Wie auf Schienen durch den Schnee

E-Fahrzeuge mit getrennt angetriebenen Rädern können dank der variabel verteilbaren Antriebskraft auch in kritischen Situationen stabil bleiben – wenn die Momentensteuerung Abweichungen vom Soll-Zustand zuverlässig erkennt und sofort reagiert. Porsche Engineering hat eine Lösung für E-SUVs entwickelt und getestet, die genau das leistet. Ohne zusätzliche Sensorik, ausschließlich per Software.

Es ist eine Situation, wie sie jeder Autofahrer fürchtet: eine schneebedeckte Straße, eine überraschend enge Kurve, kaum noch Zeit zu bremsen. Mit einem normalen Fahrzeug droht eine gefährliche Rutschpartie. Das Heck könnte ausbrechen, der Wagen unkontrolliert drehen und im Graben landen. Doch in diesem Test läuft alles anders: Der Fahrer lenkt ein, der SUV geht souverän in die Kurve – und verliert nicht mal an Tempo. Spätestens beim Blick aufs Tachometer (es zeigt 80 km/h) wird klar, dass hier kein gewöhnliches Fahrzeug unterwegs ist. Bei dem SUV, der in winterlicher Umgebung getestet wird, handelt es sich um ein elektrisch angetriebenes Allradfahrzeug mit vier Motoren – für jedes Rad einen.

Bislang war diese Antriebstechnik nur bei Mars-Rovern zu finden, jetzt ist sie im Alltag angekommen: Porsche Engineering hat unlängst für elektrisch angetriebene Serien-SUVs eine Drehmomentsteuerung entwickelt. Das bedeutete echte Pionierarbeit. „Vieles mussten wir komplett neu erarbeiten“, sagt Dr. Martin Rezac, Team Leader Funktionsentwicklung bei Porsche Engineering. Hinzu kam eine weitere Herausforderung: Die Fahreigenschaften sollten allein durch Software optimiert werden. Die Porsche-Ingenieure konnten keine zusätzlichen Sensoren einbauen und mussten die vorhandenen Steuergeräte nutzen. Gefordert war also quasi Fahrstabilität als App.

Drehmoment rein elektronisch geregelt

Grundsätzlich hat ein E-Allradfahrzeug mit mehreren Motoren gegenüber Benzinern und Dieseln einen großen Vorteil: Vorder- und Hinterachse bzw. alle vier Räder verfügen über eigene E-Maschinen, sodass sich die Antriebskraft sehr variabel verteilen lässt. „Das ist, als ob man für jede Achse oder jedes Rad ein eigenes Gaspedal hätte“, erklärt Ulf Hintze von Porsche Engineering. Im konventionellen Allradfahrzeug arbeitet nur ein Motor, dessen Kraft über ein Zentraldifferenzial auf die Achsen verteilt wird. Das Drehmomentverhältnis ist dabei in der Regel fest vorgegeben, also zum Beispiel ein Drittel vorne, zwei Drittel hinten. Theoretisch lässt sich das Verhältnis zwar ändern, doch dafür ist zusätzliche Mechanik nötig (eine Reiblamellenkupplung) – und die arbeitet relativ träge. Beim E-Auto dagegen wird das Drehmoment rein elektronisch geregelt, was wesentlich schneller geht als über mechanische Kupplungen. In jeder Millisekunde dosiert eine intelligente Software die Kräfte so, dass sich das Fahrzeug immer neutral verhält.

Dr. Martin Rezac, Porsche Engineering, 2019, Porsche AG

Genau eine solche Momentensteuerung hat Porsche Engineering für allradgetriebene SUVs realisiert. Die Software kann für unterschiedliche Konstellationen und Motoranordnungen eingesetzt werden – natürlich auch bei anderen E-Fahrzeugtypen. In der Regel wird zunächst die Basisverteilung entwickelt, also eine Software, die regelt, wie viel Kraft jeweils auf Vorder- und Hinterachse übertragen wird. Bei Geradeausfahrt und gleichmäßig verteiltem Gewicht wäre zum Beispiel eine Verteilung von 50/50 sinnvoll. Wenn der Fahrer beschleunigt, schaltet die Software auf kompletten Heckantrieb um – oder in einer scharfen Kurve auf reinen Frontantrieb. „Das Fahrzeug fühlt sich so spürbar stabiler an, selbst für den Beifahrer“, so Funktionsentwickler Rezac. Da die Optimierung rein elektronisch erfolgt, ist es theoretisch sogar möglich, dem Fahrer verschiedene Konfigurationen anzubieten: etwa einen Modus für den Sportwagen-Antritt, einen anderen für sanftes Cruisen.

