Es ist ein warmer Spätvormittag gegen 13 Uhr, eine unauffällige Halle in einem Gewerbegebiet an der Stuttgarter Peripherie. Die Fenster des Gebäudes sind blickdicht verklebt, die Tore sorgfältig verschlossen, niemand soll unerlaubt hineinsehen oder hineinkommen, nichts nach außen dringen. Drinnen steht ein verwirrend getarntes Erprobungsmodell des Taycan. Es ist in 70 Jahren Sportwagengeschichte der erste rein batteriebetriebene Porsche aus Zuffenhausen. Noch sind zu diesem Zeitpunkt nur grobe Umrisse bekannt, Fachblätter übertrumpfen sich gegenseitig mit mehr oder weniger futuristischen Phantombildern, doch eindeutig klar ist: Der Taycan stößt in eine völlig neue Dimension der Marke Porsche vor, die ihre Kraft traditionell aus leistungsstarken Verbrennungsmotoren schöpft. Ein Quantensprung. Und, wie jeder radikale Umschwung, nicht ohne Risiko.
Gleich daneben parkt im Dunkeln der neue Porsche 911 – jener Klassiker, der sich seit seiner Premiere 1963 wahlweise als Kern, als Synonym, als das Herz der Marke Porsche ins kollektive Bewusstsein gebrannt hat. Ein Mythos, mehr als eine Million Mal gebaut, ein Phänomen der Zeit-, Kultur-, Technik- und Design-Geschichte, ein Automobil, das immer wieder neu und doch so provozierend wenig anders ist. Zwei Welten prallen aufeinander – die doch eine Herkunft haben. Und ein gemeinsames Ziel: auf neue Art zu definieren, was Porsche ist. Wofür die Marke steht. Und was die beiden Männer mit ihr verbinden, die jetzt emsig diskutierend die Fahrzeuge umkreisen.
August Achleitner, ein schlanker, geradezu jungenhaft wirkender 63-Jähriger, ist so etwas wie der Kopf des 911. Seit 18 Jahren leitet der Automobilingenieur die Baureihe, die achte Generation des Elfers wird seine letzte sein. Er hat dieses Erbe stets bewahrt, indem er es entlang der Porsche-Werte aus Tradition und Innovation behutsam weiterentwickelte: Wandel ja, radikale Veränderung nein. Geprägt hat er den 911 wie kaum ein anderer, auch wenn er es nicht zugeben mag. Spricht man ihn auf seine Rolle an, mäandern die Antworten schnell zu „dem Team“ oder „meinen Leuten“. „Die Entwicklung des 911 ist immer eine Evolution, nie eine Revolution", sagt er. „Gleichzeitig haben wir jede Generation so angelegt, dass sie ihre Vorgänger nicht entwertet. Das erklärt, warum Porsche so zeitlos sind.“
Stefan Weckbach, gut 20 Jahre jünger als sein Gegenüber, versieht eine der anspruchsvollsten Aufgaben, die Porsche derzeit zu vergeben hat. Früher war der studierte Betriebswirt Baureihenleiter für den Boxster, jetzt ist er in derselben Funktion der Mann hinter dem Taycan, einem revolutionären Fahrzeugkonzept mit einem komplett neuen Werk am Stammsitz Zuffenhausen. 1.500 zusätzliche Mitarbeiter werden hier eingestellt und – im Zuge der Elektromobilitätsoffensive – rund sechs Milliarden Euro investiert. Ein Zukunftspakt von Belegschaft und Betriebsleitung ermöglicht diesen Kraftakt. Sie setzen gemeinsam das starke Signal: Der radikal neue Porsche – Vorstellungstermin Ende 2019 – wird an der Geburtsstätte der Marke entstehen. Er kehrt, indem er den Weg in die Zukunft weist, zu seinen Wurzeln zurück. Weckbachs Mission: beweisen, dass sich der Aufwand lohnt. Dass sich die Marke gleichzeitig erneuern und treu bleiben kann. „Als erster vollelektrischer Porsche muss der Taycan zeigen, dass er ein vollwertiges Mitglied der Marke Porsche ist“, sagt er. „Das ist natürlich eine große Herausforderung – und eine Riesenerwartung, intern wie extern.“
Die Erwartungen sind auch deshalb so hoch, weil der Taycan nichts weniger als der Vorreiter einer ganzen Reihe von Porsche-Modellen sein soll, die in den nächsten Jahren teil- oder vollelektrifiziert auf den Markt kommen. Schon 2025 – und damit quasi übermorgen – sollen nach Porsche-Planungen mehr als 50 Prozent der verkauften Neufahrzeuge mit einem elektrischen Antrieb unterwegs sein. Ob es tatsächlich so kommt, wird wesentlich davon abhängen, wie sich der Taycan und – kurze Zeit später – sein Derivat, der Cross Turismo, eine am Lifestyle orientierte Variante mit höherem Nutzwert, auf der Straße und am Markt bewähren. Die Marke muss sich also gleichzeitig häuten und treu bleiben. Sie muss ihre Fans begeistern und zugleich neue Kunden gewinnen, die heute möglicherweise noch nicht einmal ahnen, dass sie sich morgen für Porsche entscheiden werden. Sie muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. Fahrtechnisch gesprochen, muss sie Spur halten und gleichzeitig ausscheren, und das in voller Fahrt.
