Herr Zellmer, Sie sind seit 2020 bei Volkswagen Pkw neuer Vorstand für Vertrieb, Marketing und After Sales. Hat mit Ihrer Übernahme auch eine neue Zeitrechnung begonnen – weil sich bei den Automobilherstellern gerade grundsätzlich so vieles ändern muss?

Klaus Zellmer: Der Wandel hin zur Elektromobilität ist die größte Transformation in der Geschichte von Volkswagen. Wir wollen zur begehrenswertesten Marke für nachhaltige Mobilität und Marktführer bei batterieelektrischen Fahrzeugen werden. Mit unserem „Way to Zero“ übernehmen wir dabei konsequent gesellschaftliche Verantwortung für den Klimaschutz. Parallel dazu vollzieht sich seit geraumer Zeit auch bei der Mediennutzung die große Transformation. Wir digitalisieren daher massiv die Kundenansprache. Es geht darum, den Menschen an der richtigen Stelle zur richtigen Zeit den richtigen Content zur Verfügung zu stellen. Das richtige Agieren im digitalen Ökosystem ist ein wichtiger Faktor für den vertrieblichen Erfolg. Und mit unserem Geschäftsmodell 2.0 adressieren wir zudem neue Zielgruppen, machen innovative Angebote und vereinfachen den Zugang zu individueller Mobilität. Um eines aber gleich noch anzuschließen: Der Handel ist und bleibt auch weiterhin unser Gesicht zum Kunden und wir agieren hier im engen Schulterschluss. Ein Autokauf ist für die allermeisten Menschen immer noch eine emotionale Erfahrung – das lässt sich nicht einfach digitalisieren. Das haptische Erlebnis, das Anfassen und das Fahren spielen eine sehr große Rolle.

Bleibt es für Volkswagen-Käufer auch künftig ein Erlebnis, ein Auto zu „besitzen“ – als Eigentum? Oder geht es immer mehr darum, über das passende Auto für den jeweiligen Zweck zum richtigen Zeitpunkt verfügen zu können – zum Beispiel via Car Sharing?

Zellmer: Ja, ganz genau das ist der Punkt. Wie gesagt, grundsätzlich wollen wir den Einstieg in individuelle Mobilität noch leichter machen. Dafür bieten wir die gesamte Palette von Kauf, Leasing, Abo, Share und Ride. So erreichen und begeistern wir viele Menschen, die heute noch keine Volkswagen-Kunden sind. Ich bin überzeugt, dass dies ein gutes Instrument ist, die Bindung an die Marke sowie Sympathie und Freude an der E-Mobilität aufzubauen. Ich war ja fünf Jahre für Porsche in Nordamerika verantwortlich. Dort haben wir sehr positive Erfahrungen mit Abo-Modellen gesammelt. Viele der dortigen Abo-Kunden hatten zuvor noch nie ein Porsche-Autohaus betreten und haben sich hinterher ein Fahrzeug gekauft, weil wir sie im Abo vom Produkt begeistern konnten.

Klaus Zellmer, Volkswagen-Vorstand, 2021, Porsche Consulting
„Eine starke Marke braucht ein Gesicht. Deshalb setzen wir auch in Zukunft auf unseren stationären Handel.“ Klaus Zellmer, Mitglied des Markenvorstands Volkswagen Pkw, Geschäftsbereiche Vertrieb, Marketing und After Sales

Ihre Vertragshändler haben schon unter der Corona-Pandemie und dem Lockdown im Einzelhandel gelitten. Die Bereitschaft der Käufer, Neuwagen nicht nur im Internet zu konfigurieren, sondern auch online zu bestellen, steigt. Was wird aus den Händlern? Wie sieht der Autohändler der Zukunft aus? Womit beschäftigt er sich?

