Die Zentauren

Deutschland will künstliche Intelligenz nutzen, um seine industrielle Spitzenposition zu verteidigen. Porsche fördert den Einsatz von Zentaurensystemen, die Mensch und Maschine kombinieren. Welches Potenzial steckt dahinter?

Erst schachmatt und dann auch noch beim Pokern und im Brettspiel Go verloren: Angetreten, die Menschheit zu verteidigen, schlich am 11. Mai 1997 der damalige Schachwelt­meister Garry Kasparov nach der sechsten Partie gegen den IBM-Computer Deep Blue geschlagen vom Platz. Zwei Jahrzehnte später düpierte der Supercomputer Libratus von der Carnegie Mellon University die besten Pokerspieler der Welt in der Spielerstadt Las Vegas. Fast gleichzeitig ging der Chinese Ke Jie, damals der weltbeste Go-Spieler, vor dem Google-Programm AlphaGo in die Knie.

Aus bloßem Spiel ist harter Alltag geworden: Immer häufiger versucht künstliche Intelligenz (KI), menschliche Wahrnehmung und menschliches Handeln durch Maschinen ­nachzubilden. Was einmal als Methode der Computer­programmierung begann, wächst mehr und mehr mit der Erforschung menschlichen Denkens zusammen.

Die Bundesregierung hat eine Strategie „Künstliche Intelligenz“ verabschiedet

Digitale Assistenten oder lernende Maschinen sollen den Menschen entlasten, das Leben leichter, sicherer, vorausschaubarer machen. Sie analysieren das Nutzungsverhalten von Kunden, sagen die Lebenserwartung voraus, finden den besten Kandidaten für einen Job, spekulieren an der Börse, durchforsten ­Geschäftsberichte oder warnen vor Gefahren, ­bevor sie eintreten. Geht es nach der Beratungsfirma McKinsey, wird durch den Einsatz von KI bis 2030 weltweit ein Wertschöpfungszuwachs von 13 Billionen US-Dollar möglich. Damit ließe sich der Gesamtwert des weltweiten Bruttoinlandsprodukts zusätzlich zu sonstigem Wachstum um jährlich 1,2 Prozent steigern. Die Einführung von Industrie­robotern in den 1990er Jahren, so die Berater, hatte dagegen nur für 0,6 Prozent mehr Wachstum pro Jahr gesorgt.

Die Botschaft kommt an: Im November 2018 hat die Bundesregierung eine Strategie „Künstliche Intelligenz“ verabschiedet, mit der sowohl die Forschung in Deutschland als auch Anwendungen in der Wirtschaft gestärkt ­werden sollen. Dafür stellt die Regierung zusätzliche Investitionen in Milliardenhöhe sowie 100 zusätzliche Lehrstühle an den Hochschulen in Aussicht.

Leistungsfähige neuronale Netze, mit deren Hilfe Maschinen unstrukturierte Informationen wie Videobilder analysieren können, standen bereits Ende des 20. Jahrhunderts zur Verfügung. Die damit verbundene enorme Rechenkapazität konnten jedoch nur raumfüllende Großrechner in Forschungszentren bewältigen. Die exponentiell steigende Datenflut, getrieben zunächst von der Suche nach immer besserer Grafik in Computerspielen, stemmen heute Maschinen in Kühlschrankgröße. Über das Smartphone und vernetzte Heimassis­tenten ist der Zugriff auf solche Server für jedermann und von fast überall aus möglich.

KI-Systeme sind hoch spezialisiert

Heutige KI-Systeme sind hoch spezialisiert: Die einen haben gelernt, Bilder von mensch­lichen Gesichtern zu analysieren, die anderen erkennen den Sinn hinter gesprochenen Befehlen. Wieder andere durchforsten gewaltige Datenmengen auf auffällige Korrelationen.

Diese „schwache“ künstliche Intelligenz erreicht oder übertrifft in Teilbereichen menschliche Intelligenz. „Starke“ künstliche Intelligenz dagegen operiert mindestens auf dem gleichen Niveau wie das menschliche Gehirn – denkbar, aber noch weit entfernt. „Bis Maschinen auch nur annähernd die motorischen und kognitiven Fähigkeiten des Menschen haben, vergehen vermutlich Jahrzehnte“, sagt Frank Kirchner vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Kaiserslautern.