Wie lässt sich ein solches Manöver ausführen, ohne von Fliehkräften zerrissen zu werden? Für August Achleitner liegt ein wesentlicher Teil der Antwort im neuen 911. Mit Weckbach diskutiert er die vielen großen und kleinen Innovationen, die sie dem jüngsten 911 eingebaut und ihn gleichzeitig vor zu großem Veränderungswillen geschützt haben. „Auch dieser 911 wagt es nicht, seine eigene Legendenbildung infrage zu stellen“, lautet das Urteil eines unabhängigen Motorjournalisten. „Die markante Reibeisenstimme des künstlich beatmeten 3,0-Liter-Sechszylinder-Boxers kann kein Lärmschutzgesetz der Welt mundtot machen, das typische Leerlaufrasseln hat sich ebenso über die Jahrzehnte gerettet wie das Hochdrehzahlkrakeelen. Die Kombination aus Sport-Plus-Fahrprogramm und scharfgeschaltetem Sportauspuff lässt in baufälligen Tunneln bei Vollgas im kleinen Gang den Putz von der Decke bröckeln.“
Mit anderen Worten: Der neue 911 ist ungeachtet aller Innovationen ganz der Alte. Alles bleibt neu. Ist er damit der beste 911 aller Zeiten? „Natürlich“, antwortet Achleitner ohne Zögern. „Das ist er, wie bislang jede neue Generation die jeweils beste gewesen ist. Aber wir haben ja viele kreative Ingenieure, Designer und andere kluge Menschen an Bord, die auch dieses Mal sicher wieder Ideen haben werden, was man bei der nächsten Generation noch besser machen könnte.“
Bezeichnend aber ist vor allem, welche ihrer zahllosen Ideen Achleitner und sein Team im Zuge der Modellüberholung nicht umgesetzt haben, und zwar ohne Marktforschungsrunden oder Produktkliniken, sondern einzig und allein ihren Instinkten vertrauend. „Wir haben eine sehr spezielle Mannschaft bei Porsche, die selbst zu den größten Fans unserer Fahrzeuge gehört", wirft Stefan Weckbach ein. „Die wissen schon sehr genau, was richtig und weiterführend ist.“ „Mitunter meinen Außenstehende, wir müssten aufpassen, unsere DNA nicht zu verlieren“, sagt Achleitner. „Ich sehe da überhaupt keine Gefahr.“ Denn der Genpool der Marke stecke in den Menschen, die Porsche planen, denken, bauen und leben. Und wie jedes Erbgut verwandeln sich die prägenden Merkmale mit jeder Evolutionsstufe ein Stück weiter. Und bleiben sich gleichzeitig treu, indem sie sich permanent verändern.
