Hybride Entwicklungsumgebungen
Die vernetzte und ressortübergreifende Zusammenarbeit in der Entwicklung macht natürlich auch vor der Digitalisierung nicht halt. Im Gegenteil. Neuartige hybride Simulations- und Prüfstandsmethoden werden entwickelt, Lieferantenprozesse in der Beschaffung unterstützt und virtuelle Bauteile bereitgestellt – sowohl für Prototypen als auch für Serienfahrzeuge.
Ein gutes Beispiel für hybride Simulationen sind bei Porsche die Matrix-Beam-LED-Scheinwerfer. Die Entwickler testen dabei reale Bauteile in einer virtuellen Umgebung: Die realitätsgetreue Fahrsituation mit entgegenkommendem Verkehr wird als virtuelles Kamerabild durch 3D-Computergrafik realitätsgetreu erstellt und anstelle des ursprünglichen Kamerabildes an das Steuergerät übergeben. Das Steuergerät berechnet daraus die optimale Lichtverteilung und steuert schließlich die modellierten LEDs des Scheinwerfers an.
Dadurch lässt sich virtuell die aktuelle Ausleuchtung der Umgebung visualisieren. „So wollen wir in Zukunft frühzeitig im Virtuellen Fahrerplatz komplexe Fahrzeugfunktionalitäten erlebbar machen“, sagt Stefan Singer, Virtuelle Erprobung. Steffen Strebel, Test und Validierung, ergänzt: „Durch die hybride Herangehensweise können die im realen Straßenverkehr nur schwer reproduzierbaren Verkehrssituationen objektiv und reproduzierbar getestet werden.“
Auch die heraufziehende Ära der Elektrofahrzeuge bringt im hybriden Entwicklungsprozess viele Neuerungen. Etwa beim Thermomanagement, das dafür sorgt, dass sich die Temperatur von Hochleistungs-Akku und E-Antrieb zu jeder Zeit in einem definierten Fenster bewegen. So nutzt etwa der Taycan von den rechnerisch 15 Millionen Verschaltungsmöglichkeiten seines hydraulischen Kühlkreislaufs etwa zweihundert – im sogenannten Strömungslabor in Weissach wird dies intensiv simuliert, indem reale Thermomanagementsysteme am Prüfstand mit digitalen Prototypen sowie realen Steuergeräten vernetzt werden. Dies verkürzt auch hier die Entwicklungszeit bis zur Typisierung – und reduziert so die Zahl realer Prototypen.
„Wenn wir parallel an vernetzten Systemprüfständen, dem sogenannten ThermoLab, arbeiten, beschleunigen wir den Entwicklungsprozess zusätzlich“, blickt Daniel Eichacker, Leiter Thermomanagement V-Motoren, in die nahe Zukunft. „Wenn wir dann Informationen wie beispielsweise die Temperatur zwischen Strömungslabor und Kältekreis/Klimatisierung austauschen, bedeutet das für das thermische Gesamtfahrzeug-Modell einen echten Meilenstein.“
Datengetriebene Entwicklung
Wie Kunden ihre Fahrzeuge nutzen, ist eine der spannendsten Fragen für die Entwicklungsabteilungen. Denn nach abgeschlossener positiver Erprobung auf den Prüfständen und Straßen gab es bisher keine systematische Rückmeldung über die Fahrzeuge und das Nutzungsverhalten der Kunden. Zumindest war es bisher nicht möglich, die tatsächlichen Belastungen in Kundenhand zu messen und diese Erkenntnisse direkt in die Entwicklung einfließen zu lassen. „Die Entwicklungen unserer Autos beruhten bislang teilweise auf einem Erfahrungsschatz, der über Generationen hinweg angereichert wurde“, erklärt Alexander Haug, Leiter Betriebsfestigkeit Werkstofftechnik. „Mit dem Taycan und PDRM wird sich das zum ersten Mal komplett verändern.“
Die vier Buchstaben PDRM stehen für „Porsche Driving Reflection Module“. Eine Vielzahl an Sensoren und Informationen, die im Auto bereits verfügbar sind, werden künftig dazu genutzt, die Beanspruchungen direkt im Fahrzeug zu analysieren – und machen den Entwicklern auf diese Weise sichtbar, wie die Kundennutzung tatsächlich ist. Die entsprechende Infrastruktur befindet sich bereits an Bord: leistungsstarke und online angebundene Steuergeräte (OTA-FC). Rund 750 verschiedene Kenngrößen werden ausgelesen, weiterverarbeitet und in regelmäßigen Abständen aus dem Fahrzeug an den Porsche Data-Lake gesendet. Mit diesen Daten und Ansätzen aus Big-Data-Analytics soll es so in Zukunft gelingen, mehr darüber zu erfahren, wie es um die tatsächliche Belastung bestellt ist.