Das Team Mensch-Maschine

Schon heute arbeitet der Mensch wie selbstverständlich Hand in Hand mit Robotern in hybriden Teams, unterstützt von intelligenten Assistenzsystemen. Die Fabrik der Zukunft ist flexibel, sicher und produziert Serien bis hin zu individuellen Einzelprodukten unter optimalem Einsatz von Ressourcen.

Was KI in der Medizin leisten kann, zeigt der ­digitale Herz-Zwilling. 30 bis 50 Prozent der Patienten einer kardialen Resynchronisationstherapie (CRT) sprechen auf die Behandlung, bei der ein Schrittmacher eingesetzt wird, nicht an. Der digitale Herz-Zwilling soll schon vor dem Eingriff unter Einsatz von künstlicher Intelligenz helfen, den Erfolg besser abzuschätzen und die Behandlung präziser zu planen.

Vordenker des Teams Mensch-Maschine war ausgerechnet das unterlegene Schachgenie Kasparow: Grundsätzlich sei diese Kombination in der Lage, den schnellsten im Alleingang ­arbeitenden Computer zu schlagen. In der griechischen Mythologie verbindet der Pferdemensch die Intelligenz eines Mannes mit der Schnelligkeit eines Rosses. Sogenannte ­Zentaurensysteme stellen das Zentrum aller Entwicklungen dar, mit denen Unternehmen die eigene Produktivität durch künstliche Intelligenz ­verbessern: in der Administration ­genauso wie in der Produktion oder im Vertrieb.


Mattias Ulbrich, seit September 2018 neuer Chief Information Officer (CIO) von Porsche, sieht in künstlicher Intelligenz einen Schwerpunkt der IT-Strategie: Menschliche Arbeit soll nicht verdrängt, sondern sinnvoll ergänzt werden. „Künstliche Intelligenz erhöht die ­Produktivität in der gesamten Wertschöpfungs­kette“, sagt Ulbrich. „Dadurch hat der Mensch künftig mehr Zeit für das Wesentliche.“ Zum Wesentlichen gehören für ihn: kreative Lösungen finden, Gespräche führen oder die richtigen Entscheidungen in komplexen Situationen treffen. „So ­wenig Körperkraft heute einen ­guten Mitarbeiter in der Produktion ausmacht, so wenig relevant sind in Zukunft rein formale Qualifikationen.“ 

In einem ersten Schritt identifizierte Ulbrich gemeinsam mit allen Fachbereichen geeignete Anwendungsfelder für KI-Technologien. Allein in Beschaffung und Finanzwesen fanden sich mehr als zwei Dutzend potenzielle Anwen­dungen. Auch das Porsche Digital Lab in Berlin treibt das Thema voran. „Aber es ­besteht ein großer Unterschied zwischen dem potenziell Möglichen und dem tatsächlichen Bedarf nach stabilen Systemen für den laufenden Geschäftsbetrieb“, so Ulbrich. Beispielsweise sei der Einsatz von KI-Methoden nur dort sinnvoll, wo bereits qualitativ hochwertige Daten zur Verfügung stehen. „Wir schlagen die ­Brücke zwischen zwei Welten.“

Porsche investiert gezielt in ein eigenes ­KI-Kompetenzzentrum. 30 bis 40 Experten sollen in den kommenden zwei Jahren aufgebaut werden. Keine leichte Aufgabe, denn qualifiziertes Personal auf diesem rasch wachsenden Feld ist ebenso rar wie wählerisch. ­Ulbrich ist trotzdem zuversichtlich. Sein Pfund: die Art, wie Porsche KI sowohl im Fahrzeug aber auch in den Prozessen wie der Fabrik der Zukunft einsetzen will.

Porsche-Entwickler setzten auf maschinelles Lernen

Beispiel Motorsport: Im Juni 2018 pulverisierte ein Porsche 919 Hybrid Evo den 35 Jahre ­bestehenden Rundenrekord auf der Nordschleife des Nürburgrings um fast eine Minute, obwohl die „grüne Hölle“ seither deutlich ­anspruchsvoller geworden ist. Flexibel ver­stellbare Spoiler am Heck des Rennwagens ­sorgten in jeder Passage für den optimalen ­Anpressdruck. Alle Geometrien und Einstellmöglichkeiten der Spoiler, die sich zudem ­gegenseitig beeinflussen, sowie die Streckeneigenschaften vorab mit konventionellen ­Methoden zu simulieren, würde selbst Hochleistungsrechner an den Rand ihrer Kapa­zitäten zwingen. Porsche-Entwickler setzten ­deshalb auf maschinelles Lernen – und ­schrieben Motorsportgeschichte.

