„Die Rennstrecke der Isle of Man TT ist wie ein lebender Organismus – sie verändert sich stetig. Bei einer Länge von 60,7 Kilometern kann man vorher nie genau sagen, wie die Bedingungen auf der Straße aussehen werden. Auf einer Rennstrecke kann man seine Rundenzeiten im Zehntelsekundenbereich verbessern – es gibt immer die ein oder andere Stelle, an der man noch etwas Zeit herausholen kann. Aber wenn man an der Startlinie der Tourist Trophy steht, man die Strecke zwei Tage lang nicht gesehen hat und direkt Vollgas geben muss, kann einem das schon etwas Angst einjagen.“ 

Mark Higgins sitzt in einem gut besuchten Café an einem Ecktisch und blickt durch die verregnete Fensterscheibe hinaus, während er versucht die Herausforderung in Worte zu fassen, auf dem, wie er es nennt, „interessantesten, aufregendsten und gefährlichsten Kurs auf der ganzen Welt“, einen Rundenrekord aufzustellen. Er weiß, wovon er spricht. Der dreifache britische Rallye-Champion hält auf der berüchtigten Bergstrecke den Rundenrekord für vierrädrige Fahrzeuge mit einer unfassbaren Durchschnittsgeschwindigkeit von 207,171 km/h. Damit liegt er nur knapp hinter den rasend schnellen Superbikes, die sich aktuell bei der Isle of Man TT 2019 messen.

718 Boxster GTS, Isle of Man, 2019, Porsche AG
Bei der Isle of Man TT 2019 treten Superbikes gegeneinander an

„Es ist schon fast wie ein Kampf der Gladiatoren“, erzählt Higgins in seinem für die Bewohner der Isle of Man typischen Tonfall. „Wenn man hier eine Kurve nicht richtig nimmt, kann das böse enden.“

Damit hat er zweifellos recht. Die meisten modernen Rennstrecken verfügen über Kiesbetten, Reifenstapel und Schutzzäune, doch solche Sicherheitsvorkehrungen sucht man bei der TT vergeblich. Wählt man eine falsche Linie, macht man Bekanntschaft mit dem, was die Rennfahrer „Streckenmobiliar“ nennen: einer Hauswand, einem Laternenpfahl oder, wenn man Glück hat, dem etwas angenehmeren Gebüsch. Der ehemalige Isle-of-Man-TT-Gewinner Richard „Milky“ Quayle brachte es gegenüber der New York Times kürzlich so auf den Punkt: „Wenn Roger Federer einen Fehler macht, verliert er einen Punkt. Wenn ich den Scheitelpunkt einer Kurve verfehle, verliere ich mein Leben.“

Warum geht man ein solches Risiko ein? „Es ist die Herausforderung, die mich reizt“, erklärt Higgins. „Ein Rennen auf vollständig gesperrten öffentlichen Straßen gibt einem ein unbeschreibliches Gefühl. Es ist einfach etwas ganz Besonderes.“

Mark Higgins, Rallye-Champion, Isle of Man, 2019, Porsche AG
Das Rennen auf gesperrten öffentlichen Straßen ist für Higgings eine besondere Herausforderung
„Der Motorsport ist hier allgegenwärtig. Wo man auch hingeht, man kann ihm nicht entgehen. Dafür ist die Insel einfach zu klein. Meine Großeltern sind als Team Rennen gefahren, genau wie meine Eltern. Meine Mutter war sogar auch mein erster Beifahrer.“ Mark Higgins

Über Higgins‘ Schulter erblickt man liebevoll ausgestellte Motorrad-Kunstwerke, Renntrophäen und Schutzhelme, auf denen noch die Insekten kleben. Das Café mit dem Namen Conrod‘s wird von einem guten Freund von Higgins, der Motorradlegende der Insel Conor Cummins geführt, der es während seiner Reha-Phase nach einem besonders spektakulären Unfall beim TT-Rennen 2010 eröffnete.

