Komm’ jetzt!“ Eine eindeutige Aufforderung an sich selbst – aber in dieser Sekunde nicht weniger als das Synonym für: „Yes, I can!“ „Komm’ jetzt!“ Es klingt nicht komplett euphorisiert – auch nicht überdreht, schon gar nicht übertrieben frenetisch oder gar schrill. „Komm’ jetzt!“ Ein klitzekleines Stückchen Zurückhaltung schwingt mit, wenn man genau hinhört. „Komm’ jetzt!“ Die Handbremse ist fast, aber nicht zu 100 Prozent gelöst, vielleicht zu 85, maximal zu 90 Prozent. Was dafür sorgt, dass die Emotionen den Rahmen des Kontrollierbaren nicht zu sprengen drohen. Wie ein Bob im Eiskanal, der zwar wild hin- und hergeschleudert wird, aber dank der Streckenbegrenzung auf dem rechten Weg bleibt. Was gibt es Schlimmeres im Tennis, als durch allzu intensive Gefühlsausbrüche – egal ob positiver oder negativer Natur – die Konzentration zu verlieren.
„Komm’ jetzt!“ Um ihrem verbalen Markenzeichen auf dem Court auch optisch Ausdruck zu verleihen, geht Angelique Kerber leicht in die Knie und beugt ihren Oberkörper nach vorne, sodass er sich für einen Moment fast parallel zum Boden befindet und zu schweben scheint. Dazu ballt sie ihre Hand zur Faust - wobei der Kraft aufwand deutlich erkennbar ist. Es ist eine der typischen „Angie“-Gesten, die ihre Fans lieben und ihre Gegnerinnen fürchten.
„Komm’ jetzt!“ Es ist während eines Matches die Angie-Ansage überhaupt, die auf den Centre Courts des Tennis-Universums keiner Übersetzung bedarf. Eine exzellente Verquickung von Vergangenheit und Zukunft. Getragen von der Hoffnung, dass sich das Eben im Gleich möglichst oft zu wiederholen vermag. „Dieses ‚Komm‘ jetzt!‘ sage ich mir, wenn mir ein besonders guter Schlag gelungen ist. Oft in einer entscheidenden Situation“, erklärt Kerber: „Und natürlich dient es zugleich auch als Motivation für die nächsten Ballwechsel.“
Diese Zwei-Wörter-Kombi liegt der Porsche Tennis Grand Prix-Siegerin von 2015 und 2016 in jeder Partie quasi auf der Zunge. Der Automatismus greift, wenn es einen speziellen Punktgewinn zu feiern gibt. Wenn es darum geht, ein Zeichen zu setzen. Für sich selbst. Und ein Statement abzugeben - in Richtung der Gegnerin. „Yes, I can!“ Und das, liebe Kollegin auf der anderen Seite des Netzes, solltest Du bitte schön auch wissen! Unbedingt!
Kerber zählt sicherlich nicht zu den Spielerinnen, die auf dem Court zu extremen Gefühlsausbrüchen neigen. „In den vergangenen Jahren bin ich diesbezüglich aber schon ein bisschen offener geworden“, betont sie. Trotzdem gilt die 32-Jährige seit jeher als eine, die die Dinge lieber mit sich selbst ausmacht. Im Verborgenen. Gerade, wenn es in einer Partie nicht so läuft. Dabei ist sich Kerber durchaus bewusst, dass man in ihrem Gesicht oft lesen kann wie in einem offenen Buch. Wie es ihr geht, was sie gerade fühlt. Trotz Visor.
„Natürlich gab es Rückschläge und viele schwierige Phasen in meiner Karriere, auch Zweifel.“ Angelique Kerber
Sie hat es akzeptiert, es ist ein Teil von ihr. Wie diese essenzielle und von vielen bewunderte Fähigkeit, den Turnaround zu schaffen. Im Kleinen wie im Großen. In einzelnen Matches, in schwierigen Saisonphasen, in ihrer ganzen Karriere.
2016: der späte Durchbruch mit dem Gewinn von zwei Grand Slam-Titeln sowie der Sprung auf den Tennis-Thron – ganz oben; 2017: der bittere Absturz, viele Zweifel – ganz unten; 2018: der Wimbledon-Triumph, der einen Tennisprofi unsterblich macht, die ganz persönliche Mondlandung – ganz oben.
