Eine kleine Seilbahn, eine von vielen, führt aus der lebhaften, dicht bevölkerten Ebene, die vom Jangtsekiang-Fluss zerschnitten wird, hoch ins Reich der Winde. Sie trägt die Passagiere über steil abfallende Schluchten und dunkle, dicht bewaldete Hänge, die im Gegenlicht wie chinesische Gemälde aus Licht und Schatten erscheinen. Die Gondel bringt Wanderer und Tagestouristen hoch auf 1.300 Meter. Mit jeder Sekunde ein Stück näher an das strahlende Licht der Sonne. Sie ist die bequemste Verbindung zwischen Tal und Gipfel und der Garant dafür, dass kein Besucher länger als gewünscht im Reich der Geister bleiben muss. Denn die Bergkette Huangshan, die Gelben Berge, ist eine Naturkulisse von ewiger Schönheit – aber auch seit Jahrtausenden ein Ort der Gespenster. So will es die Legende. Und so wollen es die Touristen. Ein harmloser Nervenkitzel als zusätzlicher Reiz.

In den Huangshan-Bergen mit dem Macan


In die sich öffnende Tür der Seilbahn flutet ein eiskalter Wind, greift nach den Jacken und Haaren der Passagiere. Die Höhenluft ist wunderbar klar, sanft und immer in Bewegung. Bei ihrem Tanz zwischen den Gipfeln intoniert sie eindrucksvolle Gesänge. Talbewohner schreiben diese dem Spuk verstorbener Vorfahren zu. Unten am Jangtse weiß man genau, dass Geister die Freiheit der Gipfel suchen. Doch hier oben erkennen Besucher schnell, dass Kiefern, Tannen, Ginkgobäume und unzählige abstruse Felsformationen jene Instrumente sind, auf denen der Wind seine Melodien orchestriert. Die Klänge sind nicht immer harmonisch: Ein schrilles Jaulen wechselt plötzlich zum leisen Säuseln. Das rhythmisch anschwellende und wieder abklingende Grundrauschen wird an einem Felsvorsprung von einem Pfeifensolo überlagert. Und wenige Schritte weiter dominiert ein tief frequentes Brummen die Klangwelt der Gelben Berge. Geistreiche Mystiker haben für jedes dieser Naturphänomene eine spirituelle Erklärung parat. Doch auch für Agnostiker ist das hörbare Naturerlebnis überwältigend.

Kurvenband parallel zur Autobahn

Die Gelben Berge sind ein Naturpark in der südöstlichen Provinz Anhui. Er umfasst 72 Gipfel mit mehr als 1.000 Meter Höhe. Der höchste Punkt mit dem Namen „Lotusblüte“ erreicht exakt 1.864 Meter. Die UNESCO hat die Gebirgslandschaft zum Weltkulturerbe erklärt. Das 154 Quadratkilometer große Gebiet liegt nur fünfeinhalb Autostunden von Shanghai entfernt. Mit seiner Mischung aus subtropischem Naturparadies und typisch chinesischer Ausflugskultur ist der Naturpark ein beliebtes Ziel, um der Millionenmetropole für ein paar Tage zu entfliehen.

Der Weg in die Huangshan-Berge führt zunächst durch den Shanghaier Stadtteil Songjiang, anschließend auf die moderne Autobahn Richtung Westen. Wer es idyllischer und zugleich dynamischer wünscht, wählt das parallel laufende Kurvenband der Landstraße. Ausgangspunkt der Wanderung durch den Naturpark ist die kleine Stadt Tangkou. Fast im Minutentakt starten Busse zu den Gelben Bergen. Ihr Ziel ist die Talstation der Seilbahn. Wer die Gondelpartie wegen der schwindelerregenden Höhe scheut, kann den Aufstieg auch zu Fuß bewältigen. Auf zuweilen steilen Wegen dauert der Marsch ebenso lange wie die Anreise aus Shanghai – rund sechs Stunden.

60.000 Stufen im Fels

Oben angekommen, erwartet den Besucher eine pittoreske Mischung aus ewiger Natur und buntem Spektakel. Einsamkeit ist dort nicht erste Prämisse, sondern Gemeinschaft. Untermalt von den Klängen der Winde, verstärkt durch die vermeintlich mystische Kraft der Geister, sind die Besucher gern in größeren Gruppen unterwegs. Alle Wege sind komfortabel gepflastert und stark frequentiert. Die viel beschworene Anwesenheit verwandter Seelen gilt Einheimischen ebenso wie Touristen als Verpflichtung, deren Welt allen zugänglich zu machen, vor allem den nachfolgenden Generationen. Im Buddhismus hat der Glaube an Wiedergeburt eine große Bedeutung. Dabei ist auch das Thema Karma sehr wichtig, denn wer Gutes tut, der wird belohnt.

