Auf Schatzsuche

Tief im Wald verborgen singt ein ganz besonderer Porsche sein raues Lied: Ein 911 R von 1968. Er ist eines von 19 Light-Weight-Modellen – dazu noch mit einmaliger, aber belegter Karosserie-/Motor-Kombination und Rennhistorie. Unter anderen Gérard Larousse saß einst hinter dem Volant. Das hier ist die erstaunliche Geschichte eines Schatzfundes.

In der Ferne klopft ein Specht, hämmert sein Lied in einen Baum. Das feine Echo hallt noch nach, während der Wind die Äste der kahlen Bäume hölzern hin und her schwingen lässt. Alles ist so still und friedlich hier in diesem Wald südwestlich der Metropole Brüssel. Das mechanische Geräusch eines sich drehenden Zündschlüssels durchbricht das Idyll. Eine Benzinpumpe sirrt, der Anlasser stemmt sich gegen den 10,5:1 verdichteten Motor, bringt die Kurbelwelle in Schwung. 66 Millimeter aufwärts, 66 abwärts, dann reagiert die Doppelzündung. Zeitgleich stellen die 46er IDA-Dreifachvergaser Benzin und Luft im offenbar richtigen Verhältnis zur Verfügung. Der zwei Liter große Saugmotor erwacht mit einem Gasstoß zu brüllendem Leben. Der moderne Edelstahl-Schalldämpfer sieht zweifelsohne gut aus. Seine technische Funktion ist hingegen umstritten. Einen Specht hört man nicht mehr, dafür einen 210 PS starken Porsche-Sechszylinder-Boxer – ungefiltert.

Es stellt sich Gänsehaut auf den Unterarmen ein. Der Sound ist phänomenal. So wie in den ersten Sekunden des Films „Grand Prix” von 1966, wenn die Kamera aus dem Schwarz des Auspuffrohrs herauszoomt. Kein Wunder, dass der Film damals unter anderem einen Oscar für den besten Ton bekommen hat. Und jetzt ist der Sound hier. Aber in Stereo. Und er lässt die Jeans vibrieren, scheint sich noch im Asphalt fortzusetzen, kriecht durch die Sohlen der Chucks in die Füße. Kobus Cantraine grinst und sagt – nein: schreit: „Den darf man eigentlich gar nicht verkaufen. Der ist zu schön, oder?” Dann tritt er aufs Gas, fegt an der Kamera vorbei. Ein Moment für die Ewigkeit, als die kleinen runden Rückleuchten hinter der Kuppe verschwinden, während das trockene kurze Echo des Boliden noch lange herüberdringt. Das also ist er: der Porsche 911 R mit der Fahrgestellnummer 11899016R, die Nummer 16 von 19 gebauten. 49 Jahre alt und kein bisschen leise.

Luxus eines Lightweight- Porsche 911 mit vielen Annehmlichkeiten des 911 S

Übrigens ziemlich genau 49 Jahre: Die Kardex-Karte belegt die Auslieferung an den Händler Sonauto/Paris am 9. April 1968. Der Abnahme-Bescheid durch den Kunden traf am 24. April bei Porsche ein. Der Erstbesitzer war die Firma „Le Danseurs”. Sie gehörte dem französischen Unternehmer und Rennfahrer Claude Ballot-Léna. So weit, so verständlich. Doch da sind noch weitere Vermerke in der Kardex-Kartei hinterlegt, handschriftlich. Der wichtigste: 170 PS. Das macht stutzig. Es hätten doch 210 PS sein müssen. Weitere Dokumente von Porsche zeigen: Der originale Motor Nr. 5080016 wurde bei Kilometerstand 40 entnommen und durch den Motor 961770 ersetzt. Lapidar heißt es: „Fahrzeug von Typ 911 R auf Typ 911 S umgebaut.” Die Kardex-Karte ergänzt: „S-Motor eingebaut, da 911 R nicht absetzbar waren”. Ballot-Léna leistete sich also den Luxus eines Lightweight- Porsche 911 mit vielen Annehmlichkeiten des 911 S, da er den Wagen im Straßenverkehr einsetzen wollte. Deshalb war sein „R” laut Kardex wie folgt ausgestattet: „innen ausgekleidet, Fußmatten, normaler Sitz re.”. Verrückt.

Wenn man bedenkt, dass ein 911 R damals rund 45.000 Mark gekostet hat – was fast doppelt so teuer war wie ein „normaler” 911 S. Aber so einen Wagen auch noch für 10.048,47 Mark direkt im Werk umbauen zu lassen? Wer bitte kommt auf so eine Idee? Offensichtlich nur Claude Ballot-Léna, denn von keinem anderen R ist so ein seltsamer Umbau bekannt. Mit rund 70 Kilogramm mehr Gewicht (gemessen mit Sicherheitsgurten und zehn Litern Benzin), aber einer Minderleistung in der Größenordnung eines kompletten VW Käfers wegen des Motor-Typs 901/02 kurvte der 911 R, Verzeihung: S, durch Bagnolet im Arrondissement Bobigny bei Paris. Aber schon im Juni verkaufte der Erstbesitzer den Wagen an Xavier Camprubi, einen Privat-Rennfahrer, der den Porsche so einsetzen wollte, wie es sich seine Erbauer gedacht hatten: bei Rennen. Und jetzt kam sie, die Rolle rückwärts: Camprubi ließ den Wagen von der Rennabteilung von Sonauto wieder zum R machen. Also alle Innenverkleidungen raus, alle Elemente eines Straßenwagens weg und dafür eine 911-R-Austauschmaschine Typ 901/22 hinein. Die Nummer des Aggregats: AT 961770.