Ohne ihr Motto „Niemals aufgeben“ hätte Kerber sicherlich nicht solch‘ eine ebenso authentische wie faszinierende Story schreiben können, die längst noch nicht abgeschlossen ist, der sie natürlich noch einige Kapitel hinzufügen möchte. Dass ein Motto alleine allerdings nicht reicht, um Berge zu versetzen, weiß die Linkshänderin nur zu gut.
Eine Erfolgsformel - wie die ihre – besteht aus etlichen Elementen. Da ist zum einen diese innere Überzeugung, die in stürmischen Zeiten durchaus mal ins Wanken geraten kann. Schmerzhafte Schrammen eingeschlossen. „Natürlich gab es Rückschläge und viele schwierige Phasen in meiner Karriere, auch Zweifel“, meint Kerber, „aber letztlich hatte ich doch immer diesen festen Glauben, es zu schaffen und meine Ziele zu erreichen.“ Es hatte bislang sogar den Anschein, als habe sie in der sportlichen Krise ausgerechnet am tiefsten Punkt der Talsohle besonders viel Kraft und Mut schöpfen können für neue Höhenflüge der Marke „Angie-like“.
Zopf flechten als Ritual
Ihr Herz in jedem Match auf dem Platz zu lassen, das ist der Anspruch, den Kerber, die ewige Kämpferin, an sich selbst stellt. Dazu braucht es Willenskraft, Disziplin, Motivation – und zwar schon lange vor dem Gang auf den Centre Court. Zum Beispiel in der Vorbereitung auf eine Saison. „Es ist wichtig, auch mal seine Komfortzone zu verlassen und neue Dinge auszuprobieren“, empfiehlt die dreimalige Grand Slam-Siegerin, die beim Training immer ein Ziel vor Augen haben muss, um ihre Grenzen überschreiten zu können: „Das spornt mich an, dann bin ich extrem fokussiert.“ Zudem besonders leistungs- und leidensfähig.
Der Wettbewerbsgedanke war bereits früh präsent bei der Porsche-Markenbotschafterin: „Schon als Kind wollte ich gegen meine Eltern auf dem Tennisplatz immer um eine kleine Belohnung spielen. Um ein Eis, ein Stück Schokolade oder eine Kinokarte.“ Und die beste Motivation heutzutage? „Wenn ich sehe, dass ich mich verbessere und weiterentwickeln kann.“ Die Perfektion als Antrieb.
Dabei können durchaus auch Negativerlebnisse dienlich sein. Vielleicht nicht gleich auf den ersten Blick, dafür auf den zweiten oder dritten. Jede Niederlage sei eine Erfahrung, die einen auf seinem persönlichen Weg weiterbringe, hat Kerber gelernt. Einige der schmerzvollsten Rückschläge waren bei der ehemaligen Weltranglistenersten Ausgangspunkt für wertvolle Lernprozesse, „ohne die ich nicht diejenige geworden wäre, die ich jetzt bin“.
Zu den besonders abergläubischen Spielerinnen im Proficircuit zählt Kerber nicht. Was im Umkehrschluss aber keineswegs bedeutet, dass die deutsche Nummer eins keine Rituale hat. Vor einem Spiel zieht sie sich in die Kabine zurück, unter anderem um ihren Zopf zu flechten und den Visor zu fixieren. „Dabei“, erzählt sie, „finde ich einen Moment der Ruhe und bin ganz bei mir.“ Auf laute Rockmusik aus dem Smartphone verzichtet Angie – zumindest unmittelbar vor dem Match.
Einen Push verleiht ihr vor allem ein fachkundiges Publikum, das hör- und sichtbar mitfiebert. Wie jenes beim Porsche Tennis Grand Prix in Stuttgart. „Ich durfte es in den vergangenen Jahren immer wieder erleben, wie toll die Zuschauer hier mitgehen und uns anfeuern. Das setzt sicher nicht nur bei mir zusätzliche Energie frei“, sagt Kerber über die Extraportion Motivation von den Rängen der Porsche-Arena, auf die sie sich 2021 wieder freut. Dazu gehört auch der Porsche als traditionelles Siegerfahrzeug, das sie bereits zwei Mal gewinnen konnte, als zweifelsfrei kleines Stück Extra-Motivation.
Auf die eindeutige Aufforderung an sich selbst wird sie aber ungeachtet dessen wohl nicht verzichten, solange sie professionell Tennis spielt. „Komm’ jetzt!“ – es ist das untrügliche Zeichen für eine Kerber in Hochform. Ihre Form von „Yes, I can!“