Japan. Land der uralten Traditionen – und quietschbunten Anime-Pop-Kultur. Heimat internationaler Technologie-Giganten wie Sony und Nintendo – und das Land, dem wir „Takeshi’s Castle“ zu verdanken haben. Fünfzig Prozent aller Industrieroboter weltweit kommen aus Japan. Ein Land, in dem Senioren Apps programmieren, was auch Apple nicht entgangen ist.
Mit einer Einwohnerzahl von 9 Millionen ist Tokio fast dreimal so groß wie Berlin – und dank der vielen Hybrid-Fahrzeuge nicht einmal halb so laut. Toyota war weltweit der erste Fahrzeughersteller, der Hybrid-Fahrzeuge in Massen fertigte: allein auf japanischen Straßen rollen 4,9 Millionen davon. Smartphones sind solch ein fester Bestandteil des täglichen Lebens, dass die Japaner sie nicht mal beim Duschen aus der Hand legen möchten. Andererseits werden Zugfahrkarten noch immer auf Papier gedruckt und Sitzreservierungen häufig am Fahrkartenschalter getätigt.
Während meiner zweiwöchigen Reise durch Japan lernte ich „Nippon“, wie das Land auf Japanisch heißt, als ein Land der Gegensätze kennen.
Ein fortwährender Mix aus digital und analog
Gleichzeitig ist am Nebeneinander von alt und neu, schnell und langsam, digital und analog nichts Gegensätzliches. Vielmehr fühlt es sich wie eine vollkommen natürliche Entwicklung an, wie ein permanenter Beta-Status. Japan scheint ein fantastisches Rezept dafür gefunden zu haben, Gegensätze zu vereinen. Das hat mich zum Nachdenken angeregt: In Deutschland ist die Debatte über Digitalisierung und neue Technologien oft von der Angst vor Veränderung durchzogen und sogar entscheidend geprägt. Die Angst, dass die alten Werte durch neue hinweggefegt werden und das Traditionelle, Vertraute verloren geht.
„In Deutschland ist die Debatte über Digitalisierung und neue Technologien oft von der Angst vor Veränderung durchzogen.“ Mahdi Manesh
Die japanische Gesellschaft lehrte mich, dass moderne Entwicklung und Fortschritt nicht unbedingt mit radikalen Veränderungen aller Aspekte des menschlichen Alltags einhergehen müssen. Warum sonst reservieren die Japaner weiterhin ihre Sitze am Fahrkartenschalter? Ebenso wenig scheinen solche analogen Prozesse Überbleibsel längst vergangener Tage zu sein, betrachtet man die Anzahl japanischer Hightech-Maschinen, die fester Bestandteil unserer modernen Welt sind. So hat sich beispielsweise der gute alte Getränkeautomat in Japan zu einer sprechenden Verkaufsmaschine mit interaktivem Benutzererlebnis entwickelt.
Solche Alltagsbeobachtungen setzten einen Gedankenprozess bei mir in Gang, der auch nach meiner Rückkehr anhält. Deshalb möchte ich im Folgenden fünf zentrale Erkenntnisse und Überlegungen mit Ihnen teilen:
1. „Never change a running system“
Informationssysteme müssen eindeutig einen festgelegten Zweck erfüllen. Wenn ein analoger Prozess also effektiv und effizient ist, warum sollten wir ihn digitalisieren? Das soll nicht heißen, dass wir nicht alle Systeme auf den Prüfstand stellen und nach neuen Lösungen forschen sollten – nur kann das Forschungsergebnis eben auch lauten, dass es nichts zu optimieren gibt.
2. Machines are not humans — nor should they be
Maschinen und Automaten sind in Japan allgegenwärtig und es gibt sie in jeder Form und für jeden Zweck: von Drohnen und Wartungsrobotern über die weltbesten Massagesessel bis hin zu sprechenden Verkaufsautomaten. Nur sehr wenige von ihnen erinnern in ihrer Erscheinung an einen Menschen. Und trotzdem haben die Japaner keinerlei Berührungsängste – im Gegenteil: Sie haben sogar Spaß an der Interaktion mit diesen Maschinen. Letztendlich ist Akzeptanz vielleicht weniger eine Frage des Designs, sondern eher der Funktionalität und der Kultur, die unseren Umgang und unsere Interaktion mit Technologie im Alltag beeinflusst.
3. Clevere Anwendungen im Alltag erleichtern den Umgang mit Veränderung
Smart-Technologie macht den Japanern bereits heute den Alltag sowohl im eigenen Heim als auch am Arbeitsplatz leichter. Dies zeigt sich an einer Reihe von kaum wahrnehmbaren Anwendungsfällen, z. B. dem automatischen Öffnen und Schließen von Taxitüren. Die richtige Kombination aus moderner Hardware und Smart-Software kann auch dabei helfen, das Leben in einer hektischen Metropole wie Tokio ein wenig angenehmer zu gestalten. Sind es vielleicht genau diese unscheinbaren Vorteile der Automatisierung und Digitalisierung, die den Umgang mit Veränderung erleichtern?
4. Fortschritt und Tradition in perfekter Harmonie
Vor allem hat mir mein Besuch in Japan mehr als jede andere meiner Reisen gezeigt, wie Fortschritt und Tradition miteinander harmonieren können. Ich kenne das Konzept nur zu gut von meiner Arbeit im Porsche Digital Lab, wo wir den Hashtag „NextLevelGermanEngineering“ geprägt haben. Letztendlich haben wir damit genau das gemeint: die lange Tradition deutscher Ingenieurskunst, gepaart mit Innovation und Technologien von morgen.
Aber in so vielen Bereichen schenken wir diesem Ansatz in Deutschland keine oder zu wenig Beachtung. Viel zu häufig erliegen wir der den Deutschen offenbar ureigenen Angst, das eine würde das andere ersetzen. In Japan gehen alte Tempel und Teezeremonien mit Hybrid-Fahrzeugen und interaktiven Verkaufsmaschinen offenbar problemlos Hand in Hand. Und soweit ich sehe, funktioniert alles perfekt. Ich möchte dieser Geisteshaltung gerne folgen und ihre Prinzipien in meine Arbeit und meinen Alltag einfließen lassen.
5. Gesellschaftlicher Erfolg fängt beim Einzelnen an
Eine Sache beeindruckte mich mehr als alles andere in Japan – die Straßen Tokios sind pieksauber, obwohl nirgends ein Mülleimer zu sehen ist. Der Grund hierfür ist einfach: Japaner sind in Sachen Müll und Umweltverschmutzung sehr empfindlich, sodass deren Vermeidung ein persönliches Anliegen jedes Einzelnen ist. Daher nehmen die Tokioter ihren Abfall stets mit nach Hause, um ihn dort zu entsorgen. Das ist etwas, von dem wir lernen können.
vielleicht sollte man sich einmal die Korrelation zwischen der Zahl öffentlicher Papierkörbe und der Menge des Mülls im öffentlichen Straßenland ansehen … aber im Ernst: In Japan wird allgemein die Ansicht akzeptiert, dass sich scheinbar perfekte Prozesse immer noch weiter optimieren lassen und überraschende neue Lösungen gefunden werden können. Dieses Beispiel aus dem Alltag zeigt umso deutlicher, wie Einschränkungen (in diesem Fall Platzmangel) kreative Problemlösungen beflügeln können.
Und wem schon beim Gedanken an solche weit entfernten Kulturen das Heimweh quält, dem sei der Porsche Digital Lab Blog auf Medium ans Herz gelegt. Hier erfahren Sie, mit welchen Themen sich meine Kollegen während meiner Abwesenheit beschäftigt haben.