Punkte sammeln hat für Autofahrer selten etwas mit Teamwork zu tun. Außer auf einem zugefrorenen See in Schwedisch Lappland. Denn dort gibt es Elchpunkte für das Verlassen einer vorgegebenen Strecke. Einen Punkt, wenn es die Teamkollegen schaffen, das Fahrzeug aus dem Schnee zu schieben, drei Punkte, wenn der Abschlepphaken verwendet werden muss. Alles nur Spaß, klar, dabei sein ist alles, es geht doch um nichts, oder? Also Elchpunktbutton an die Jacke stecken und lächeln. Erste Lektion: Ein Abflug verhunzt den Track. Bühne frei für den wichtigsten Mann auf Schnee und Eis: den Icemaker.
Am 1. Dezember beginnt die Saison für ihn. Warum genau an diesem Tag? Johan Sellbom zuckt mit den Schultern: „Weil das schon immer so war.“ Der gebürtige Schwede ist 31, Sternzeichen Wassermann, ihm gehört ein Drittel des Sees, der 859 Autokilometer nördlich von Stockholm liegt. Johans Fuhrpark ist beeindruckend, Schneemobile und Spezialtraktoren, neben denen ein Porsche 964 aussieht wie ein Modellauto. „Das Präparieren des Sees beginnt immer mit Eisdickemessungen, anschließend legen die Verantwortlichen das Streckenlayout fest“, erzählt er. Dann gilt es, Schnee wegzublasen und die „Elchstraße“ freizuräumen. Knapp 170 Stunden später ist die Verbindungsstraße quer über den See fertig. Angeleitet von GPS-Daten, fräst Johan links und rechts der Elchstraße die einzelnen Tracks in Schnee und Eis, beispielsweise ein Teilstück der belgischen Rennstrecke Spa-Francorchamps. Oder einen Track, der nur aus Kurven besteht, der heißt dann Curves, wie praktisch. Ob der Icemaker perfekt driften kann? Da regt ihn schon die Frage auf: „Ich könnte hier als Instruktor arbeiten, wenn ich Zeit dafür hätte“, sagt er und lächelt. Noch ein paar Kurven vom Schnee befreien und dann ab nach Hause. In der Nacht soll es schneien, da zieht der Icemaker wieder seine Runden. Und am nächsten Morgen ist alles perfekt, während der wichtigste Mann kurz schläft.
Den zweitwichtigsten Mann vor Ort erkennen Petrolheads schon an der Stimme: Patrick Simon. Der gebürtige Wiesbadener ist Streckensprecher der VLN Langstreckenmeisterschaft am Nürburgring, ADAC-GT- Masters-Kommentator, Formel-E-Kommentator, Moderator – aber eben auch Rennfahrer und Instruktor. Er startete seine Karriere 1988 im Kartsport, es folgten Einsätze in Serien wie dem Porsche Carrera Cup, der Deutschen Tourenwagen Challenge, Rennen auf der Nordschleife, Siege der deutschen und europäischen Meisterschaft in der Formel Ford, Klassensiege in der European Le Mans Series und beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring. Im Winter zieht es den dreifachen Vater nach Schwedisch Lappland. Für vier Wochen, mindestens: „Ich werde nie müde, den Spirit der alten Autos zu erleben. Mit einem Porsche auf einem zugefrorenen See zu fahren, das fühlt sich einfach großartig an“.
Er ist 1,93 Meter groß und sieht aus, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen. Diese Gelassenheit weicht unbändiger Freude, wenn er über das Winter-Performance-Training spricht, das er ins Leben gerufen hat: „Ice & Iron ist ein wahr gewordener Männertraum. Wo sonst hat man die Gelegenheit, alte Autos so im Grenzbereich zu bewegen?“, sagt Patrick und steigt in den Porsche 964 C2, Baujahr 1991. Im Winter findet das Programm zum dritten Mal statt, den Sommer hat er bereits für die Vorbereitung genutzt, unter anderem weitere Fahrzeuge aufgebaut. „Bei meinem Programm lernen die Teilnehmer kontrolliertes Driften auf einem zugefrorenen See. Das Sektionstraining führt gezielt zum Lernerfolg, beginnend mit Übungen zum richtigen Bremsen, Ausweichen, Lastwechsel. Auf unterschiedlichen Handlingparcours werden die Teilnehmer in kleinen Gruppen Schritt für Schritt an den Grenzbereich des Fahrzeugs und an ihren eigenen herangeführt“, erklärt der 44-Jährige und fährt los, das Funkgerät in der linken Hand. Die Teilnehmer folgen ihm zum nächsten Track. Patrick zeigt ihnen noch einmal, wie die letzte Runde eines mehrtägigen Winter-Performance-Trainings aussehen könnte, das Ziel sozusagen. Wenn jemand wie er sagt, dass sich der Alltag in einem Porsche 964 besonders gut vergessen lässt, sollte man ihm glauben. Vor allem dann, wenn er gerade viele Kreise auf einen zugefrorenen See gezirkelt hat.