Daten bestimmen viele Management-Entscheidungen

Das auf dem härtesten Rennkurs der Welt ­erprobte Vorgehen, so Ulbrich, sei langfristig auf die Steuerung des gesamten Unternehmens übertragbar. Daten bestimmen schon heute viele Management-Entscheidungen. Diese beruhen meist auf der Vergangenheit, oder auf unsicheren Vorhersagen. Daten in Echtzeit können dagegen die Entscheidungsqualität verbessern. Angesichts der Fülle an ­Informationen wäre ohne KI-Methoden ein ­solches System für das Topmanagement ­undenkbar.

Eine ganz andere Form der Unterstützung menschlicher Arbeit untersucht das Porsche Digital Lab. Als Forschungsobjekt dient hier ­unter anderem eine Kaffeemaschine. Der Hintergrund: KI-basierte Software zur Bild­erkennung ist hoch entwickelt. Über den technischen Zustand eines Systems verrät jedoch dessen Klang oft mehr als der äußere Anschein. Impft man ein auf Mustererkennung spezialisiertes KI-System mit typischen Klangbildern, kann es Abweichungen erkennen und Alarm schlagen. So wie ein umsichtiger Fahrer stoppt, sobald der Motor ein ungewöhnliches Geräusch von sich gibt, warnt ein solches System rechtzeitig, bevor ein Schaden auftritt.

Ein System zur Klanganalyse

„Jedes mechanische System hat einen eigenen akustischen Fingerabdruck“, so Claudio Weck, Mitarbeiter im Digital Lab. „Abweichungen sind fast immer Hinweise auf eine deutliche Veränderung des Systemverhaltens.“ Allerdings ist es nicht einfach, solche Abweichungen in einer lauten Umgebung aufzuspüren, beispielsweise in einer Produktionshalle. Akustische Schwingungen überlagern sich gegenseitig – etwa so wie die Wellen eines Sees, wenn ein Stein ins Wasser plumpst. Daher stoßen bei der Klanganalyse, sofern sie nicht in einem schallgedämmten Akustiklabor stattfindet, klassische, rechnergestützte Auswerteverfahren schnell an ihre Grenzen. Wie weit man dagegen mit neu­­ronalen Netzen kommt, testete das Team an der Kaffeemaschine. Später präsentierten sie die Ergebnisse ihrer Arbeit auf einer Porsche-­Hausmesse. Da machte es bei einem Pro­­duktions­­­verantwortlichen im Wortsinn „Klick“. In der Fahrzeugmontage müssen viele elek­trische Kontakte gesteckt werden. Manchmal ist das Einrasten des Steckers nur am typischen Klicken zu hören. Zwar wird die gesamte Fahrzeugelektrik nach der Montage getestet, doch in Grenzfällen kommt ein elektrischer Kontakt auch dann zustande, wenn der Stecker nicht vollständig eingerastet ist. Ein System zur Klanganalyse, so die Idee aus dem Lab, sorgt für absolute Sicherheit. 

   

Der Klangdetektiv kann es noch weit bringen. Ein Prüfstand im Porsche-Entwicklungs­zentrum in Weissach untersucht die Funktion der elektrisch anklappbaren Außenspiegel. Der Test läuft im Dauerbetrieb. Dabei kommt es nicht nur auf Festigkeit und Geschmei­digkeit an. Auch das Klangbild soll konstant bleiben – eine anspruchsvolle und zeitinten­­sive Aufgabe für den Prüfstandbetreuer. Mit einem KI-System könnte er seinen Horch­posten verlassen und den nächsten Dauer­lauftest vorbereiten.

Joachim Deisinger verantwortet bei Porsche das virtuelle Fahrzeug. Ein Ziel ist, bis zum Jahr 2025 die Zahl der sogenannten Baustufenfahrzeuge um die ­Hälfte zu verringern. Baustufenfahrzeuge sind reale Proto­typen, gebaut zum Teil in Handarbeit für Tests während der Entwicklungsphase. Jetzt sollen sie schritt­­weise durch virtuelle ­Abbilder ersetzt werden. Das spart nicht nur Kosten und Zeit, sondern schont auch die ­Umwelt durch weniger Res­sour­­cenverbrauch. Das ist auch oder gerade im Hinblick auf automatisiertes Fahren zwingend notwendig. Um alle Situationen abzusichern, in die ein solches Auto geraten kann, wären rein rechnerisch rund 240 Millionen Testkilometer notwendig. Jedes Modell müsste also etwa 6.000-mal die Erde umrunden, bevor es alle Hürden nimmt – „schlicht unmöglich“, sagt ­Deisinger. Seine Antwort darauf: Simulation.