Die zweite Aufgabe der Steuerungssoftware besteht darin, das Drehmoment an die Radgeschwindigkeit anzupassen. Dabei verfolgen die Algorithmen ein simples Ziel: Alle Räder sollen sich möglichst gleich schnell drehen. Auf einer trockenen Autobahn lässt sich das leicht erreichen, beim Fahren auf einer verschneiten Bergstraße dagegen ist die Aufgabe deutlich schwieriger. Berühren die Vorderräder beispielsweise eine vereiste Fläche, könnten sie – ohne elektronische Eingriffe – durchdrehen. Doch die Momentensteuerung erkennt die nicht-optimale Situation sofort und lenkt das Drehmoment in Sekundenbruchteilen auf jene Räder um, die sich langsamer drehen und noch Grip haben. In der Welt der Verbrennungsmotoren gibt es zwar etwas Ähnliches – das drehzahlfühlende Sperrdifferenzial, auch unter dem Handelsnamen „Visko Lok“ bekannt. In diesem Bauteil sorgen Zahnräder und Hydraulik dafür, dass sich kein Rad schneller als das andere dreht. Doch Mechanik ist träge. Beim elektrischen SUV dagegen übernimmt Software die Rolle des Differenzials – viel reaktionsschneller und natürlich völlig verschleißfrei.

„Das Fahrzeug fühlt sich spürbar stabiler an.“ Dr. Martin Rezac, Porsche Engineering

Die dritte und vielleicht wichtigste Funktion der Momentensteuerung besteht in der Kontrolle der Querdynamik, also darin, kritische Fahrsituationen zu entschärfen. So wie die eingangs erwähnte: rutschiger Untergrund, eine enge Kurve, hohes Tempo. Ein ungeregeltes Fahrzeug würde hier schnell untersteuern. Das heißt, der Fahrer schlägt das Lenkrad ein – doch das Fahrzeug rutscht mit unvermindertem Tempo weiter geradeaus. Die Steuerungssoftware im E-SUV unterbindet ein solches Untersteuern sofort. In einer Linkskurve würde sie das linke Hinterrad abbremsen und das rechte beschleunigen, bis wieder eine neutrale Fahrsituation hergestellt ist. Ähnliche Maßnahmen ergreift das System, sobald Übersteuern auftritt (das Heck bricht aus). Dabei bekommt der Fahrer von den Eingriffen bestenfalls nichts mit, weil die Momentensteuerung sehr subtil und schnell handelt. „Es fühlt sich an, wie auf Schienen zu fahren – ein SUV verhält sich so agil wie ein Sportwagen“, fasst Hintze den Effekt zusammen.

Das Beobachter-Modul passt auf

An allen Entscheidungen zum Eingreifen ist der Fahrzustandsbeobachter (von den Entwicklern nur „Beobachter“ genannt) beteiligt. Dieses Software-Modul kontrolliert ständig eine Vielzahl von Faktoren: wie stark das Lenkrad eingeschlagen wurde, wie viel Gas der Fahrer gibt und wie stark sich das Fahrzeug um die vertikale Achse dreht. Die Daten liefert ein Giersensor. Dieser Ist-Zustand wird mit einem Dynamikmodell des Fahrzeugs verglichen, das den Soll-Zustand unter normalen Bedingungen repräsentiert. Stellt der Beobachter Abweichungen fest, etwa weil über- oder untersteuert wird, greift die Software ein. Biegt das Fahrzeug zum Beispiel nicht so schnell in eine Kurve ein, wie es das beim aktuellen Lenkradeinschlag und Tempo zu erwarten wäre, werden einzelne Räder selektiv abgebremst, bis die Richtung wieder stimmt.

Das leistet zwar ein herkömmliches Fahrstabilitätsprogramm (ESP) auch – doch beim elektrisch angetriebenen Allradfahrzeug kann das Sicherheitssystem mehr: Während ein klassisches ESP ausschließlich abbremst, können beim Stromer einzelne Räder zusätzlich beschleunigen. So wird das Fahrzeug wieder in die richtige Spur „gezogen“ und verliert nicht an Geschwindigkeit. Außerdem ist der Eingriff weniger ruppig als beim hydraulischen ESP; das typische Ruckeln, wie man es vom Antiblockiersystem kennt, fällt weg.

