Das Ziel ist der Weg: präzise Streckenmodelle für Kunden

Virtuelle Absicherungen werden immer wichtiger, etwa um Fahrerassistenzsysteme oder vernetzte Fahrfunktionen entwicklungsbegleitend zu testen und abzusichern. Voraussetzung dafür sind Streckenmodelle, die Porsche Engineering mit einer eigenen Ende-zu-Ende-Toolkette für Kunden erstellt. Dahinter steht ein komplexer Prozess, für den gängige Kartendaten keineswegs ausreichend sind.

Bevor der neue Porsche Cayenne im April letzten Jahres vorgestellt wurde, hatte der Prototyp schon vier Millionen Testkilometer absolviert. Doch das waren nur die Fahrten auf echten Straßen und Geländestrecken – ohne die simulierten Tests: Mittlerweile kommen auf jeden realen Testkilometer mehr als 1.000 Kilometer, die im Computer gefahren werden. Die Ingenieure kreieren dafür einen Digitalen Zwilling des Fahrzeugs, der sich bei virtuellen Probefahrten in einer Simulationsumgebung am synthetischen oder hybriden Prüfstand (SiL, HiL, ViL) bewähren muss – vor allem in Situationen, die real nur selten auftreten oder zu gefährlich sind, um sie real zu testen: Wie reagiert zum Beispiel der Abstandstempomat, wenn sich direkt hinter einer Kurve ein Wildschwein auf der Fahrbahn befindet?

Gerade für die Absicherung von Fahrerassistenzsystemen und hochautomatisierten Fahrfunktionen ist es unerlässlich, solche sogenannten „Corner Cases“ in unzähligen Varianten und mit unterschiedlicher Kritikalität durchzuspielen. Dadurch wird eine Ressource immer wichtiger: virtuelle Straßen und Umgebungen.

Tille Karoline Rupp, Leiterin der Fachdisziplin Simulation bei Porsche Engineering, 2024, Porsche AG
Tille Karoline Rupp, Leiterin der Fachdisziplin Simulation bei Porsche Engineering

„Jede Funktion, die durch eine Simulation abgesichert werden soll, braucht ein Streckenmodell – einen Digitalen Zwilling von Straße und Umgebung“, erklärt Tille Karoline Rupp, Leiterin der Fachdisziplin Simulation bei Porsche Engineering. Früher wurden solche Strecken oft manuell erstellt, doch auf diese Weise lässt sich der steigende Bedarf nicht decken – schließlich müssen auf dem Weg zum autonom fahrenden Auto viele Milliarden Testkilometer gefahren werden. „Ein hoher Automatisierungsgrad ist entscheidend“, so Rupp. Porsche Engineering hat eine eigene Ende-zu-Ende-Toolkette entwickelt, um aus verschiedenen Rohdaten – nahezu ohne manuelle Eingriffe – virtuelle Teststrecken zu erstellen.

Ausgangsmaterial für die Streckenmodellierung sind zum Beispiel hochauflösende Karten von Zulieferern oder Messfahrten, die Porsche Engineering selbst mit seinen JUPITER-Versuchsfahrzeugen durchführt (die Abkürzung steht für „Joint User Personalized Integrated Testing and Engineering Resource“). Karten von öffentlichen Diensten wie Google Maps sind für die Streckenmodellierung ungeeignet. „Wir gehen manchmal bis auf die Millimeter-Ebene hinunter und benötigen Informationen über Spur- und Fahrbahnbreite sowie dreidimensionale Querneigungen“, sagt Tobias Watzl, Entwicklungsingenieur und verantwortlich für die Streckenmodellierung. Da sich die Datenbasis von Land zu Land unterscheidet, ist eine lokale Präsenz mitunter unverzichtbar. In China zum Beispiel gelten spezielle gesetzliche Vorgaben bei der Erfassung von Streckendaten. Dank seiner Teams in Shanghai und Peking kann Porsche Engineering einzelne Projektumfänge vor Ort übernehmen – immer in Zusammenarbeit mit den Experten an anderen Standorten.

Schrittweiser Aufbau der Strecke

Im ersten Schritt wird aus dem Kartenmaterial ein logisches Modell der Straße abgeleitet. Es beschreibt ihren Verlauf analog zu den Straßenbaurichtlinien mithilfe mathematischer Formeln, meist Polynomgleichungen. Abgespeichert wird das logische Straßenmodell als Asam OpenDRIVE ®- Datei – ein Format, das die Standardisierungsorganisation Asam e. V. (Association for Standardization of Automation and Measuring Systems) verwaltet und weiterentwickelt.

