das Gegenteil der Haifischflossen-Exzesse und des rundlichen Autobarocks der Fünfzigerjahre war. Der erste Porsche 911 wurde im gleichen Jahr vorgestellt, in dem der legendäre Designer Dieter Rams seinen Braun-Kurzwellenempfänger T1000 und Mies van der Rohe seinen Entwurf für die Neue Nationalgalerie in Berlin präsentierten. Was alle drei Entwürfe verband, war ihre lichte, strenge Linienführung. Heute gilt er als der Klassiker des deutschen Automobildesigns schlechthin, als Ingenieurskunstwerk, das alles Überflüssige weglässt.
Gleichzeitig sollte man sich nicht täuschen lassen. Der Porsche 911 hatte der oft etwas trockenen Bauhaus-Schönheit anderer Klassiker einen ganz ungermanisch rasanten Hedonismus voraus: Schon das Greenhouse des 911, die Fahrerkabine und ihr elliptisch zulaufendes Seitenfenster, sind so schwungvoll gezeichnet, als ob der Stift des Designers selbst auf die Rennstrecke gewollt hätte – ohne dass je die Linie zwischen Dynamisierung und Überdrehung, Zerfall der Form, überfahren würde. Ein Porsche ist, formalästhetisch betrachtet, immer ein komplexes Gebilde, die Spannung liegt in der Intensivierung der Gegensätze. Dies erkennt man schon am Heck des aktuellen Elfers, dessen Rückleuchten eine Hommage an die feinen Rücklichter des Ur-Elfers sind. Was man da vor sich hat, ist eine feingliedrige, fast schmale, andererseits durchtrainierte und bullige Erscheinung. Beim aktuellen 991 wurde auch noch deutlicher herausgearbeitet, was ihn konstruktiv ausmacht: das Geduckte, die am Heckmotor konzentrierte Kraft, die Nine-Elevenness. Zwischen den breiten Kotflügelhüften, wo das Kraftzentrum des Autos sitzt, konzentrieren sich die Linien dagegen wie unter Hochspannung, über dem Motor werfen die Lufteinlässe kräftige Falten. Vorn dominiert dagegen die Ruhe einer weiten, leeren Fläche zwischen den auseinandergerückten Scheinwerfern. Vorn Satori (die asiatische Kunst der Leere), hinten Rock’n’Roll: Das Design drückt die konstruktive Eigenart des Heckmotor-Wagens aus.
Findet man diese Übersetzung eines Fahrerlebnisses in eine Form auch beim Mission E? Zunächst mal werden alle vier Räder extrem betont – die Fahrgastzelle scheint sich zwischen sie zu ducken. Dann die Scheinwerfergeometrie, an der sich, wie gesagt, die Produktidentität besonders manifestiert: Beim Mission E finden sich dort, wo sonst großflächig überglaste Scheinwerfer sind, Schlitze, die sich vom Stoßfänger an aufwärts ziehen und zum Teil Windeinlässe sind, an deren oberen Ende das Scheinwerferlicht herausscheint. So wird das dem Wind nahe, lautlos Schnelle des E-Antriebs in eine Frontgrafik übersetzt und nebenbei betont, dass Kühlung, anders als man denken mag, bei E-Autos eine ebenso große, wenn nicht größere Rolle spielt als bei Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor. Sogar die Frontscheibe erlaubt ein neues Fahrerlebnis. „Wenn da vorn nichts mehr drin ist“, sagt Kulla, „kann man die Scheibenwurzel absenken, wie beim Lamborghini Miura. Der war 1,03 Meter hoch und man schaute trotzdem auf die Haube. Das war sensationell. Das verändert die Wahrnehmung der Umwelt, sie kommt ins Auto, auch zwischen den dünnen A-Säulen wirkt das Außen näher, der Wagen offener.“ Und er wirkt dichter an der Straße, was eine neue Form jener Intensivierung des Fahrens wäre, die den Porsche-Entwicklern so wichtig ist. Der Mission E könnte damit auch einen Trend umkehren, der bisher wie eine Design-Einbahnstraße wirkte: dass die Fenster der Autos immer schießschartenartiger werden und sich die Kunden mit riesigen Glasschiebedächern vor der Klaustrophobie der fahrenden Grotten retten.