Manchen erinnert diese Verwandlung an einen geradezu magischen Effekt. Wolfgang Porsche beispielsweise spricht vom „Zauber von Porsche“, der bewahrt werden müsse. Der Enkel von Ferdinand Porsche und Aufsichtsratsvorsitzende der Porsche AG erinnert daran, dass heute kein einziges Teil des 911 mehr mit seinem Pendant aus den 1960er Jahren identisch sei – und doch sei der Wesenskern der Sportwagenikone seit mehr als 50 Jahren immer gleich geblieben. „Es sind eben nicht die technischen Details, welche die Identität eines 911 ausmachen“, erklärt er. „Entscheidend ist, dass eine Sache ihrem Wesen nach authentisch bleibt. Und ich kenne kein Auto, das trotz aller Veränderungen von Technik und Zeitgeist in seinem Wesen so unverändert geblieben ist wie der 911.“
Wie dehnbar und zugleich robust die Porsche-Markenphilosophie tatsächlich ist, erwies sich in jenen Momenten, in denen der 911 doch einmal weitreichende Neuerungen erfuhr. Der Wechsel von Luft- zu Wasserkühlung beispielsweise oder die Entscheidung für den Turbo sorgten bei Hardcorefans zuverlässig für Schnappatmung. Zumindest im ersten Moment. Denn genauso zuverlässig stellte das überarbeitete Modell die Verkaufszahlen seiner Vorgänger jeweils in den Schatten – und widerlegte damit die Bedenken derjenigen, die den Klassiker bereits vom rechten Weg abkommen sahen „Unsere Leute leben und lieben Porsche“, sagt Achleitner. „Für sie ist ihre Arbeit nicht einfach nur ein Job. In Wirklichkeit sind sie daher selbst die sorgfältigsten Bewahrer der Porsche-Gene.“
Anderer Fall, ähnlicher Effekt: Auch die neu eingeführten Baureihen Cayenne, Panamera oder Macan sorgten jeweils für eine stärkere Akzeptanz der etablierten Baureihen. Was auf den ersten Blick paradox anmutet, ist auf den zweiten ein Beleg, dass die „Bewahrer der Porsche-Gene“ – wie August Achleitner sie nennt – ganz offensichtlich über einiges Geschick verfügen, den Kern ihrer Marke zu stärken, indem sie deren Substanz wie auch Ausprägungen beständig erneuern. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Taycan.
Glaubt man Stefan Weckbach, dann steht der jüngste Neuzugang der Porsche-Familie denn auch weder für radikale Disruption noch für einen Neuanfang. Der erste vollelektrische Porsche sei vielmehr schlicht „der nächste logische Schritt“, nicht einfach ein weiteres elektrifiziertes Premium-Fahrzeug, sondern vielmehr unzweifelhaft ein Porsche, auch wenn er digitaler und eben auch elektrischer sein wird als jeder Porsche zuvor. Es gebe ja durchaus sportliche E-Mobile am Markt, die anfangs beeindruckend beschleunigten, um jedoch dann an ihre Leistungsgrenzen zu gelangen, sagt Weckbach. „Für uns würde das nicht reichen. Ein Porsche muss reproduzierbare Performance bieten, das heißt: Er muss Höchstleistung bieten, auf konstantem Niveau.“
Weckbach erzählt, wie seine Entwicklerkollegen unter Hochdruck an vielen vermeintlich kleineren, einigen größeren und – vor allem – entscheidenden Schrauben drehen, um dieses Ziel mit gewohnter Präzision zu erreichen. Am intelligenten Kühlsystem beispielsweise, an den Elementen der innovativen 800-Volt-Technologie und vielen anderen Dingen, mit dem sie dem Taycan maximale Leistung, große Reichweite, kurze Ladezyklen und Porsche-typische Fahrdynamik einbauen. Der Anspruch, nie stehen zu bleiben und nie mit dem Erreichten zufrieden zu sein, sondern durch außergewöhnliche Leistungen das Feld anzuführen, auch wenn dies häufig einen außergewöhnlichen Einsatz erfordert: Auch das ist typisch Porsche.