Entscheidender Unterschied zwischen physischen und digitalen Prototypen

Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen physischen und digitalen ­Prototypen. Ein reales Auto jagt für Dynamikerprobungen über Rennstrecken. Beim Crashtest landet es an der Wand – es ist ein Allrounder, ein Kandidat für jede Gelegenheit. Digitale Prototypen dagegen sind Spezialisten. Für Crashtests etwa kommen sogenannte Finite-Elemente-Modelle zum Einsatz. Dabei werden alle Komponenten des Autos in sehr kleine geometrische Bestandteile aufgelöst. So lassen sich die Kräfte bei einem Aufprall auf ein definiertes Hindernis innerhalb der Fahrzeugstrukturen genau berechnen. Für die Fahrdynamikentwicklung wird ein komplettes Fahrwerk in einer Mehrkörpersimulation abgebildet und dann auf virtuellen Strecken getestet. Insgesamt 18 verschiedene digitale Prototypen bauen die Entwickler so für jedes neue Porsche-Modell auf.

Gerade im Umgang mit großen Datenmengen, ein Wesensmerkmal der virtuellen Entwicklung, gewinnen KI-Systeme an Bedeutung. Das gilt schon während ihrer Zusammenführung. Ein Porsche besteht aus 10.000 bis 15.000 Einzelteilen, hergestellt von eigenen Fachabteilungen und einer Vielzahl von Zulieferern. Die Konstruktionsdaten für jedes ­einzelne Teil sind in einem Dateiverwaltungssystem hinterlegt, qualifizierte Ingenieure ­pflegen sie ein und strukturieren die Daten – eine ungeliebte und wenig produktive Arbeit. „Was wäre, wenn wir solche Prozesse mithilfe künstlicher Intelligenz automatisieren?“, fragt Deisinger. „Wir schaffen Freiräume für Kreativität.“

Vielzahl potenzieller KI-Anwendungen

Jetzt zahlt sich aus, dass Porsche frühzeitig in die digitale Entwicklung investiert. Aus Versuchen mit realen und virtuellen Prototypen entstehen große Datenmengen, aus denen mit KI-Methoden Erkenntnisse gewonnen werden können. So öffnet sich die Tür zu einer Vielzahl potenzieller KI-Anwendungen: Sie reduzieren die Anzahl real gefahrener Testkilometer und verbessern die Produkteigenschaften. Maschinelles Lernen kann zum Beispiel helfen, luftwiderstandsoptimierte Fahrzeuggeometrien zu erzeugen, wie den Heckflügel des 919 Evo. Dieses Vorgehen ist auch auf die Serienent­wick­lung übertragbar. Neuronale Netze ermöglichen es, eine größere Anzahl geometrischer Varianten auf potenzielle Eignung zu untersuchen, ohne dass die Rechenzeit explodiert. Datenauswertung realer und virtueller Tests wird einfacher, weil mit Hilfe von Muster­­erkennung auffällige Abweichungen von den Soll- und Durchschnittswerten schneller erkennbar sind.

Unfehlbar ist künstliche Intelligenz jedoch bei Weitem nicht. So durchforsten Super­computer zwar gewaltige Datenmengen rasant auf statistisch signifikante Zusammenhänge, können aber Ursache und Wirkung nicht iden­tifizieren, wenn diese nicht zuvor von einem Menschen definiert wurde. Der Harvard-Jurastudent Tyler Vigen gründete eine eigene ­Internetseite, auf der er unsinnige Korrelationen darstellt. Den Zahlen nach hinge die Menge der promovierten Bauingenieure in den USA vom durchschnitt­lichen Mozzarellakonsum ab. Ein Mensch erkennt sofort: reiner Zufall!

Ein fundamentales Problem ist die Qualität der Daten, die für das Training von neuronalen Netzwerken verwendet werden. So identifizierte ein KI-System einen Husky als Wolf, weil alle Bilder Wölfe im Schnee zeigten – auch das mit dem Husky. Erklären konnte das System seine Entscheidung nicht.

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