Aber könnte es sein, dass ein neuer Wagen zu futuristisch wird? „Die Frage“, sagt Mauer, „lautet immer: Wie weit kann ich gehen? Alles, was hier passiert, ist ja eine Wette auf die Zukunft. In der Modeindustrie wird heute entwickelt, was in drei Monaten gezeigt wird. Bei uns dauert es mindestens zwei bis drei Jahre vom ersten Strich bis zur Präsentation, und dann ist das Auto noch mal fünf bis zehn Jahre – und bei einem Porsche ja noch viel länger – im Straßenbild. Als Designer müssen wir den Stein deshalb ganz weit nach vorn werfen. Wenn ich ihn jedoch so weit werfe, dass ihn keiner mehr findet, habe ich vielleicht ein wegweisendes, tolles Produkt geschaffen, das man aber erst in 40 Jahren versteht – der Firma hilft das nicht unbedingt. Wir müssen die Menschen, deren Sehgewohnheiten sich allmählich verändern, mitnehmen.“ Deswegen geht man bei Porsche gewissermaßen eher evolutionär vor. „Wenn einer zu Porsche kommt, wird er nicht die Revolution vom Zaun brechen wollen“, sagt Kulla. Man habe bei der täglichen Arbeit immer ein „paar Skizzen dabei, wo man sagt, das wäre ein toller Lamborghini.“ Aber man übe sich auch in der Kunst von Dezenz und Zurückhaltung. „Die Proportionen müssen stimmen“, fasst Mauer zusammen „Wir fangen damit an, wie das Auto auf der Straße steht. Dann kommen Fragen der Markenidentität, gefolgt von denen der Produktidentität, schließlich kommen die Details; und optische Zurückhaltung ist Teil dieser Identität.“
„Ikonisches Design wird ja nicht durch Special Effects erreicht“, sagt Peter Varga. „Das kann man nicht planen, und wir müssen es auch gar nicht. Wir haben eine Marke, die sich als Markenidentität so stark entwickelt hat, wir brauchen keinen radikalen Schnitt. So radikal war übrigens das Design des 911 am Anfang auch nicht. Man hatte den 356 weiterentwickelt, klarer gemacht, aber der 911 hatte runde Scheinwerfer wie viele Autos. Neu war gar nicht so sehr die Form; neu war vor allem die Verbindung von Leistung, einer stimmigen Form und Alltagstauglichkeit. All das zusammen ergab eine Ikone, einen Klassiker.“ Wie wird sich ein 911 neben dem hypermodernen Mission E ausnehmen? Mauer lacht, wenn man ihn das fragt, und antwortet, ein Stück weit werde der 911 irgendwann einmal das sein, was ein Rennpferd sei. „Als Fortbewegungsmittel mag es einigen als veraltet erscheinen – aber beim Thema Emotionalität ist es unschlagbar.“
Diese Emotionalität wird nicht durch formale Kapriolen erreicht. Die Design-Abteilung von Porsche setzt im immer lauter werdenden Kühlergrillkonzert auf Ruhe. Wo andere Marken das Kühlermaul aufreißen, als ernähre sich der Wagen von unzerkleinerten Huftieren, wo sie wie Monster aus der Tiefsee auf die Straße starren, will man Konzentration, Zurückhaltung, nicht mehr Linien und Formen als nötig und angemessen. „In einer Zeit, in der moderne Videoclips und Kinofilme durch immer schnellere Schnitte Hektik und Action erzeugen wollen“, sagt Mauer, „liebe ich es, alte Filme anzuschauen mit ihren unglaublichen Längen – da ist eine hohe Kunst der Konzentration, des Sicheinlassens, der Präzision am Werk, und durch das Weglassen des Unnötigen entsteht eine große Freiheit.“
