London, Riverside, 22 Hester Road. Das Studio von Foster + Partners. 800 Architekten und Ingenieure, viele mit Kopfhörern auf den Ohren, sitzen in einem riesigen hellen Raum und haben durch deckenhohe Fenster freien Blick auf die Themse. Doch ihre Augen konzentrieren sich auf ihre Monitore. Hier, in dem hochmodernen Zeichensaal, entstehen Stadtteile der Zukunft. In einer Ecke stehen zwei junge Architekten, die Augmented-Reality-Brillen tragen. Mit ihren Augen durchqueren sie gerade virtuell ein Projekt in China. Im Gebäude nebenan erzeugen 3D-Drucker Häuser und Straßen im Maßstab 1:500. Der Mann, der das Modell eingehend betrachtet, heißt Michael Wurzel. Der gebürtige Nürnberger kam 1994 direkt nach seinem Studium in das Büro von Star Architekt Lord Norman Foster. Zuletzt leitete er die New Yorker Zweigstelle. Heute arbeitet er von London aus an einem Großprojekt in San Francisco.
Digitale Hilfsmittel gehören hier ganz selbstverständlich zum Alltag. „Die Architektur hat schon immer sehr schnell neue Technologien für sich entdeckt und angenommen“, so Wurzel. „Heute ist die Informationsdichte in unseren Entwürfen wahrscheinlich hundertfach höher als noch vor zehn Jahren.“ Digitale Planungssysteme für Gebäude beinhalten Codes für jedes noch so kleine Detail – bis hin zum Türgriff und den Scharnieren. Und die künstliche Intelligenz klopfe bereits an die Tür. „Wir sind durch Technologien sehr viel schneller geworden. Auf der anderen Seite gibt uns das auch die Möglichkeit, mal innezuhalten. Schließlich kommt die Kreativität, die man von uns Architekten erwartet, weiterhin nicht auf Knopfdruck.“
Was von Wurzels Team an der Themse erdacht wird, soll im Jahr 2022 in Kalifornien Realität werden. Wer dann in den Aufzug des Oceanwide Centers steigt, muss keine Tasten mehr drücken. Gesichtserkennungssoftware registriert die Bewohnerschon auf ihrem Weg durch die Lobby. Der smarte Aufzug weiß, wohin er jeden Einzelnen bringen soll. „Mobilität endet künftig nicht mehr am Eingang des Gebäudes“, sagt Wurzel. Um etwa die effektivste Platzierung einer Rolltreppe zu ermitteln, simulieren er und seine Kollegen Bewegungsströme mit modernsten Computerprogrammen. Solche Details sind ihm wichtig für ein durchgängiges Mobilitätserlebnis von Punkt zu Punkt, vom Verlassen der eigenen Wohnung bis zur Ankunft am Arbeitsplatz, Museum oder dem Einkaufszentrum.
Bei seinem Projekt in San Francisco steht Mobilität an erster Stelle. Es entsteht in unmittelbarer Nähe zum 2017 eröffneten Transbay-Bahnhof, San Franciscos wichtigstem Knotenpunkt für Pendler. Hier kommen sowohl der regionale Busverkehr als auch überregionale Züge an. Bis 2029 soll außerdem eine Hochgeschwindigkeitsstrecke den Bahnhofmit Sacramento, Los Angeles und San Diego verbinden. „Dieses neue Drehkreuz war eine Art Inkubator für das ganze Viertel“, so Wurzel.
Das Oceanwide Center wird San Francisco auf dem Weg zur Smart City voranbringen, da ist sich der erfahrene Architekt sicher. Die Stadt bietet beste Voraussetzungen für den Wandel. Man sieht es in den Straßen: Angezogen vom nahe gelegenen Silicon Valley leben und arbeiten hier besonders viele junge Gründer, Tekkies und Early Adopters. Hier begannen Pioniere der digitalen Transformation wie Airbnb und Uber ihre Erfolgsgeschichten. Autonome Fahrzeuge sind auf den Straßen der Fog City, der „Nebelstadt“, auch schon unterwegs.
Aber die so beliebte City by the Bay stehtauch unter enormem Druck, denn wenn sich nichts ändert, droht ihr der Kollaps. Es herrscht Vollbeschäftigung. Und immer mehr Menschen ergreifen die beruflichen Chancen, die ihnen die boomende Metropolregion Bay Area bietet. San Francisco erwartet für die kommenden zwei Jahrzehnte einen Anstieg der Bevölkerung um 25 Prozent. Jeden Tagkommen 50.000 Besucher in die 800.000-Einwohner-Stadt, hauptsächlich Pendler aus der Region.