Alle sind motiviert bis zum Gehtnichtmehr. Jeder möchte die Zeit um sich herum vergessen, an nichts mehr denken, nur noch an den perfekten Lenkwinkel, die richtige Dosierung des Gasstoßes, den perfekten Moment, um auf der Bremse oder dem Gas einen Drift einzuleiten. Und dann überkommt es dich auch schon, dieses Gefühl, dass du es endlich kapiert hast, für immer. Nie wieder wirst du einen Drift vermasseln. Ist doch total einfach. Gleich die erste Linkskurve nimmst du so wundervoll quer, dass du dir sicher bist, niemand könnte dieses Auto in diesem Moment besser im Grenzbereich bewegen als du selbst. Der Lastwechsel zur leichten langen Rechtskurve, sensationell, du hast es geschafft, jetzt noch die lange Links, sehr schnell, Fast Track eben, Gasstöße, weiter, weiter, weiter, nicht den Mut verlieren. Patrick motiviert dich vom Rand, Daumen hoch, nächste Runde, es knistert im Funk, er ermahnt deine Blickführung im Anflug von grenzenloser Selbstüberschätzung, während du dich innerlich gerade selbst feierst – und schon hast du es vermasselst. 180 Grad. Umdrehen, weitermachen, bloß keine Sekunde ans Aufgeben denken, Le Mans gewinnt man auch nicht in der ersten Runde.
Sonnenuntergänge können nirgendwo auf der Welt theatralischer sein als in Schwedisch Lappland, die letzten Minuten Licht lassen die kleinen Schneekristalle förmlich glühen und vor den Augen tanzen, der 964 zieht seine vorerst finalen Kreise. Im Winter fallen die Temperaturen bis minus 40 Grad, mit viel Glück und ein wenig Geduld flackern Nordlichter am Himmel auf. Dank ihrer geografischen Nähe zum magnetischen Nordpol ist die Wahrscheinlichkeit, dieses Lichtspektakel zu sehen, in der Region um Pjesker ziemlich hoch. Bevor gleich alle ihren Kopf in den Himmel recken, steht die berüchtigte Nachtprüfung von Ice & Iron an. Dunkelheit, ein noch unbekannter Track, Lichtschranken. Zweite Lektion: Sobald eine Strecke auf Zeit gefahren wird, entstehen ganz unfreiwillig Wettkampfgedanken. Natürlich, es geht um nichts. Jeder möchte nur dabei sein. Und doch krallen die Teilnehmer ihre Hände so sehr ins Lenkrad, dass die Knöchel weiß werden, die Pupillen sind riesig von der Dunkelheit, verengen sich kurz vor dem Start vor Anspannung zu einem Stecknadelkopf. Arme und Nacken schmerzen von den Trainingstagen zuvor, der Muskelkater als Erinnerung daran, dass die Haftungsgrenze in einem Youngtimer keine andere ist als in einem neuen Fahrzeug. Er fühlt sich nur ein wenig mehr als Trophäe an. Elchpunkte hin oder her.
Im Winter fallen die Temperaturen in Schwedisch Lappland bis -40 Grad. Beim Driften kommen die Teilnehmer ins Schwitzen. Und spätestens bei der Nachtprüfung lohnen sich dann auch die vielen Scheinwerfer.
Porsche 911 (964) Carrera 2 Coupé
Motor Sechszylinder-Boxermotor
Hubraum 3.600 cm³
Verdichtung 11,3:1
Leistung 250 PS (184 kW) bei 6.100 U/min
Drehmoment 310 Nm bei 4.800 U/min
Getriebe 5-Gang-Schaltgetriebe
Leergewicht 1.350 kg
Info
Text erstmalig erschienen im Magazin „Porsche Klassik“, Sonderausgabe „8 Generationen 911“
Autor: Christina Rahmes
Fotos: Henrik Heutgens and Patrick Simon
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