911 R, 1968, 2017, Porsche AG
Der 991 R: gelbe Scheinwerfgläser mit glattem Glas oben

Somit wurden schon in den ersten Monaten seines Lebens viele Änderungen an diesem äußerst seltenen Porsche ausgeführt. Das machte es auch Kobus Cantraine schwer, dieses Durcheinander zu ordnen und zu prüfen, was da eigentlich vor ihm stand, als er den Wagen 2016 im restaurierten Zustand kaufte. War das nun wirklich Nr. 16? Oder hatte da jemand mit Leichtbauteilen aus zum Beispiel einen 912 einem 911 R gebastelt? „Ich habe keine Hinweise gefunden, dass es nicht der Wagen Nr. 16 ist”, erklärt er. Die Dokumente sprachen dafür. Außerdem zeigte das Magnetresonanz- Scanning eine blanke, nie bearbeitete Metallregion dort, wo ein normaler 911 seine VIN hat, und dort, wo die Fahrgestellnummer beim R hingehört, nur eine sauber eingeschlagene Nummer, so wie es Porsche gemacht hat. Auch andere schwer zu fälschende Details waren absolut korrekt.

Kein Zinn, keine Dichtmasse, keine Innenverkleidung

Warum die Zweifel? Einerseits ist es natürlich finanziell reizvoll, einen 911 mit durchaus erhältlichen Teilen zu einem „R” zu machen. Andererseits gibt es auch historische Fotos, die durchaus berechtigte Zweifel aufkommen lassen, ob dieser 911 R nicht schon in seiner Zeit als Rennwagen einen quasi nicht dokumentierten Karosserietausch vollzogen hat. Denn der wäre nach einem schweren Unfall bei der Rallye de l’Hérault mit Bernard Gnuva am Steuer durchaus denkbar gewesen. Auf allen historischen Fotos nach diesem Rennen wirkt das Heck deutlich breiter. Sind nur die Seitenteile ausgetauscht worden? Kobus Cantraine nickt: „Wahrscheinlich.” Als Indiz führt er an, dass auch nach dem Unfall die R-typische offene Schweißpunkt- Sicke unterhalb der Tür am Übergang vom Schweller zum hinteren Seitenteil sichtbar blieb.

An dieser und vielen weiteren Stellen hat Porsche Gewicht gespart. Kein Zinn, keine Dichtmasse, keine Innenverkleidung, Löcher gebohrt, wo immer es ging, leichte Materialien, dünnes Blech – ein „R” ist auch aus heutiger Sicht ein mit unfassbarer Akribie bearbeiteter 911. Die Rückleuchten gegen runde Hella- Lampen zu tauschen und auf GFK-Teile zu setzen, die man extra dafür anfertigte, nur um ein paar Gramm Gewicht zu sparen – das ist schon wirklich enorm. Die bei Baur gebauten 911-R-Karosserien waren an jeder Stelle optimiert. GFK-Bauteile, Aluminium, dünnes Holz, das an den Modellflugzeugbau erinnert, leichtere Armaturenbrettauflage, keine Blenden oder Stopfen in nicht benötigten Löchern für sonst serienmäßige Komfort-Goodies, Dünnglas, Plexiglas, Lederriemen statt Fensterkurbeln mit schwerem Scherenmechanismus, Zugseile statt Türgriffe innen, keine Sonnenblende rechts, keine Heizung – nichts. Nur 210 PS und 100 Liter Sprit.

Treibende Kraft hinter dem 911 R: Ferdinand Piëch

Als treibende Kraft hinter dem 911 R gilt heute vor allem Ferdinand Piëch. Im Sommer 1966 begannen die Arbeiten an einer Rallye-Version des gerade vorgestellten Porsche 901/911. Das Ziel war ein möglichst geringes Leistungsgewicht. Und so machte sich Rennsport-Experte Rolf Wütherich ans Werk und rechnete vor, dass bei einem Leergewicht von 800 Kilogramm 210 PS ausreichten, um ein Leistungsgewicht von unter vier Kilogramm pro PS zu erreichen. Die damalige Konkurrenz könnte man so um etwa 1,5 Kilogramm unterbieten. Solche Überlegungen waren notwendig, denn der Sportwagen- Hersteller Porsche brauchte Siegeslorbeeren, um auch weiterhin gute Verkäufe realisieren zu können. Und da zeigte sich, dass der neue 911 kein Selbstläufer war. Die hohen Entwicklungs- und Fertigungskosten hatten ihn zudem teuer gemacht – teurer als erwartet. Hier steuerte man bereits erfolgreich mit dem 912 gegen: Anfänglich wurden von der neuen „Dame” im Programm rund doppelt so viel Exemplare verkauft wie von dem neuen Spitzenmodell, das vom Marketing als neuer „SC” an den Mann und die Frau gebracht wurde.