Ein paar dunkle, rauchige Töne darf, muss die Form, wie das Timbre einer Sängerin, also auch draufhaben. Doch das Porsche-Frontgesicht ist traditionell nicht darauf angelegt, die anderen Verkehrsteilnehmer zu erschrecken oder zu überrumpeln, sondern auf eine Form von Sozialverträglichkeit. Ein Käfer-Fahrer musste sich nicht gedemütigt fühlen, wenn ein 911 hinter ihm auftauchte – da kam nur ein schnellerer Verwandter, ein Objekt, das nicht auf Abschottung und Herabsetzung der anderen abzielt. Ein Porsche hat seine Wurzeln in der Populärkultur; sein Urahn ist, konstruktiv und auch ästhetisch, dem VW Käfer eng verwandt. Ist diese Nähe auch der Grund, warum unter allen Sportwagen der Porsche die höchste soziale Akzeptanz hat? Diese Ethik der Zurückhaltung und – bei aller Exklusivität des Produkts – Zugänglichkeit sei „wesentlicher Bestandteil der Markenidentität“, sagt Mauer. „Wenn Sie den – akustisch und optisch – lauten Auftritt wollen, ist Porsche die falsche Marke.“
Kulla erklärt: „Jeder Mensch lebt intuitiv so, dass er viele Glücksmomente erlebt. Und auch bei der Entscheidung für ein Auto will man sich gut fühlen. Und fühle ich mich gut, wenn mein Auto über 20 Liter verbraucht? Ein Mission E gibt mir ein fahrdynamisches Extremerlebnis – und trotzdem das beruhigende Gefühl, ein Stück Vernunft, Verantwortung, soziale Akzeptanz mitzukaufen.“ Die Geschichte von Porsche ist immer auch ein Wechselspiel zwischen Technik und gesellschaftlichen Entwicklungen. „Es gab und gibt“, sagt Mauer, „ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis. Man will geschützt sein in einer Umwelt, die ständig bedrohlicher wird.“
Oft prägt auch der Gesetzgeber das Design intensiver, als man denkt. „Erst gab es den Sicherheitsgurt“, sagt Ivo van Hulten, „dann kamen die Anforderungen für die Gestaltung der Fronthaube für den Fall einer Kollision mit Personen.“ Das Auto wurde nicht mehr vom Best-Case-, sondern vom Worst-Case-Szenario her entworfen, viele Details verdanken sich der Vorbereitung auf einen Crash. Jedes Auto fährt Hunderte von Kilo an Sicherheitstechnologie mit sich herum, für den Fall einer Kollision. „Wenn aber dereinst einmal alle Autos so vernetzt sind, dass sie sich erkennen und kommunizieren und Karambolagen unwahrscheinlich werden“, sagt van Hulten, „dann eröffnen sich auch für das Design eine ganz neue Freiheit und Leichtigkeit. Das wäre auch fürs Design ein Befreiungsschlag. Und nicht einmal Ampeln brauchen wir dann. Das Auto könnte seine Rüstung ablegen.“
Auf dem Weg dahin verschwimmen die Schnittstellen von Ingenieurskunst und Design immer mehr. Die „emphatische Kompetenz der Designer“, sagt Mauer, könne in diesem Prozess einen wesentlichen Beitrag leisten. Ein erstes Produkt der neuen Zeit wird der Mission E sein – an dem, verspricht Mauer, den Kunden nichts fehlen wird: „Dieses Produkt hat bis auf das Motorengeräusch alles, was einen Porsche ausmacht – und neue Dinge, von denen sie noch gar nicht wissen, dass sie es toll finden werden.“ Die Entspannung der Designer angesichts der Elektrifizierung eines Objekts, das von vielen für seinen Klang geliebt wird, mag auch damit zu tun haben, dass der Firmengründer Ferdinand Porsche schon ein ganzes Jahrhundert, bevor man im Silicon Valley überhaupt auf die Idee kam, Elektroautos gebaut hat.