Zellmer: Eine starke Marke braucht ein Gesicht. Deshalb setzen wir auch in Zukunft auf unseren stationären Handel. Wir brauchen Kundennähe und die lokale Präsenz. Kundenorientierung heißt gleichzeitig, dass wir dem stark veränderten Kaufverhalten Rechnung tragen. Selbstverständlich muss unser Vertriebssystem deshalb Kundinnen und Kunden online und offline zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund bauen wir gemeinsam mit unserem Handel aktuell einen digitalen Marktplatz für Lagerfahrzeuge, Neu- und Gebrauchtwagen. Das ist ein großer Vorteil für alle Beteiligten und unserer Meinung nach eine sehr wichtige Unterstützung beim Thema E-Commerce. Konkret: Wir bieten auf volkwagen.de ab Sommer 2021 einen Marktplatz für Händler an, um Neu- und Gebrauchtwagen-Lagerfahrzeuge online überregional vermarkten zu können – inklusive Online-Leasing und Finanzierungsantrag mit Bonitätsprüfung. Kunden können dort aus einem breiten Angebot auswählen und ihr Fahrzeug vom Handel online kaufen. Auch hier wollen wir zügig weitere Finanzdienstleistungen und Zahlungsmöglichkeiten online ergänzen. Wir gehen davon aus, dass wir auf diesem Wege viele online-affine Kunden neu hinzugewinnen.

Welche Rolle spielt die Händler-Werkstatt, wenn Elektroantriebe dominieren?

Zellmer: Zunächst gehen wir davon aus, dass nach dem Ende der Pandemie die Fahrleistungen wieder ansteigen werden. Reparaturen und Werkstattaufenthalte, die während des Lockdowns aufgeschoben wurden, werden nachgeholt. Ich sehe auch einen Trend zu mehr Urlaubsreisen im eigenen Auto. Durch das veränderte Mobilitätsverhalten ergeben sich also auch neue Chancen. Mittel- und langfristig wird es wichtig sein, den vorhandenen Markt gemeinsam mit dem Handel noch besser auszuschöpfen.

Wie wird die Customer Journey bei der Marke Volkswagen Pkw neu definiert? Was ändert sich in der Kundenansprache?

Zellmer: Da ändert sich natürlich auch enorm viel. Das Nutzerverhalten hatte sich auch vor Corona schon deutlich verändert, aber der Lockdown hat im Marketing wie ein digitaler Turbo gewirkt. Früher sind wir aus dem Kundendialog ausgestiegen, wenn der Kunde sein Auto gekauft hatte. Heute müssen und wollen wir ihn aber auch darüber hinaus weiter begleiten. Darum arbeiten wir mit Hochdruck daran, die Customer Journey von einem linearen Kanal in einen geschlossenen Kreislauf zu verwandeln, um bei Angeboten noch besser auf die persönlichen Wünsche der Kunden eingehen zu können. 95 Prozent der Interessenten starten heute auf unserer Website den Kaufprozess. Das zeigt die enorme Bedeutung eines exzellenten Online-Auftritts. Hier informieren sich fast alle Kunden darüber, für was Volkswagen steht, welche Angebote wir und unsere Händler haben.

Und was ändert Volkswagen?

Zellmer: Damit die Kunden schneller das finden, wonach sie suchen, haben wir alle Web-Touchpoints unter einem Dach gebündelt: dem OneHub. Diesen haben wir im Eiltempo in mehr als 100 Märkten ausgerollt. Mit wenigen Klicks beim Konfigurieren und bestmöglichem Kundenerlebnis kommen die Interessenten so jetzt schnell zu ihrem Wunschauto. Anders als früher wollen wir auch nach dem Kauf oder Leasing mit ihnen im Austausch bleiben, um etwa die traditionellen wie auch die neuen digitalen Services anzubieten. So könnten wir beispielsweise vor der Urlaubszeit den Travel Assist oder zusätzliche Batterie-Power für Langstrecken per Knopfdruck anbieten. Solche und andere Vorteile wollen und müssen wir den Kunden vermitteln. Mit diesen digitalen Zusatzdiensten über den gesamten Lebenszyklus der Fahrzeuge wollen wir in den nächsten Jahren zusätzliche dreistellige Millionenumsätze erlösen.

Klaus Zellmer, Volkswagen-Vorstand, 2021, Porsche Consulting
„Künftige Fahrzeuggenerationen werden mit erheblich weniger Varianten produziert.“ Klaus Zellmer, Mitglied des Markenvorstands Volkswagen Pkw, Geschäftsbereiche Vertrieb, Marketing und After Sales

Wenn Sie auf die Zukunft der Mobilität schauen, welche nachwachsende Zielgruppe haben Sie bei den künftigen Kunden im Blick? Sind es die Menschen, die um die Jahrtausendwende geboren wurden? Über die „Generation Golf“ sind viele Geschichten und Bücher geschrieben worden. Kommt mit der Elektromobilität nun die „Generation E“?