„Wir gehen manchmal bis auf die Millimeter-Ebene hinunter und benötigen Informationen über Spur- und Fahrbahnbreite sowie dreidimensionale Querneigungen.“ Tobias Watzl, Entwicklungsingenieur bei Porsche Engineering

Im zweiten Schritt wird ein dreidimensionales Modell der Straße erzeugt – also eine visuelle Repräsentation, die sich nicht nur am Bildschirm betrachten lässt, sondern auch mit Sensormodellen interagieren kann. Diese virtuelle Teststrecke lässt sich beliebig verändern, Auffahrten können hinzugefügt oder unendliche Rundkurse erschaffen werden. Generische Strecken, die kein Vorbild in der Realität haben, werden zudem an die zu testende Fahrfunktion angepasst. Geht es zum Beispiel um einen Algorithmus zur Verkehrszeichenerkennung, stellt man entlang der Strecke zahlreiche verschiedene Schilder auf.

Tobias Watzl, Entwicklungsingenieur bei Porsche Engineering, 2024, Porsche AG
Tobias Watzl, Entwicklungsingenieur bei Porsche Engineering

Alternativ können die Ingenieure auch reale Strecken nachbilden – etwa die A8 von Stuttgart nach München. Solche sogenannten georeferenzierten Strecken werden zum Beispiel benötigt, wenn die zu testende Funktion eine interne Karte nutzt. Das 3D-Modell beschränkt sich zunächst auf die Straße. Doch um kamerabasierte Funktionen wie die Spurerkennung optimieren zu können, muss die digitale Strecke wie in der Wirklichkeit aussehen. Dafür erhält sie eine virtuelle Umgebung. Porsche Engineering hat dafür die 3D-Grafiksoftware Houdini in seine Pipeline integriert, die auch in der Filmindustrie verwendet wird. Damit lassen sich zum Beispiel realistisch aussehende Bäume oder Häuser entlang der Strecke generieren. Die Informationen darüber, wo sich welche Objekte entlang der Straße befinden, stammen unter anderem vom offenen Kartendienst OpenStreetMap (OSM).

Eine fotorealistische digitale Straße zu erschaffen, ist allerdings aufwendig. „Wenn alle Eingangsdaten stimmen, sind für ungefähr zehn Kilometer eine Stunde Rechenzeit nötig“, berichtet Watzl. Dabei müssen die Ingenieure einen Spagat schaffen: Das Streckenmodell braucht ausreichend Details, um die jeweilige Fahrfunktion sicher überprüfen zu können, darf aber nicht zu groß werden, weil es sonst unter Umständen zu viel Rechenleistung erfordert. Damit die Simulation am Schluss flüssig läuft, lässt man zum Beispiel weit entfernte, nicht relevante Objekte weg oder vereinfacht ihr Aussehen stark.

Automatisierte Toolkette entwickelt

Entscheidend für die effiziente Streckenmodellierung ist ein möglichst hoher Automatisierungsgrad. Deshalb hat das internationale Team von Porsche Engineering eine eigene Ende-zu-Ende-Toolkette entwickelt: Alle Schritte von den logischen Streckendaten bis zum fertigen 3D-Modell mit Umgebung laufen automatisch ab. Dafür ist viel digitale Intelligenz nötig: Angenommen, das logische Streckenmodell zeigt keinerlei Steigung an, in den Höhendaten des Bodens sind jedoch 70 Meter verzeichnet, muss der Algorithmus erkennen, dass sich an dieser Stelle ein Tunnel befindet, und dem 3D-Modell eine passende Tunnelröhre hinzufügen.

„Wir brauchen gemeinsam definierte Qualitätsanforderungen, um die besten verfügbaren Tools zu einer zuverlässigen Toolkette verbinden zu können.“ Marcel Langer, Product Owner Simulation and Testing bei Cariad

Eine große Rolle spielt auch die Qualitätssicherung und Nutzung der Daten in verschiedenen Simulationsumgebungen ohne große Anpassungen. „Wir überprüfen die Daten semantisch hinsichtlich der Fahrbarkeit, Importierbarkeit und Standardkonformität“, betont Rupp. Automatisch erkannt werden müssen zum Beispiel Sprünge in der Straßengeometrie, die aufgrund von Messfehlern entstehen können. Neben Befahrbarkeitstests in den jeweiligen Simulationsumgebungen wird ein Qualitätsüberprüfungstool von Cariad genutzt. Damit wird überprüft, ob eine Asam OpenDRIVE®-Datei standardkonform ist und sich problemlos in der gewünschten Simulationsumgebung verwenden lässt.