Häufig bedient er die Gäste, doch nun da im Juni zehntausende Besucher auf die Insel kommen und das Rennfieber seinen Höhepunkt erreicht, wendet sich auch Cummins wieder ganz dem Renngeschehen zu.

Als die Wolkendecke endlich aufreißt, kann Higgins es kaum erwarten, das Conrod‘s und den kleinen Ort Ramsey hinter sich zu lassen. Er beschleunigt mit dem 718 Boxster GTS aus der Haarnadelkurve heraus, die aus dem Ort in die Berge führt, während die Sonne Lichtflecken auf den schmalen Asphaltstreifen wirft und die Sicht auf vielen Streckenabschnitten noch erschwert. Higgins scheint das nicht zu stören: Er manövriert mit traumwandlerischer Sicherheit durch eine von Steinmauern gesäumte Kurve nach der nächsten.

Eine der Traumstrecken weltweit

Auf diesem Bergabschnitt des TT-Kurses gilt kein Tempolimit, weshalb er bei vielen als eine der Traumstrecken der Welt gilt. Higgins favorisiert hingegen andere Abschnitte. „Da es kein Tempolimit gab, haben wir in unserer Jugend am Berg immer gerne die Herausforderung gesucht. Tatsächlich liegen die besten Straßen aber in der Mitte der Strecke.“

Bei der Anfahrt auf Cronk-ny-Mona – die Linkskurve wird in der Rennwoche mit einer Spitzengeschwindigkeit von 260 km/h gefahren – nimmt er unvermittelt eine Rechtskurve und jagt eine unfassbar enge Fahrbahn hinab. „Genau das meine ich: Für mich ist das der beste Streckenabschnitt der Welt. Die von Bäumen gesäumte Straße ist äußert schmal, extrem schnell und anspruchsvoll.“

Den meisten würde diese Strecke unfahrbar erscheinen – ganz zu schweigen davon, dass man hier ein Rennen fahren könnte. Doch Higgins steuert den 718 souverän über jede Bodenwelle, Spurrille und Radsturzänderung und entlastet so die Aufhängung.

In jeder neuen Kurve holt er Erinnerungen hervor, als wäre es das Gebetbuch eines Rallye-Fahrers. „Das hier fährt man alles mit Vollgas ... die Kurve dort vorne nimmt man im sechsten Gang ... Man stellt sich einfach die Fahrlinie durch die Kurve vor und dirigiert das Auto mit den Fingerspitzen ... Man springt förmlich von einer Seite der Straße zur anderen ... Es ist kaum vorstellbar, wie schnell wir hier herunterfahren.“

Higgins' beeindruckende Rennkarriere

Am Ende der Etappe fährt Higgins an den Straßenrand, steigt aus dem Wagen und schaut sich zufrieden um. Seit er die Insel 1993 verließ, hat er eine beeindruckende Rennkarriere hingelegt: Er gewann drei britische Rallye-Meisterschaften, zahlreiche Stints der World Rallye Championship und einige Male im Rallye-Cross. Nicht zu vergessen natürlich der TT-Rundenrekord für vierrädrige Fahrzeuge. Doch mittlerweile hat man größere Chancen, ihn an einem Filmset zu treffen als auf einer Rallyestrecke: Seine prominenteste Rolle ist die als Stunt-Fahrer für die James-Bond-Filme.

Eine Arbeit, die einzigartige Momente beschert. Wann hat man sonst schon die Gelegenheit, „mit über 160 km/h über den Platz vor dem Vatikan zu jagen?“ Higgins, der sich an den sanft knisternden Boxster lehnt, blickt auf seine Uhr. Schon bald wird er die Insel wieder verlassen und zu einem weiteren Hollywood-Filmjob fliegen, doch seine Körpersprache lässt Widerwillen erahnen. Er schmunzelt. „Ich bin auf der Isle of Man geboren und aufgewachsen. Ich fühle mich eng mit der Insel verbunden – sie ist mein Zuhause. Und wenn ich die Möglichkeit bekomme, auf diesen Straßen zu fahren ... nun, es gibt für mich nichts Vergleichbares.“

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