911 R, 1968, 2017, Porsche AG
Detailaufnahme des 911 R

Dass ein 911 auch im Rennsport erfolgreich sein konnte, bewiesen zunächst eher die Privatfahrer als das Werk. Es musste also eine Rallye-Variante her. Den Technikern gelingt es mit Bravour, ein Fahrzeug auf die Räder zustellen, das tatsächlich nahe an die geforderten 800 Kilogramm Leergewicht herankommt. Der 911 S wird um gut 200 Kilogramm abgespeckt. Zum zweiten großen Betätigungsfeld wird der Motor. Als Basis sollte der 901/22 dienen, der in ähnlicher Form bereits erfolgreich den Carrera 6 befeuerte. Doppelzündung, Titan-Pleuel, drehfest bis jenseits der 8.000er Marke – das reichte für den Sprint von null auf 100 in unter sechs Sekunden und den stehenden Kilometer in etwas über 24 Sekunden.

Rekordfahrt im Herbst 1967 im 911 R

Neben der Schnelligkeit war Porsche besonders wichtig zu zeigen, wie zuverlässig der Motor ist. Deshalb beraumte man eine Rekordfahrt im Herbst 1967 an, die eigentlich mit dem Carrera 6 hätte bestritten werden sollen. Doch der liegt in den Steilkurven von Monza zu tief und setzt hart auf. Stattdessen fahren Jo Siffert, Rico Steinemann, Charles Vögele und Dieter Spoerry eben im 911 R, der nur wenig abgeändert wird. Er übersteht 20.000 Kilometer Vollgas, stellt fünf neue Weltrekorde auf, erringt 14 internationale Klassensiege und erreicht ein Kilometerstunden-Mittel von über 200.
Auf ewig in die Hall of Fame der Rennwagen fährt der 911 R dank Gérard Larrousse. Er ist es, der im Jahre 1969 gleich zwei wichtige Siege auf dem Wagen mit der Fahrgestellnummer 5 erringt. Zunächst holt er bei der Tour de France für Automobile vom 18. bis zum 26. September den Gesamtsieg und dann vom 8. bis zum 9. November den Gesamtsieg bei der Tour de Corse. Der hier von ihm gefahrene 911 war einer von zwei „R” mit DOHC-Motor und 230 PS. Der Wagen steht heute in der Collier-Sammlung in den USA.

In Vorbereitung auf diese Rennen stieg Larrousse aber zunächst in einen anderen 911 R ein. Nämlich in diesen – und zwar mindestens ein Mal offiziell: bei der Ronde Cévenole am 7. und 8. Juni 1969. Seine Rundenzeiten waren beachtlich. Er lag immer auf dem zweiten Platz, eine knappe halbe Minute hinter dem Führenden, Giunti auf einem Alfa Romeo 33/2 Prototipo. Bei Rundenzeiten um 3 Stunden 15 und 3 Stunden 20 nicht eben viel. Doch in der neunten Runde – der vorletzten – brach in der kleinen Verbindungsstraße vor der Start-/Zielgeraden der Achsschenkel vorn rechts. Somit war das Rennen gelaufen – zum Glück ohne größere Schäden an Fahrzeug und Fahrer. Man sieht auf einem Foto, dass in der achten Runde ein kleinerer Unfall passiert sein muss: Kratzspuren am Stoßfänger, ein abgeklebter Scheinwerfer und ein schräg stehendes rechtes Vorderrad sprechen eine deutliche Sprache. Hier dürfte der Grund für den späteren Ausfall liegen.

Eine sensationelle Story

Xavier Camprubi, der Larrousse seinen Porsche für dieses Rennen überlassen hatte, dürfte nicht so glücklich darüber gewesen sein. Doch wie schon gesagt: Es sollte nicht der letzte Schaden bleiben. Camprubi ließ den Wagen 1970 werksüberholen und verkaufte ihn an Bernard Gnuva, damals 24 Jahre alt. Der Heißsporn hatte dann den schweren Unfall mit dem Wagen, der danach Metalltüren und breitere hintere Kotflügel erhielt. Von 1973 an wurde der 911 R Nr. 16 als Straßenwagen von Jean Gonçalves, dann von Raymond Touroul und schließlich von Jean-Pierre Bodin eingesetzt, ehe er in eine private Sammlung kam und restauriert wurde. Larrousse sah „seinen” ersten 911 R 2016 wieder und signierte ihn. Erst danach erhielt der Wagen von Kobus den „Larrousse-Look”. Ein herrlicher Porsche! Zweifellos. Und eine wirklich sensationelle Story.

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