Zellmer: Was die Zielgruppen angeht: Eine aktuelle Studie beleuchtet zum Beispiel auch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie. Das daraus folgende Social Distancing führt dazu, dass ein Teil der befragten Verbraucherinnen und Verbraucher den Kauf ihres nächsten Autos früher als geplant angehen möchte. Das gilt insbesondere für die jüngere Generation: Rund ein Drittel der 18- bis 34-Jährigen gibt das sogenannte Social Distancing als Hauptgrund für den nächsten geplanten Autokauf an. Bei den 35- bis 54-Jährigen liegt die Zahl bei 22 Prozent. Und wenn Sie nach der Antriebsart fragen und ob Elektromobilität eine Frage des Alters ist, dann sage ich: Nein, es ist eine Frage der Einstellung. Unseren ID.3 kaufen beispielsweise auch viele der „Generation Golf“.

In der digitalisierten Welt haben sich die Menschen inzwischen an sehr kurze Innovationszyklen gewöhnt. Die Erwartungshaltung steigt. Technologische Sprünge haben eine schnelle Frequenz. Mobiltelefone sind nach zwei Jahren technisch „überholt“. Was bedeutet das für Autos? Wie kann Volkswagen beim Innovationstempo Schritt halten?

Zellmer: Das ist ein ganz wichtiger Punkt, für den wir auch eine Antwort haben. Software-Integration in das Fahrzeug und das digitale Kundenerlebnis werden zur Kernkompetenz des Unternehmens, das hierzu federführend das kundenzentrierte digitale Ökosystem entwickelt. Dabei wird die ID-Familie zum Vorreiter. So werden wir ab Sommer 2021 für unsere ID-Familie als einziger Volumen-Hersteller Over-the-Air-Updates im 12-Wochen-Rhythmus anbieten. Das ist ein Riesenvorteil für Nutzer. So bleibt das Fahrzeug immer auf dem neuesten Stand und die neuesten Services können dauerhaft oder temporär hinzugebucht werden. Updates werden also auch im Auto zur neuen Normalität – so wie bei Handys und PCs. Bei der Angebotsstruktur wird Volkswagen die Komplexität deutlich reduzieren. Künftige Fahrzeuggenerationen werden mit erheblich weniger Varianten produziert. Die individuelle Konfiguration wird nicht mehr über die Hardware beim Kauf festgelegt. Das Auto hat quasi alles bereits an Bord und der Kunde kann gewünschte Funktionen jederzeit on demand über das digitale Ökosystem im Auto hinzubuchen. Die Komplexität in der Fertigung nimmt dadurch deutlich ab. Und dann kommt die nächste Stufe.

Was meinen Sie damit?

Zellmer: All das, was sich Volkswagen für die Zukunft vorgenommen hat, wird im Jahr 2026 erstmals in einem Fahrzeug für die Kunden erlebbar. In unserem Projekt Trinity fließen alle Faktoren zusammen. Das Fahrzeug wird in dreifacher Hinsicht neue Standards setzen: technologisch, beim Geschäftsmodell 2.0 und bei neuen Produktionsansätzen. Trinity wird von Beginn an automatisiertes Fahren mit Level 2+ ermöglichen und perspektivisch Level 4. Es wird unseren Kunden Zeit schenken und Stress ersparen. Mit heute rund sechs Millionen verkauften Fahrzeugen pro Jahr bringen wir als Volkswagen die nötigen Volumina mit, um das in der Entwicklung anspruchsvolle autonome Fahren zu skalieren und weltweit auszurollen. So machen wir es für viele Menschen erreichbar und bezahlbar. Dazu werden wir, beginnend mit Trinity, ab 2026 federführend im Konzern über die vollvernetzte Fahrzeugflotte hinweg ein neuronales Netz aufbauen. Darüber hinaus werden Fahrzeuge künftig kontinuierlich Daten austauschen, etwa zur Verkehrslage, Hindernissen oder Unfällen. Damit schafft Volkswagen ein selbstlernendes System mit Millionen Fahrzeugen, von dem Kunden aller Konzernmarken profitieren werden.

Info

Text erstmalig erschienen im Porsche Consulting Magazin.

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