Die Entscheidung beispielsweise, nach sieben Verbrenner-Jahrzehnten einen Porsche mit rein elektrischem Antrieb auszustatten, habe im Haus nicht den geringsten Widerstand hervorgerufen, erzählt Achleitner. „Im Gegenteil, es herrschte diese selbstbewusste Haltung vor: So, jetzt zeigen wir mal, dass wir auch einen vollelektrischen Sportwagen können. Etwas, das es bislang noch nicht gibt – so, wie wir vor ein paar Jahren mit dem Porsche Cayenne den ersten sportlichen SUV geschaffen haben.“ Zumal die Fokussierung auf die Antriebsart nach Achleitners Ansicht ohnehin zu kurz greift, genauer: gewissermaßen im Motorraum hängen bleibt. Das Antriebssystem sei bei Porsche nur ein Teil des Ganzen. Und für dieses Ganze seien andere Dinge entscheidend. Und dann erzählt Achleitner, wie er sich erstmals hinter das Lenkrad eines der ersten Taycan-Prototypen gesetzt habe. Wie er den Sitz und die Lenksäule eingestellt, das digitale Armaturenbrett gemustert und die „Grundergonomie“ des Fahrzeugs erspürt habe. Wie er dann die Augen geschlossen und gedacht habe: „Passt! Ein echter Porsche.“
Was aber ist das eigentlich, ein echter Porsche? Was kann, was darf, was muss sich evolutionär wandeln? Welche Eigenschaften der Marke sind unveränderbar? Da ist die sportliche Flyline, die ausgestellte Hüfte, die Kontur der Fenster, das Vier-Punkt-Tagfahrlicht oder der schmale Kopf auf breiten Schultern, anhand derer man einen Porsche schon lange erkennt, bevor überhaupt sein Motorengeräusch zu vernehmen ist. Für Stefan Weckbach sind darüber hinaus weitere Parameter prägend für Porsche: Fahrdynamik, Emotion, Qualität und Performance beispielsweise. „Was einen reinrassigen Porsche auszeichnet, ist die Tatsache, dass er seinen Fahrer immer aktiv miteinbezieht“, ergänzt Achleitner. „Und diese Philosophie steckt im Taycan ganz genauso wie im 911. Die Umgewöhnungszeit vom einem Fahrzeug zum anderen dauert ein paar Minuten. Wenn überhaupt.“
So gesehen sind beide Porsche-Modelle quasi auf derselben Ideallinie unterwegs, mit der die Marke fortgeschrieben wird. Jeder steht für eine eigenständige, unverwechselbare Persönlichkeit. Und doch sind sie sich in vielen wesentlichen Dingen unübersehbar ähnlich. Darin ähneln sie den beiden Baureihenleitern, die jetzt langsam wieder Richtung Hallenausgang schlendern. Beide Männer haben, auch wenn sie unterschiedlichen Generationen angehören, überraschend vieles gemeinsam. Beide sind in ihrer Freizeit so viel und so lange wie möglich auf Zweirädern unterwegs: Achleitner mitunter auch auf motorisierten Rädern, Weckbach stets im Sattel seines Mountainbikes. Beide arbeiten im Entwicklungszentrum Weissach nur ein einziges Stockwerk voneinander entfernt und tauschen sich, wann immer nötig, schnell und auf Zuruf aus.
Weckbach erzählt, wie er sich, kaum dass er seinen Job bei Porsche angetreten hatte, einen 997er Carrera S als Leasingfahrzeug zulegte. Wie damals, als er den Wagen mit großem Bedauern zurückgeben musste, sein Vater ihn gekauft habe. „Das Schöne ist: Das Auto steht noch heute in seiner Garage.“ Achleitners Porsche-Initiation reicht noch weiter zurück, bis in seine Jugend. Damals begleitete die Sendung Blickpunkt Sport des Bayrischen Fernsehens den Rennfahrer Walter Röhrl bei seiner Vorbereitung auf das 24-Stunden-Rennen von Le Mans. „Und zwar auf der Porsche-Teststrecke in Weissach“, wie sich Achleitner erinnert. Die Bilder des dynamischen Wagens und seines Fahrers hätten ihn damals einfach nicht mehr losgelassen. Was letztendlich dazu geführt habe, dass er, ein gebürtiger Münchener und Sohn eines BMW-Hauptabteilungsleiters, in den 1980er Jahren als junger Automobilingenieur seinen Weg nach Stuttgart und zu Porsche fand.
Als Entwickler erlebte er dann mit, wie sich die Produktfamilie Porsche auf eine Weise weiterentwickelte, wie sie viele nie für möglich gehalten hätten. Wie unter anderem ein SUV, ein Gran Turismo und ein Kompakt-SUV diese Familie ergänzten und ihre Fangemeinde erweiterten. Wie die Marke nicht trotz, sondern wegen ihrer Wandlungsfähigkeit Karriere machte. Achleitners Herz hing in all dieser Zeit immer am 911, „diesem eigentlich unvernünftigen und doch enorm alltagstauglichen Wagen“, wie er ihn nennt. In seiner Garage werde daher auch immer ein 911 parken. Als die beiden Männer schließlich die Halle verlassen und zu ihren Fahrzeugen gehen, ergänzt er noch: „Aber in Zukunft, da könnte ich mir da auch gut einen Taycan vorstellen.“
Info
Autor: Harald Willenbrock
Der Text erschien erstmalig im Porsche Geschäfts- und Nachhaltigkeitsbericht 2018.