Der Mond hat eine Außenstelle in Bremen. Neun Meter ist der Abhang des künstlichen Kraters breit, fünfeinhalb Meter Höhenunterschied sind von seinen unteren Ausläufern bis nach oben zu überwinden. Wer hinaufklettern will, muss Steigungen von 25 bis 40 Grad bewältigen. Menschen sind dabei aber meist nur Zuschauer, denn die Mondlandschaft ist als Trainingsgelände für Astronauten aus Stahl gedacht: In der Weltraum-Explorationshalle des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) üben Roboter selbstständige Erkundungsgänge auf dem Erdtrabanten. Die Wahl des Geländes ist kein Zufall: Krater und ihre Umgebungen gehören zu den interessantesten Orten auf Monden und Planeten, denn ihre Abhänge enthalten Sedimentschichten aus verschiedenen Epochen sowie Spuren von Material aus dem Sonnensystem. Außerdem liefern ihre Wände Informationen über die Entstehung von Monden und Planeten.
Schöpfer der kletternden Roboter ist Professor Frank Kirchner, der das Robotics Innovation Center des DFKI am Stadtrand von Bremen leitet und gemeinsam mit seinem Team an maschinellen Astronauten arbeitet. Seine Kreaturen sind oft biologisch inspiriert, zum Beispiel der vierbeinige Laufroboter „Charlie“, der aussieht wie ein Affe, oder „Mantis“, ein Wesen mit sechs Extremitäten, das einer Gottesanbeterin nachempfunden ist. Gerade steht „Coyote III“ in der künstlichen Mondlandschaft, ein grau-orangefarbener Rover mit sternförmigen Rädern und einer flachen Silhouette.
Intelligente und autonome Roboter sind für die Raumfahrt unverzichtbar, denn sie benötigen keine Nahrung und keinen Sauerstoff. Außerdem brauchen sie nach Ende einer Mission auch keinen Rückflug zurück zur Erde. Allerdings müssen sie in der Lage sein, sich zumindest teilweise selbst auf fremden Monden und Planeten zurechtfinden. Wie gut ihnen das gelingt, können sie im Bremer Kunststoff-Krater unter Beweis stellen. Gebaut hat ihn eine Firma, die sonst Kletterwände fürs Indoor-Climbing liefert. „Als Vorlage dienten Aufnahmen der Apollo-Astronauten von einem Krater am Südpol des Mondes“, erklärt Kirchner, einer der weltweit führenden Experten für autonome Weltall- und Unterwasserroboter.
Autonomes U-Boot für den Jupitermond
Die Weltraum- und die Unterwasserwelt haben mehr miteinander zu tun, als man auf den ersten Blick glauben könnte. Denn zu den interessantesten Plätzen im Sonnensystem gehört der Jupitermond Europa, unter dessen Eispanzer ein riesiger Ozean aus flüssigem Wasser vermutet wird – also ein Ort, an dem sich Leben entwickelt haben könnte.
„Für mich ist ein autonomes Auto ein Roboter, mit dem ich fahren kann“ Professor Frank Kirchner
Darum haben die Bremer Robotik-Experten auch einen acht Meter tiefen Wassertank gebaut, in dem sie unter anderem den „Europa-Explorer“ testen können: Der rohrförmige Bohrer „Teredo“ soll die zwischen 3 und 15 Kilometer dicke Eisschicht des Mondes durchdringen und danach das Unterwasserfahrzeug „Leng“ für die Untersuchung des Ozeans aussetzen. Weil Steuersignale von der Erde bis Europa zwischen 33 und 53 Minuten unterwegs wären, muss das torpedoförmige U-Boot autonom operieren. Kein Wunder also, dass sich die Forschungsgruppe in der „Weltraumstadt“ Bremen seit vielen Jahren intensiv mit Themen wie Sensorik, Aktuatorik und künstlicher Intelligenz beschäftigt. Ihre Ergebnisse kommen aber nicht nur der Raumfahrt zugute – Kirchner ist auch der Transfer in andere Bereiche wichtig, zum Beispiel für Roboter, die sich auf der Erde selbstständig in gefährlichen Umgebungen bewegen müssen. Mit großem Interesse verfolgt er auch die Entwicklung des autonomen Fahrens, auf das er naturgemäß einen besonderen Blick hat. „Für mich ist ein autonomes Auto ein Roboter, mit dem ich fahren kann“, sagt Kirchner.
Gemeinsamkeiten gibt es tatsächlich viele. So müssen sowohl autonome Fahrzeuge als auch Roboter auf fernen Himmelskörpern ihre Umgebung erfassen, analysieren und mithilfe der Informationen selbstständig kluge Entscheidungen treffen. Natürlich gibt es auf Mond und Mars keinen Straßenverkehr mit Ampeln, Verkehrsschildern und plötzlich auftauchenden Autos oder Fußgängern – trotzdem müssen auch Kirchners Roboter mit Dynamik zurechtkommen, etwa Sandstürmen und Tornados auf dem Mars oder stark veränderlichen Lichtverhältnissen auf dem Mond.