Diese positive Haltung zeigt sich in der Harmonie zwischen Mensch und Natur. Deshalb führen zahlreiche Wege, darunter wunderbar abenteuerliche Passagen an den Felswänden, durch das Labyrinth der Berge, inklusive einer Fülle an Brücken und Tunneln sowie mehr als 60.000 Treppenstufen. Die ältesten der Bergwege sollen bereits vor mehr als 1.500 Jahren angelegt worden sein. Weil sie auch Kindern und Älteren den Besuch erlauben, ziehen die Gelben Berge jedes Jahr rund 15 Millionen Menschen an.

Viele Gäste bleiben über Nacht und wohnen in schlichten Berghotels. Da die Seilbahnen dem Transport der Besucher vorbehalten sind, wird die Versorgung der Hotels auf traditionellem Weg sichergestellt: Tag für Tag sind Lastenträger bergauf und talwärts unterwegs. Sie schleppen Lebensmittel, Baumaterial und Gepäck, zuweilen schaffen sie auch erschöpfte Touristen hinauf – in Sitzen, die an Tragestangen befestigt sind. Bauern aus dem Tal, so heißt es, verdienen sich auf diese Weise ein Zubrot. Das rhythmische Klacken der Schuhe von Dutzenden Trägern um einen herum mischt sich beim Anstieg mit den Gesängen des Windes.

Huangshan-Berge, China, 2017, Porsche AG
Das Huangshan-Gebirge gehört zu den wichtigsten Touristenzielen Chinas

Oben unter dem weiten Himmel schafft das Licht minütlich wechselnde Farbenspiele im Meer der Blätter und auf der rauen Oberfläche skurril geformter Felsen. Spektakulär ist der Wechsel von immer wieder neuen, atemberaubend schönen Ausblicken. Am imposantesten präsentiert sich das Bergpanorama bei Sonnenaufgang oder in der Dämmerung. Und natürlich wenn dramatische Wolkenformationen von einem heraufziehenden Gewitter künden. Dann fühlt sich der Betrachter an James Camerons Kinofilm Avatar – Aufbruch nach Pandora erinnert, an die sogenannten Halleluja-Berge, denen Huangshan als Vorlage diente. Man muss kein Mystiker sein, um aus dem Gesang des Windes hin und wieder den Flügelschlag der Ikran herauszuhören – jener geflügelten Fabelwesen, die Camerons Protagonistin, die blauhäutige Kriegerin Neytiri, mit gewagten Flugmanövern durch die Hollywood-Produktion tragen. Tatsächlich sollen die Huangshan-Berge Cameron zu den schwebenden Bergen von Pandora inspiriert haben. Auf einer Aussichtsplattform mit dem Namen „Wo der Affe die Sonne jagt“ glaubt man, Camerons Bergen ganz nah zu sein – vielleicht auch deshalb, weil ein Schild den Besucher auf die Ähnlichkeit der Szenerien hinweist. Die Gipfel scheinen über den Wolken zu schweben wie über einem Meer, das keine Strände hat.

Einklang mit der Natur

Schon seit Urzeiten beflügeln die Kraft und Schönheit des Yishan, wie die Bergregion bis zum Jahr 747 hieß, die Fantasien von Künstlern. Chronisten berichten von Huangdi, dem Gelben Kaiser, der hier vor mehr als 4.000 Jahren gelebt haben soll. Huangdi wird wegen seiner Verdienste um die chinesische Medizin verehrt. Seit die Huangshan-Berge seinen Namen tragen, sollen sich die guten Geister die Gipfel zu eigen gemacht haben. Die Kulisse dient als Vorbild für chinesische Künstler, die mit feinem Pinselstrich ganz in der Tradition der klassischen Landschaftsmalerei ihre Bilder entstehen lassen – den Blick auf das Panorama der Gelben Berge gerichtet.

„Szenen der Huangshan-Berge erfreuen sich im neuen und sehr schnelllebigen China zunehmender Beliebtheit“, weiß Yang Songyuan. Der Pinselmacher wird von den einheimischen Malern wegen der Qualität seiner Ware geschätzt. Seine Kunstwerke für Künstler sind wahlweise aus Ziegen- oder Kaninchenhaar gefertigt. In traditioneller Handarbeit werden die Tierhaare mit dem Bambusstiel verbunden. „Zehn Pinsel pro Tag“, sagt Yang stolz. „Und“, verrät er, „wir haben sogar Kunden in Übersee.“ Künstler Li Zhigung erzählt, dass Tiermotive, insbesondere Pferde im Stil von Malern der Tang-Dynastie, heutzutage gern von Automobilmarken in China in Auftrag gegeben werden. „Landschaften sind wiederum bei Privatkunden sehr beliebt“, spannt er den Bogen zu den vor ihm liegenden Erinnerungsmotiven der Huangshan-Berge.

Die Vorliebe zeugt von einem Publikum, das sein Alltagsleben zwar zunehmend in Smartphones speichert, mit der Natur aber nach wie vor in tiefer Verbundenheit lebt. Deshalb ist das „Reich der Winde“ über dem „Meer ohne Strand“ für viele Chinesen auch heute noch das Zentrum der Welt. Eine Inschrift an der Talstation der Seilbahn verkündet: „Wer die Gelben Berge gesehen hat, braucht kein anderes Gebirge mehr zu besuchen.“

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