„Es ist fast wie ein zweiter Goldrausch, ein Silicon-Rausch“, beschreibt Michael Wurzel die Situation. „Wir sind ja bei Weitem nicht die einzigen, die hier gerade bauen – es wird unglaublich viel geplant.“ Das liege an der hohen Lebensqualität der Metropole. Für den starken Anstieg von privaten Autos und zusätzlichem Lieferverkehr sind die schnurgeraden, aber ziemlich hügeligen Straßen, auf denen die Cable Cars aus der alten Welt verkehren, nicht ausgelegt. Wohnraum ist gefragt, aber rar. Und im Kampf um die besten Talente drängen die Unternehmen der Tech-Industrie mit ihren Büros in die Stadt.
Das Projekt von Foster + Partners wird Raum für beides schaffen. Es ist ein Gesamtkonzept für das Viertel South of Market, Ecke First Street und Mission Street, mitten in San Francisco. Auf 185.000 Quadratmetern mischen sich öffentliche Plätze mit neuen Hochhäusern und historischen Gebäuden, die renoviert werden. Das Herzstück: das Oceanwide Center. Nach seiner Fertigstellung im Jahr 2022 werden zwei Wolkenkratzer mehr als 125.000 Quadratmeter Fläche für Büros aus der Tech-Industrie und mehr als 60.000 Quadratmeter Wohnraum sowie ein Waldorf Astoria Hotel bieten. Wer ein Zimmer mit Aussicht sucht, hat hier gute Karten. Der höhere der beiden Türme wird mit 278 Metern das höchste Gebäude mit exklusiven Apartments an der gesamten US-Westküste werden.
„Wir bringen hier Leben und Arbeiten zusammen. Das entspricht genau den Bedürfnissen dieses Ortes und der Menschen hier“, sagt Wurzel. Das Oceanwide Center ist ein vertikales City- Quartier. Das Ungewöhnliche an dem Komplex: Das eigentliche Gebäude geht erst 25 Meter über dem Straßenniveau los. „Das Tragwerk, die Stützen und die Aufzüge reichen natürlich bis auf den Grund. Aber dazwischen gibt es einen sehr schönen, großen öffentlichen Raum.“ Die so entstehende Fußgängerzone schafft neue Verbindungen innerhalb der Downtown. „Dass mit neuen Gebäuden auch neue Plätze für die Öffentlichkeit geschaffen werden, hat in San Francisco Tradition. Und es ist sehr prägend für die Nachbarschaft und die Leute, die da arbeiten“, so Wurzel.
Das Konzept des Verschmelzens von Leben und Arbeiten setzt sich in den 68 Geschossen des Hochhauses weiter fort. Neben den Arbeitsplätzen bieten alle Etagen auch Gastronomie- und Freizeitangebote, wie eine Cafeteria oder einen Basketballplatz. „So entstehen Anreize, sich mit anderen Leuten über die Kernbeschäftigung hinweg auszutauschen. Diese soziale Komponente ist sehr wichtig. Viele in der Tech-Industrie legen genau darauf Wert. Gerade wenn Leute sehr fokussiert arbeiten, brauchen sie soziale Punkte, an denen sie mit anderen zusammenkommen, kommunizieren und sich Denkanstöße geben“, sagt Wurzel. Raum für Lebenskultur zu schaffen – das ist ihm wichtig.
Die Besonderheiten der Tech-Szene spielten eine große Rolle bei der Planung. „Ein Gebäude, in dem vor allem junge Leute sein werden, ethnisch sehr gemischt und eher leger – das ist etwas ganz anderes als etwa ein herkömmliches Hochhaus für eine Bank. Zum Beispiel erlauben inzwischen viele Unternehmen nach dem Vorbild von Google ihren Mitarbeitern, ihre Haustiere ins Büro mitzubringen. Und viele Leute könnten von zu Hause aus arbeiten, wollen aber einen Arbeitsort mit sozialer Komponente.“
Die neue Großstadtkultur – das ist zum Teil auch eine Rückkehr, zum Beispiel zur Beschaulichkeit. Nicht mehr der Verkehr, ob parkende Fahrzeuge oder Autokolonnen im Stau, bestimmen das Straßenbild, sondern Cafés und begrünte Ruhezonen. Der Berufstätige von morgen will Menschentreffen, kreative Ideen entwickeln, die Lebensqualität genießen. San Francisco ist mit seinen typischen Alleys wie geschaffen dafür. In diesen schmalen Gassen fahren schon heute meist keine Autos. Stattdessen breiten Cafés und Restaurants ihre Tische bis auf die Straße aus. Für Wurzel ist genau das ein Kennzeichen für die Stadt der Zukunft: „Als Stadtplaner versuchen wir, die Wiederentdeckung des öffentlichen Raumes zu unterstützen.“