Für den Wiener Kutschwagenfabrikanten Ludwig Lohner entwickelt er die elektrische „Voiturette Lohner-Porsche“, die im Jahr 1900 auf den Markt kam und durch je einen Innenpol-Elektromotor in den Radnaben der Vorderräder angetrieben wurde. Lohner ging davon aus, dass Verbrennungsmotoren sich nicht durchsetzen würden, weil sie zu viel Dreck machen, und die Zukunft dem elektrischen Wagen gehöre. Porsche entwickelte kurz nach 1900 – genauso wie er später den Käfer zum Porsche entwickelte – dieses Elektroauto weiter zum Sportwagen, baute vier Radnabenmotoren statt zwei an, stellte damit nebenbei das erste Allradauto auf die Straße und gewann damit prompt das Semmering-Rennen. Elektromotoren, Allrad – der neue Porsche Mission E verbindet Vergangenheit und Zukunft auf eine sehr spezielle Weise. Er ist nicht nur ein Vorgriff in die Zukunft der Marke, sondern auch ein Gruß tief hinein in eine über 100 Jahre zurückliegende Vergangenheit: Schon damals stand der Name Porsche für eine – zu jener Zeit ungeheuerliche – Vision vom elektrischen Fahren. Manche Ideen müssen eben etwas reifen, bis sie Form annehmen. Jetzt scheint ihre Zeit gekommen.
Info
Michael Mauer (geb. 1962) studierte Transportation Design an der FH Pforzheim und begann seine Karriere 1986 als Exterieur-Designer bei der Mercedes-Benz AG. 1998 übernahm er die Leitung des Mercedes-Benz Advanced Design Studios in Japan. Ein Jahr später wurde Mauer Designchef bei MCC Smart. 2000 wechselte er als Executive Director Design zu Saab. Seit 2004 ist Michael Mauer Chefdesigner der Porsche AG. Ende 2015 wurde er zusätzlich mit der Leitung des Konzernbereichs Design des Volkswagen Konzerns betraut.
Matthias Kulla (geb.1962) studierte Automotive Design am Royal College of Art in London und arbeitet seit 1989 als Designer bei Porsche. Sein erstes großes Projekt war der Porsche-Prototyp 989. Zwischen 2005 und 2014 war er für das Exterieur-Design aller Baureihen zuständig. Heute leitet Kulla das Design Management für die Sportwagen.
Peter Varga (geb. 1978) leitet seit 2016 das Exterieur-Design bei Porsche. Der gebürtige Ungar ist Absolvent der FH Pforzheim im Fach Transportation Design. Seit 2014 arbeitet er als Designer für Porsche. Das aktuelle Styling des Panamera, der 718-Baureihe sowie des 911 Carrera fallen in seine Verantwortung.
Ivo van Hulten (geb. 1977) studierte Industrial Design an der Design Academy in Eindhoven. Seine Karriere startete der Niederländer 2003 bei der Audi AG. Es folgten mehrere Jahre als Chefdesigner bei GM Europe Design Opel in Rüsselsheim. Seit 2014 leitet van Hulten das Interieur-Design bei Porsche.
Niklas Maak (geb. 1972) studierte Philosophie und Architektur in Hamburg und Paris. Er promovierte mit einer Arbeit zur Theorie der Formfindung im Fach Kunstgeschichte. Heute leitet er das Kunst- und Architekturressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Außerdem unterrichtet er als Gastprofessor Architekturtheorie in Harvard. Für seine Essays und Bücher erhielt er unter anderem den Henri-Nannen-Preis, den COR Preis, den Kennan Award und den Kritikerpreis des BDA.
Text erstmalig erschienen im Geschäfts- und Nachhaltigkeitsbericht 2017 der Porsche AG.
Text: Niklas Maak // Fotografie: Elias Hassos