Einen solch späten Start im Jahr gab es in der fast einhundertjährigen Geschichte des Rennens erst ein einziges Mal: 1968 wurden die 24 Stunden von Le Mans aufgrund anhaltender Unruhen in Paris am 28./29. September ausgetragen. Die Verschiebung des Rennens hat auch für das Porsche GT Team weitreichende Konsequenzen. Dazu gehören nicht nur die Veränderungen am Zeitplan sondern auch der Wegfall von beliebten Fan-Events wie der technischen Abnahme in der Innenstadt oder der Fahrerparade am Tag vor dem Start.
Die lange Nacht
Mitte Juni rund um die Sommersonnenwende (20.06.) sind auf der Nordhalbkugel die Tage am längsten. Am ursprünglich geplanten Termin für die 88. Auflage des Langstreckenrennens am 13./14. Juni wären die Fahrzeuge nur 8:02 Stunden durch die Nacht gefahren. Am neuen Septembertermin geht die Sonne am Samstagabend bereits um 20:01 Uhr unter. Die ersten Sonnenstrahlen werden am Sonntagmorgen um 7:44 Uhr zu sehen sein – die Phase der Dunkelheit ist damit fast vier Stunden länger als kurz vor dem Beginn des kalendarischen Sommers. Beim Kampf zweimal um die Uhr auf dem Circuit des 24 Heures werden die Teams nur gut 12 Stunden lang Tageslicht sehen.
Das hohe Tempo
Die lange Nacht bedingt eine längere Phase mit kühleren Asphalt- und Lufttemperaturen. Dies hat zur Folge, dass die Motoren der beiden Porsche 911 RSR länger im Optimalbetrieb laufen können. Die kühlere Luft ist mit mehr Sauerstoff angereichert und sorgt somit für eine bessere und effizientere Verbrennung des Treibstoffs in den sechs Brennräumen. Die gültige Faustformel: Ein Absinken der Umgebungstemperatur um fünf Grad Celsius bewirkt eine Leistungssteigerung des Motors um ein Prozent. In der langen Nacht der 24 Stunden von Le Mans 2020 kann somit im Schnitt ein höheres Tempo gefahren werden. „Wenn die Wetterbedingungen gut sind, werden wir ein erheblich schnelleres Rennen erleben als im Juni“, sagt Pascal Zurlinden, Gesamtprojektleiter Werksmotorsport bei Porsche. Durch den früheren Sonnenuntergang am Samstagabend und die spätere Morgendämmerung am Sonntag ergibt sich ein anderer Temperaturverlauf. Der Durchschnittswert über 24 Stunden liegt Mitte Juni (Daten der vergangenen 30 Jahre) bei 16,8 Grad Celsius, im September ist es genau ein Grad Celsius weniger. Dieser Faktor hat genau wie die höhere Sauerstoffsättigung weiteren Einfluss auf die Performance der Fahrzeuge.
Die weichen Reifen
Die kühleren Werte in der Nacht haben zusätzlich den Vorteil, dass die weiche Mischung der Michelin-Reifen über einen längeren Zeitraum verwendet werden kann. Diese Variante bietet nicht nur mehr Grip, sondern bei guten Streckenbedingungen auch mehr Konstanz. „Leider dürfen wir in der GTE-Pro-Klasse keine Dreifach- oder sogar Vierfachstints fahren“, erläutert Zurlinden. Die GTE-Fahrzeuge müssen spätestens nach zwei turnusmäßigen Stopps neue Räder erhalten. „Aufgrund der veränderten Regeln, die eine Betankung mit gleichzeitigem Reifenwechsel nicht mehr zulassen, kostet jeder Wechsel der Räder zusätzliche Zeit. Wir werden definitiv mehr Doppelstints sehen. Deshalb müssen wir die Zeit an der Box so kurz wie nur möglich halten“, so der erfahrene Ingenieur.