Orientierung ohne Karten
Im Gegensatz zu autonomen Fahrzeugen kommen ihnen bei ihren Missionen keine Karten des Geländes zu Hilfe. „Die Auflösung von Satellitenbildern ist mit einem Meter noch zu schlecht“, erklärt Kirchner. „Darum müssen die Roboter eigene Karten ihrer Umgebung aufbauen und sich selbst darin lokalisieren.“ Dafür haben Wissenschaftler die SLAM-Algorithmen (Self Localization and Mapping) entwickelt, wahrscheinlichkeitsbasierte Verfahren für die Orientierung in unbekanntem Terrain. „Alles begann mit der Navigation in Abwasserkanälen“, erinnert sich Kirchner. „Das war eine recht einfache Umgebung, sodass wir den neuen Ansatz dort sehr gut testen konnten.“ Ab Mitte der 90er-Jahre wurden die SLAM-Algorithmen dann auch im offenen Gelände und in Gebäuden eingesetzt. Vor etwa 15 Jahren gab es erste Anwendungen für die Selbstlokalisation autonomer Fahrzeuge.
Autonome Fahrzeuge sollten während der Nutzungsphase weiter dazulernen
Basis für die SLAM-Algorithmen ist die Objekterkennung in dynamischen Situationen, die ebenfalls schon frühzeitig von den Robotik-Experten vorangetrieben wurde. Die Herausforderung: Die Technik muss zuverlässig funktionieren, auch wenn sich die Kamera bewegt und sich die Umgebungsbedingungen durch Wetter und wechselnden Lichteinfall verändern – das gilt auf dem Mars ebenso wie auf der Erde. „In der Robotik hat die Objekterkennung viel an Reife und Robustheit gewonnen“, sagt Kirchner. „Die Mathematik dahinter ist die gleiche wie heute im Auto.“ Der Transfer ist aber keine Einbahnstraße: Die Roboter-Entwickler haben in den letzten Jahren stark vom Smartphone-Boom profitiert, der ihnen preiswerte Videokameras beschert hat. Und durch die weiterhin exponentielle Leistungssteigerung bei Mikroprozessoren – bekannt als Moore’sches Gesetz und auch von der Automobilindustrie angetrieben – werden ihre Schöpfungen immer intelligenter.
Aufgrund seiner eigenen Forschungen weiß er, wie anspruchsvoll es ist, ein Auto ohne menschlichen Eingriff durch den Straßenverkehr zu steuern. Kirchner ist selbst schon in zwei Versuchsfahrzeugen gesessen und war „sehr beeindruckt“. Als engagierter Beobachter der Entwicklung hat er natürlich auch eigene Ideen zum Thema. „Autonome Autos sollten während ihrer Nutzungsphase lernen“, schlägt er vor. „Man kauft ein Fahrzeug mit Grunderfahrungen, das sich während des Betriebs gemeinsam mit den anderen Autos auf der Straße weiterentwickelt.“ Das wäre dann Lernen im Kollektiv – genauso wie bei den kollaborativen Robotern, die heute Einzug in die industrielle Fertigung halten: Sie müssen mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Menschen zurechtkommen und teilen darum ihre individuellen Erfahrungen miteinander, etwa über eine Cloud.
„Wir sehen heute beim autonomen Fahren zu sehr auf die einzelnen Algorithmen – aber die kennen wir ja schon sehr gut und lange, teilweise seit den 50er-Jahren“, sagt Kirchner. „Wichtiger ist die Organisation von Wissen. Es kommt darauf an, die einzelnen Komponenten des Wissens miteinander zu vernetzen – etwa durch kollektives Lernen. Das Fahrzeug muss ein lebenslang lernendes System sein.“ Und dafür sollte es auch hin und wieder träumen: Kirchners Team arbeitet im EU-Projekt „Dreams4Cars“ mit, das die Sicherheit autonomer Fahrzeuge verbessern will. Ähnlich wie bei inneren Bildern oder Träumen soll die Steuerungssoftware reale Verkehrssituationen in einer Simulationsumgebung immer wieder durchspielen, dabei alternative Reaktionen testen und so selbst für außergewöhnliche Ereignisse gerüstet sein. Man darf also gespannt sein, welche Ideen der Bremer Robotik-Experten in Zukunft den Weg vom Mond auf die Erde finden werden.
Info
Prof. Frank Kirchner ist einer der weltweit führenden Experten für autonome Weltall- und Unterwasserroboter. Er ist Standortsprecher des DFKI Bremen und verantwortet den Forschungsbereich Robotics Innovation Center mit über 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Text: Christian Buck
Fotos: Cosima Hanebeck; DFKI
Text erstmalig erschienen im Porsche Engineering Magazin, Nr. 1/2019