Jahrzehntelang war die Automobilproduktion bekannt für stabile Lieferprozesse. In jedem Fahrzeug sind Tausende von Komponenten verbaut, die weltweit von Hunderten Zulieferern gefertigt werden – und jedes einzelne Bauteil war pünktlich am Montageband zur Stelle, wenn es gebraucht wurde.
Im Jahr 2021 rissen plötzlich die sonst so robusten Zulieferketten. Schuld daran tragen ausgerechnet die Bauteile, denen künftig eine Schlüsselrolle für die Funktionen der Autos und auch für den Markenkern der Hersteller zukommt: die Halbleiter. Weil sie nach wie vor fehlen, können Fahrzeuge nicht oder nur mit Verzögerung fertiggestellt werden. Nach Angaben des deutschen Verbandes der Automobilindustrie (VDA) werden im Jahr 2022 allein in den deutschen Autofabriken 700.000 Fahrzeuge weniger produziert. Das ist ein Minus von rund 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Wirkliche Besserung der Halbleiterversorgung ist wohl erst ab der zweiten Jahreshälfte 2023 in Sicht.
Mehrfache Reise um die Welt
Die Gründe für die Engpässe sind vielschichtig. Coronabedingte Betriebsschließungen in Asien spielen ebenso eine Rolle wie der Brand in einer wichtigen japanischen Chipfabrik im Frühjahr 2021 und die Tatsache, dass die Mikrochipfertigung außerordentlich komplex und entsprechend anfällig ist. Dr. Hagen Radowski, Senior Partner bei Porsche Consulting, hat mehr als zwanzig Jahre Erfahrung in der IT-Branche. Er sagt: „Die Halbleiterproduktion ist einer der anspruchsvollsten Wertschöpfungsprozesse, den der Mensch erfunden hat – mit mehr als 130 Einzelschritten vom Sandkorn bis zum fertigen Chip.“ Dabei reisen die werdenden Halbleiter in ihrer Entstehungsphase mehrfach um die Welt. Und die einzelnen Schritte sind in sich schon sehr komplex: Bei der neuesten Chipgeneration mit fünf bis neun Nanometern Packungsdichte finden die Prozesse nahezu im atomaren Bereich statt und sind entsprechend aufwendig.
Mit welchen Strategien und Maßnahmen sorgen die Autohersteller vor, dass ein solcher Mangel erstens schnell behoben wird und sich zweitens nicht wiederholen kann? Zunächst streben sie an, die Prozesse besser zu verstehen und die Lieferketten stärker zu steuern. Das war bisher nur schwer möglich, weil der Großteil der Halbleiter im Fahrzeug in Komponenten steckt, die von den vielen Zulieferern der Fahrzeughersteller kommen. „Die Autohersteller suchen jetzt verstärkt das direkte Gespräch mit den ‚Lieferanten der Lieferanten‘ in der Chipfertigung – bis in höchste Ebenen. Der Chip-Einkauf ist ein Vorstandsthema und steht inzwischen überall ganz oben auf der Agenda“, so Radowski.
Eigene Chip-Kompetenz aufbauen
Mindestens ebenso wichtig aus Sicht der Autohersteller ist das Ziel, eigene Chip-Kompetenz aufzubauen. Ist das ein Strategiewechsel bei der Frage „Make or buy“? Radowski: „Nein, die Autohersteller zielen damit nicht auf die Inhouse-Fertigung von Halbleitern. Sie streben an, gemeinsam mit den Halbleiterherstellern Chips zu entwickeln und damit zum Fabless-Chip-Designer zu werden. So machen es auch weltbekannte Computer‑, Tablet- und Smartphone-Hersteller. Die Fertigung der Chips übernehmen dann sogenannte Foundries als unabhängige Dienstleister.“
Die eigene Chip-Kompetenz dient nicht allein dem Zweck, unabhängiger von den einschlägigen Lieferanten zu werden. Es geht auch um das Technologie-Know-how: „Künftig werden die Chips letztlich für die Differenzierung der Marken und Fahrzeuge sorgen. Über sie werden die Fahrzeuge mit der Cloud verknüpft, sie organisieren das autonome Fahren und man wird über sie Leistungen temporär zubuchen oder attraktive Dienstleistungen bestellen. Die Autohersteller werden es sich nicht leisten können und wollen, die Kenntnis der Produkte, die all das ermöglichen, an Zulieferer oder gar an die Zulieferer der Zulieferer zu delegieren.“
Neue Kapazitäten in Europa
Das Problem ist also adressiert – aber ist damit auch das Risiko gebannt, dass es künftig wieder zu Lieferengpässen bei Halbleitern kommen könnte? Auf der Produktionsseite ist mittelfristig Entspannung zumindest möglich, und die Fertigung rückt räumlich näher. Bosch hat angekündigt, die Produktion von Mikrochips für die Automobilindustrie deutlich auszubauen, auch an zwei Standorten in Deutschland.