Der zu erwartende Regen
Die Wetterstatistiken der zurückliegenden 30 Jahre zeigen, dass sich die Höchst- und Tiefsttemperaturen bei Tag und Nacht zwischen Juni und September kaum unterscheiden. Allerdings stellen die Daten deutlich dar, dass es im September seltener, dafür aber heftiger regnet als drei Monate früher. „Das müssen wir nehmen wie es kommt“, sagt Pascal Zurlinden. Beim Langstreckenklassiker hat sich jedoch ein Ausspruch über viele Jahrzehnte etabliert: „It always rains at Le Mans“, heißt es. Die Frage ist oft nur, in welcher Phase des Rennens. „Möglicher Regen spielt in der Taktik aller Teams eine wichtige Rolle. Vor allem, wenn das Auto bei trockenen Bedingungen nicht zu 100 Prozent konkurrenzfähig ist. Bei Nässe werden die Karten ganz neu gemischt. Das eröffnet neue Chancen“, erklärt Zurlinden.
Die tief stehende Sonne
In den Tag-Nacht-Übergängen haben die Fahrer bei den 24 Stunden von Le Mans oftmals mit schwierigen Sichtverhältnissen zu kämpfen. Beim Sonnenuntergang am Samstagabend blendet das Licht vor allem in den Streckenabschnitten Indianapolis und Arnage, beim Aufgang am Sonntagmorgen tritt dieses Phänomen im Bereich der berühmten Tertre Rouge auf. „Unsere erfahrenen Werkspiloten kennen diese Phasen ganz genau. Da die Sonne kurz vor Herbstbeginn generell tiefer steht als im Sommer, müssen unsere Jungs die Augen etwas häufiger zusammenkneifen. Aber das wird schon gut gehen. Es sind schließlich Top-Profis“, schmunzelt der Franzose.
Die frühe Startzeit
Die 24 Stunden von Le Mans starten 2020 im Gegensatz zu den Vorjahren bereits um 14:30 Uhr Ortszeit. Hintergrund ist unter anderem die finale Etappe der Tour de France: Die große Frankreich-Radrundfahrt endet am 20. September am späten Nachmittag mit der Zieldurchfahrt in Paris. Um eine Kollision mit diesem Ereignis zu vermeiden, wird die 88. Auflage des Langstreckenrennens der FIA World Endurance Championship (WEC) entsprechend der früheren Startzeit bereits am Sonntag um 14:30 Uhr abgewunken. „Diese Anpassung mag von außen marginal erscheinen, aber sie hat große Auswirkungen auf unser Team: Wir müssen mit unseren Vorbereitungen auf den Start am Samstag noch früher fertig sein. Das bedeutet weniger Pause und noch mehr Stress“, schildert der Gesamtprojektleiter Porsche Werksmotorsport. Zwischen dem Ende des Warmups und der Freigabe des Rennens sind nur vier Stunden Zeit, um finale Vorbereitungen zu treffen.
Die fehlenden Fans
Die 24 Stunden von Le Mans rangieren in der Gunst der Motorsportfans weit oben. Jahr für Jahr verfolgen rund 250.000 Menschen die Veranstaltung vor Ort. Die Hauptstadt des französischen Departements Sarthe mit ihren 150.000 Einwohnern platzt einmal pro Jahr aus allen Nähten. Nicht so 2020: Der Veranstalter ACO lässt keine Zuschauer an die Strecke. „Die Fans geben uns immer maximale Motivation“, sagt Pascal Zurlinden. Vor allem zum Start am Samstag und zum Zieleinlauf am Sonntag sind auf den großen Tribünen gegenüber der Boxengasse gewöhnlich keine Plätze mehr frei. „Ich sehe am Samstag und am Sonntag quasi in die gleichen Gesichter, wenn ich vom Kommandostand auf die Zuschauerplätze blicke. Mir geben diese euphorischen Fans immer wieder neuen Schub, wenn sich nach 24 Stunden die Energie dem Ende zuneigt. Das wird in diesem Jahr anders sein. Aber für die Zuschauer zu Hause wird das Rennen trotz aller Einschränkungen sicher wieder ein großartiges Erlebnis.“
Der fehlende Vortest