„Wie oft wird die Sport-Taste tatsächlich gedrückt? In welchem Fahrmodus wird mehrheitlich gefahren? Solche dank PDRM gewonnenen Erkenntnisse fließen direkt in die weitere Verbesserung unserer Produkte“, sagt Alexander Haug, der auf eine möglichst hohe Teilnahmebereitschaft der Taycan-Kunden am PDRM-Projekt hofft. Denn selbstverständlich könne jeder Kunde selbst entscheiden, ob er zur Datenanalyse beitragen wolle oder nicht. Er muss dies sogar aktiv im Fahrzeug bestätigen. Zudem bleibe die Anonymität der Kunden in jedem Fall gewährleistet: „Selbst bei aktiviertem PDRM erfahren wir immer nur, dass sich ein Fahrzeug zum Beispiel im Stau befunden hat, aber nicht wo und wann.“
Das simulierte Wesen: Menschmodelle
„Crashtest-Dummys stoßen in einer Welt des automatisierten Fahrens an ihre Grenzen“, stellt Bastian Keding, Leiter CAE Insassenschutz, seinen schweigenden Kollegen ein ehrliches Zeugnis aus. „Für viele zukünftige Anforderungen – bei der Sicherheit, aber auch beim Komfort – bringen sie nicht mehr die nötigen Voraussetzungen mit.“ Weil für viele Tests echte Menschen nicht infrage kommen, haben sich die Entwickler in der digitalen Welt umgesehen – und sind fündig geworden.
Bei Porsche werden zusätzlich zu den Crashtest- Dummys bereits sogenannte Menschmodelle eingesetzt; also Simulationen, die auf präzisem Datenmaterial basieren. Solche auch als THUMS (Total Human Model for Safety) bekannten Modelle sind sehr detailliert und stellen den menschlichen Körperaufbau und die menschliche Biomechanik dar – inklusive Skelettstruktur, Gelenke, Bänder, Organe, Muskeln bis hin zum Gewebe. Damit unterscheiden sich THUMS-Menschmodelle grundlegend von Crashtest-Dummys, die entwickelt wurden, um mithilfe von Beschleunigungssensoren, Kraftmessdosen oder Wegmesssystemen die Belastungen auf einzelne Körperregionen zu bewerten. Für Front-, Seiten- und Heckcrashs werden dabei jeweils spezifische Dummys benötigt.
Das Menschmodell dagegen versucht, die gesamte menschliche Anatomie exakt nachzubilden. Somit eignet sich das THUMS hervorragend für sogenannte Kinematikstudien, die Bewegungsabläufe sichtbar machen. Sie helfen beispielsweise, aktive Sicherheitssysteme wie den Notbremsassistenten zu bewerten. Aktuelle THUMS-Modelle erlauben die Auswertung von Verletzungsrisiken und eignen sich somit zur Bewertung von neuen Unfallszenarien im Bereich des autonomen Fahrens. „Die Menschmodelle werden mehr und mehr zum Werkzeug der Wahl bei der Erarbeitung, Bewertung und Argumentation künftiger Rückhaltesysteme“, erklärt Keding. „Sie halten auch zunehmend Einzug in Ratings und Gesetze.“ So treiben die amerikanische Gesetzgebung NHTSA und die europäische Gesellschaft für Fahrzeugsicherheit Euro NCAP ihren Einsatz voran.