Marcel Langer, Product Owner Simulation and Testing bei Cariad, 2024, Porsche AG
Marcel Langer, Product Owner Simulation and Testing bei Cariad

Gemeinsam mit Cariad und Asam hat Porsche Engineering eine Initiative gestartet, die die Austauschbarkeit der Standards und ihre Überprüfung ermöglichen will. Im hieraus entstandene Projekt „Asam Quality Checker“ wird gemeinsam mit weiteren Projektpartnern als wichtige Grundlage zur Verbesserung der Austauschbarkeit von Standards ein Überprüfungsframework entwickelt werden. „Skalierbare Simulationslösungen kann es nur mit Standards geben, die einheitlich interpretiert und implementiert werden“, betonen Marius Dupuis, Vorstandsvorsitzender (CEO) von Asam, und Technikvorstand (CTO) Ben Engel. „Ohne Standards ist die Welt unbeschreiblich.“ Diese Einschätzung wird von Anwenderseite bestätigt: „Zusätzlich zu den Standards brauchen wir gemeinsam definierte Qualitätsanforderungen, um die besten verfügbaren Tools zu einer zuverlässigen Toolkette verbinden zu können“, sagt Marcel Langer, Product Owner Simulation and Testing bei Cariad. Bei der modellseitigen Anpassung an die Simulationsumgebung kann Porsche Engineering seine Stärken ausspielen.

„Wir kennen die Anforderungen an die Simulationen genau, weil wir sie selbst entwickeln und in Kundenprojekten erfolgreich zum Einsatz bringen“, betont Rupp. Ein Beispiel sind sogenannte Hardware-inthe- Loop-Systeme, die es ermöglichen, die Funktion eines realen Steuergeräts in einem virtuellen Fahrzeug mit entsprechender Umgebung und umliegendem Verkehr zu testen. So lässt sich der Bedarf an Realtests verringern. Porsche Engineering setzt viele solcher HiL-Systeme ein.

Weiter mit Wetter und KI

Je weiter es in Richtung hochautomatisiertes Fahren geht, desto umfangreicher und detaillierter müssen die virtuellen Teststrecken in Zukunft sein. „Es gibt noch jede Menge Potenzial“, sagt Watzl. Ein Beispiel: Derzeit herrscht im virtuellen Verkehrsraum immer Sommer – die Strecken sind sauber und trocken. „In Zukunft könnte man eine Winter-Variante einführen, mit Schneehaufen am Straßenrand, die die Fahrbahnmarkierungen verdecken“, so Watzl. Wichtig ist dabei, dass Schneehaufen, aber auch zum Beispiel Blätterhaufen oder Pfützen nicht nur optisch dargestellt, sondern auch ihre physikalischen Eigenschaften korrekt abgebildet werden. Denn es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen der optischen und der physikalischen Erkennung für die Sensoren – und damit auch einen Unterschied, wie die Fahrerassistenzsysteme reagieren.

Um den Detaillierungsgrad weiter erhöhen zu können, nutzt Porsche Engineering auch die interne Expertise in Sachen Künstlicher Intelligenz. „KI kann automatisch Satellitenbilder analysieren und Informationen über Landschaft oder Bebauung liefern“, gibt Rupp als Beispiel. Außerdem lässt sich die Technik nutzen, um aus Videoaufnahmen automatisch Elemente wie Verkehrsschilder zu extrahieren. Das könnte die Anpassung eines Streckenmodells an ein anderes Land deutlich beschleunigen.

Von real zu realistisch

Streckenmodellierung, 2024, Porsche AG

Zwei Komponenten der Streckenmodellierung: Streckenmodelle stellen ein Abbild einer meist real existierenden Wirklichkeit dar (Luftaufnahme links). Sie bestehen aus zwei hinsichtlich Geometrie und Inhalt übereinstimmenden Komponenten: erstens einer logisch-mathematischen Beschreibung des Straßennetzes und von Objekten (rechts) sowie einem 3D-Modell des fahrbaren Bereichs und der Umgebung (Mitte). Streckenmodelle sind essenzieller Bestandteil für die virtuelle Absicherung und das entwicklungsbegleitende Testen an synthetischen und hybriden Prüfständen (SiL, HiL, ViL).

Info

Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 1/2024.

Text: Constantin Gilies

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Verbrauchsangaben

Macan Turbo Electric

WLTP*
  • 20,7 – 18,8 kWh/100 km
  • 0 g/km
  • A Klasse

Macan Turbo Electric

Kraftstoffverbrauch* / Emissionen*
Stromverbrauch* kombiniert (WLTP) 20,7 – 18,8 kWh/100 km
CO₂-Emissionen* kombiniert (WLTP) 0 g/km
CO₂-Klasse A