Der eintägige Test zwei Wochen vor dem Rennen gehört traditionell zum Event der 24 Stunden von Le Mans. Es ist die einzige Möglichkeit für Hersteller und Reifenpartner, Teams und Fahrer, sich vor dem größten Klassiker des Jahres auf die unvergleichlichen Besonderheiten der 13,626 Kilometer Strecke einzustellen. Der Circuit des 24 Heures besteht einerseits aus Passagen des permanenten Circuit Bugatti und andererseits aus öffentlichen Straßen. Eine solche Konstellation ist im Motorsport nahezu einzigartig. Weitere Testmöglichkeiten abseits der Rennwoche gibt es nicht. „Der Wegfall des Vortests ist eine große Herausforderung“, sagt Pascal Zurlinden. „Wir kommen erstmals mit unserem aktuellen 911 RSR dorthin, haben also einige offene Fragen bezüglich des Setups. Diese Arbeiten hätten wir gern bei einem Test erledigt, um nach eingehender Analyse bestmöglich vorbereitet in die offiziellen Sessions gehen zu können. Auch den Umgang mit den Reifen hätten wir gern bei Probefahrten schon einmal durchgespielt. Nun bleiben uns für diese Arbeiten nur die Trainings direkt vor dem Rennen.“
Der kompakte Zeitplan
Die 24 Stunden von Le Mans weichen in diesem Jahr von ihrem bewährten Zeitschema ab. Die Trainings, die in zurückliegenden Jahren immer gepaart mit Qualifyings am Mittwoch und Donnerstag stattfanden, stehen nun am Donnerstag (zehn Stunden freies Training plus Qualifying) und am Freitag (Freies Training und Hyperpole) auf dem Plan. „Die langen Trainingssitzungen ermöglichen uns umfangreiche Arbeiten am Setup und Reifen-Management“, so Pascal Zurlinden. „Wir können viele Aufgaben erledigen, haben im Vergleich zum sonstigen Vortest aber den Nachteil, dass keine ausreichend langen Pausen für wirklich eingehende Analysen geplant sind.“ Der Freitag vor dem Start des Rennens war bisher immer die letzte Chance für Fahrer und Teammitglieder, vor dem wichtigsten Wettbewerb des Jahres noch einmal etwas Erholung zu finden. Am sogenannten „Mad Friday“ stehen sonst die Fans im Vordergrund.
Die fehlende Fahrerparade
Tagsüber rollen wild getunte Autos über Campingplätze und Verbindungstraßen, die von Fans gesäumt sind. Jeder Burnout wird von tosendem Applaus begleitet. Der „Le-Mans-Feiertag“, der Freitag vor dem Rennen geht normalerweise mit der berühmten Fahrerparade in der Innenstadt zu Ende. Nicht so 2020: Das Spektakel mit Fahrern in historischen Fahrzeugen zwischen Place des Jacobins und Place de la République entfällt. „Das ist für die Fans sehr schade, lässt sich angesichts der notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus aber nicht anders lösen. Wir werden versuchen, den leidenschaftlichen Le-Mans-Liebhabern ein spannendes und nicht minder spektakuläres Programm über unsere Social-Media-Kanäle zu bieten“, erklärt Zurlinden die Pläne von Porsche Motorsport.
Die fliegenden Pollen
Tränende Augen, triefende Nasen und stets griffbereite Medizin gehören im Juni im Fahrerlager von Le Mans zum gewohnten Bild: Zahlreiche Fahrer, Teammitglieder und Fans leiden unter einer Pollenallergie. Die Belastung durch Gräserpollen ist im Sommer in der zumeist landwirtschaftlich genutzten Kornkammer Frankreichs in der Region Sarthe enorm. „Ich zähle selbst zu den Betroffenen“, berichtet Zurlinden. „Hauptproblem ist dabei das Antihistamin, ohne das im Juni gar nichts geht. Diese Präparate machen müde. Genau so etwas kann man bei einem 24-Stunden-Rennen natürlich gar nicht gebrauchen. Insofern bin ich sicherlich nicht der einzige, der sich freut, im September in Le Mans mal nahezu allergiefrei agieren zu können.“