Auch wenn sich mit den detailgetreuen Simulationen mehr Vielfalt darstellen lässt als mit physischen Crashtest-Dummys, ändert das nichts an der Tatsache, dass jeder Mensch anders ist. Genau hier liegt wohl die größte Herausforderung: Die enorme Bandbreite der biologischen Eigenschaften kann nur mit viel Aufwand auf die Menschmodelle übertragen werden. Denn jeder Mensch unterscheidet sich hinsichtlich seiner Beweglichkeit, seinem strukturellen Knochenaufbau und der daraus resultierenden Interaktion mit den Rückhaltesystemen. „Wir beschäftigen uns seit 2013 mit Menschmodellen und treiben die Entwicklung stetig voran“, sagt Keding. „Für eine Weiterentwicklung werden spezifische Kompetenzen, die über das klassische Ingenieurswissen hinausgehen, erforderlich sein – beispielsweise aus den Bereichen Biomechanik und Medizin.“
Virtuelle Werkzeuge im Design-Studio
Die Skizze mit Stift und Papier bleibt nach wie vor eines der wichtigsten Werkzeuge zur Ideenfindung im Automobildesign. Aber die steigende Zahl an interaktiven Displays im Fahrzeug – mit ästhetisch ansprechenden Animationen und Grafiken – erfordert neuartige Tools. „Dafür haben wir eine Reihe innovativer Software-Lösungen entwickelt“, erklärt Gantimur Meissner, Leiter User Experience Design Interieur. „Wir nutzen diese bereits erfolgreich in der Vorentwicklung und bei Serienprojekten.“ Mit der Xperience Engine hat sich das Team von Style Porsche ein Werkzeug erschaffen, mit dem komplette Nutzererlebnisse (User Experience oder kurz UX) einfacher als bisher simuliert werden können – und zwar auf jedem Computer und mobilen Endgeräten wie Smartphones oder Tablets.
Gerade im Interieur, wo heute auf mehreren Displays unterschiedliche Visualisierungen laufen, bietet das ganz neue Möglichkeiten bei der Konzeption von Bedienoberflächen (User Interfaces oder kurz UI) und bei der UX. Designer können mit VR-Brillen schon sehr früh im Entwicklungsprozess die Designmodelle im dreidimensionalen Raum begutachten und nun auch die Bildschirminhalte und Bedienkonzepte virtuell evaluieren. Das Bild, das in der VR-Brille zu sehen ist, lässt sich jederzeit auch auf einen großen Bildschirm werfen. Dadurch werden Präsentationen besonders anschaulich und für einen größeren Teilnehmerkreis in Echtzeit erlebbar. Die Illusion wird noch verfeinert, wenn physische Elemente hin - zukommen. Wird die VR-Brille zum Beispiel mit realen Bauteilen wie Fahrersitz, Lenkrad und Armauflage kombiniert, entsteht für die Testperson ein beeindruckend realistischer Eindruck vom neu gestalteten Innenraum – und zwar zum Anfassen.
Die nächste Ausbaustufe im digitalisierten Designprozess, die sogenannte UX-Sitzkiste, bietet eine Verknüpfung mit interaktiven Medien und damit maximalen Realismus und Erlebbarkeit. Die Bildschirme und berührungsempfindlichen Displayflächen im detailgetreuen Nachbau eines Cockpits können nach Belieben mit interaktiven Inhalten bespielt werden. Dabei greifen die Designer beispielsweise per Smartphone oder Tablet auf ihr neu angelegtes zentrales Grafik-Archiv zu, wo sämtliche Animationen und Piktogramme abgelegt sind. Verschiedene Entwürfe können so per Smartphone ausgewählt, auf eines der Displays der UX-Sitzkiste übertragen und so innerhalb von Sekunden nacheinander betrachtet werden.
„Die Xperience Engine bildet das Fundament für unsere UX-Sitzkisten, verbindet sich nahtlos mit der Visualisierung und kann dadurch mit neuartigen digitalen Präsentationswerkzeugen wie den VR-Brillen dargestellt werden“, verrät Meissner. Fachgebietsübergreifend ist hier ein System entstanden, welches die Prozesse der Visualisierung mit denen des UX-Designs verbindet. „Einen entscheidenden Vorteil der Digitalisierung sehen wir darin, unsere Produkte früher zu erleben, ganzheitlich zu gestalten und effizienter entwickeln zu können“, erklärt Viktor Weizel, Visualisierungsspezialist VR Präsentationen.