„Es ist, als ob man für jede Achse ein eigenes Gaspedal hätte.“ Ulf Hintze, Porsche Engineering

„Die Entwicklung des Fahrzeugzustandsbeobachters war die größte Herausforderung“, so Rezac. Dass hier so viel Entwicklungsarbeit nötig war, liegt an einem grundsätzlichen Problem: Ein Auto weiß nur relativ wenig über seinen eigenen Zustand. Es kennt nicht seine eigene Geschwindigkeit, sondern kann sie nur aus der Drehung der Räder ableiten, was gerade auf Eis und Schnee schwierig ist. Deshalb muss der Beobachter zusätzliche Informationen über Längs- und Querbeschleunigung verwenden, um die Geschwindigkeit zu schätzen. Ebenso vage sind die Informationen über die Gewichtsverteilung. Die Federung erfasst zwar die Last auf den einzelnen Rädern, doch selbst diese Daten bieten keine Gewissheit, sondern höchstens Anhaltspunkte. Wenn die Stoßdämpfer zum Beispiel auf der Hinterachse ein erhöhtes Gewicht melden, kann das daran liegen, dass das Fahrzeug am Hang parkt – oder nur schwer beladen wurde.

Die Datenlage ist also dürftig. Und da laut Vorgabe des Kunden keine zusätzlichen Sensoren eingebaut werden durften, war beim SUV-Projekt die Kreativität der Softwareentwickler gefragt. „Der Beobachter muss die wichtigen Parameter des Fahrzeugs schätzen“, erklärt Rezac. Dafür werden auch ungewöhnliche Datenquellen genutzt: So kommuniziert die Momentensteuerung unter anderem mit einem Sensor, der den Neigungswinkel des Autos erkennt und üblicherweise für die automatische Einstellung der Scheinwerfer genutzt wird.

Ulf Hintze, Porsche Engineering, 2019, Porsche AG
32 Freiheitsgrade besitzt das Robotersystem AILA, darunter je sieben Gelenke pro Arm. Es dient als Plattform zur Forschung im Bereich der mobilen Manipulation.

Das gesamte Softwarepaket musste nicht nur entwickelt, sondern auch bei realen Testfahrten kalibriert werden. Und das zudem in sehr kurzer Zeit: Es standen nur zwei Winter zur Verfügung, in denen die Abstimmung auf einem zugefrorenen Fluss erprobt werden konnte. Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass der große Vorteil der Elektromotoren – ihre kurze Reaktionszeit – manchmal unerwünschte Nebenwirkungen entfaltet. „Die E-Maschinen regeln so schnell, dass Schwingungen entstehen können“, berichtet Hintze, der mit seinem Team die Testfahrten durchführte. In einigen Situationen verlagerte die Software das Drehmoment in immer kürzeren Abständen zwischen den Achsen hin und her, was zu einem hörbaren Hochdrehen der Motoren führte. Durch eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Kalibrierungs-Team und der Entwicklermannschaft von Martin Rezac gelang es jedoch schnell, dieses Aufschaukeln durch eine Anpassung der Steuerungssoftware zu unterbinden.

Genau in dieser Detailarbeit liegt die Herausforderung bei solchen Projekten. Da die Software in einem Serienfahrzeug eingesetzt werden soll, muss sie für alle nur denkbaren Situationen getestet werden, ganz gleich, wie unwahrscheinlich sie erscheinen mögen. Meldet ein Sensor zum Beispiel fehlerhafte Daten, muss die Momentensteuerung entscheiden, ob sie auch ohne die Datenquelle weiter funktionieren darf – oder abgeschaltet werden muss. Eine weitere Hürde ergab sich aus den Grenzen der elektrischen Antriebstechnik. Es kann zum Beispiel passieren, dass einzelne E-Maschinen die verfügbare Leistung der Batterien nicht umsetzen können. Solche Einschränkungen mussten die Funktionsentwickler mit einkalkulieren. „Der Regelbereich schrumpft in diesem Fall zusammen“, erklärt Hintze. Statt 100 Prozent Drehmoment auf einer Achse stehen womöglich nur 60 Prozent zur Verfügung. Auch darauf muss die Momentensteuerung Rücksicht nehmen. Doch alle Beteiligten sind sich sicher: Die Pionierarbeit hat sich gelohnt, denn in Zukunft wird das E-Auto mit bis zu vier Motoren seinen Exotenstatus verlieren. Und viele Autofahrer werden dann dankbar sein, dass sie wie auf Schienen durch Schnee fahren können.

Zusammengefasst

Porsche Engineering hat für ein allradgetriebenes E-SUV eine Momentensteuerung entwickelt, die in jeder Situation für maximale Stabilität und Sicherheit sorgt – ohne zusätzliche Sensorik an Bord. Alle vier Räder werden innerhalb von Millisekunden mit der optimalen Kraft angesteuert und stabilisieren das Fahrzeug. Die Software wurde von Porsche Engineering nicht nur entwickelt, sondern auch bei realen Testfahrten kalibriert, wofür nur zwei Winter zur Verfügung standen. Die Software eignet sich für unterschiedliche Konstellationen und Motoranordnungen.

Info

Text: Constantin Gillies
Fotos: Tobias Habermann

Text erstmalig erschienen im Porsche Engineering Magazin, Nr. 1/2019

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