Die Politik hat ebenfalls schon gehandelt: Mit dem European Chips Act fördert die Europäische Union (EU) die Ansiedlung von Halbleiterherstellern in Europa. Markantestes Einzelprojekt ist aktuell die Chipfabrik, die Intel in der ostdeutschen Stadt Magdeburg bauen wird – mit einem Investitionsvolumen von rund 17 Milliarden Euro. Bis sie in Serie produzieren kann, wird es dauern. Experten weisen zudem darauf hin, dass bei den sehr wenigen und hoch spezialisierten Herstellern der Produktionsanlagen Engpässe drohen.
Kleiner, aber stärker – das ist die Devise
Gebannt ist die Gefahr der Lieferengpässe somit noch nicht – zumal die Chipnachfrage der Autohersteller und ihrer Zulieferer in den kommenden Jahren kräftig steigen wird. Hinzu kommt, dass komplexe Funktionen wie das autonome Fahren anspruchsvollere Mikrochips erfordern. Radowski: „Im Moment bewegt sich der Bedarf der Automobilindustrie überwiegend im Mainstream-Bereich von 20 Nanometern und größer pro Transistor. Wenn das autonome Fahren zum Standard wird, braucht man leistungsfähigere – und das heißt: kleinere – Chips sowohl im Auto als auch in der Infrastruktur, und das in deutlich größeren Stückzahlen als bisher.“
Die meisten Autohersteller gehen davon aus, dass ihr Bedarf an Halbleitern in den kommenden Jahren etwa doppelt so stark steigen wird wie der Gesamtbedarf aller Branchen. Also muss die Produktionskapazität der Chiphersteller enorm ausgebaut werden. Die nächsten „Verteilungskämpfe“ scheinen vorprogrammiert, zumal der Bau einer neuen Chipfabrik mindestens vier Jahre dauert. Kurzfristige Reaktionen auf neue Engpässe sind in diesem Bereich kaum möglich.
Kooperation statt Konkurrenz
„Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel im Lieferantenmanagement: Das Modell der Zusammenarbeit zwischen Autoherstellern, First und Second Tier und Halbleiterherstellern wird sich grundlegend ändern.“ Dr. Hagen Radowski, Senior Partner bei Porsche Consulting
Wie begegnet die Branche diesem Problem? Radowski: „Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel im Lieferantenmanagement: Das Modell der Zusammenarbeit zwischen Autoherstellern, First und Second Tier und Halbleiterherstellern wird sich grundlegend ändern. Die Autohersteller müssen und werden sich stärker einbringen, auch angesichts des Wettbewerbs mit anderen Branchen.“ Wie wird das konkret aussehen? Ein Beispiel: „Mehrere europäische Automobilhersteller und Automobilzulieferer haben die Informationsplattform Catena‑X gegründet, um ihre Lieferketten transparenter zu machen und ihren mittel- bis langfristigen Bedarf an den einzelnen Halbleiterprodukten zu kommunizieren. Daran können sich die Chiphersteller orientieren und ihre Produktionsplanung am Bedarf ausrichten.“ Zum Paradigmenwechsel gehören also auch Offenheit, Transparenz unter Wettbewerbern und verstärkte Zusammenarbeit. Reine Konkurrenz hilft da nicht weiter.
Noch nicht am Ende: das Moore'sche Gesetz
Seit 1965 bestimmt in der Halbleiterbranche das Moore’sche Gesetz die Entwicklung der Mikrochips: Etwa alle anderthalb Jahre verdoppelt sich die Leistungsdichte der Chips. Jetzt ist bei den integrierten Schaltkreisen, den Wafern, kaum noch Steigerung möglich, die Fertigung bei einer Packungsdichte von unter 10 Nanometern ist hochkomplex und bewegt sich nahezu auf atomarer Ebene. Aber es gibt trotzdem noch „Luft nach unten“: Die Chiphersteller arbeiten mit neuen Gehäusebauformen, und sie fertigen „Systems on a chip“ sowie „Chiplets“ mit Zusatzfunktionen wie Speichern und Antennen. Darüber hinaus nutzen sie neue Kontaktierungstechnologien. Und durch das Stapeln von mehreren Chipschichten lassen sich ebenfalls deutliche Leistungssteigerungen auf gleichem Bauraum erzielen. Es spricht also vieles dafür, dass das Moore’sche Gesetz weiter Gültigkeit haben wird, auch wenn die Transistoreinheiten selbst nicht weiter miniaturisiert werden können.
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche Consulting Magazin.