„Man entdeckt keinen neuen Erdteil ohne den Mut, für lange Zeit das Ufer aus den Augen zu verlieren.“ Das Zitat stammt von dem französischen Schriftsteller André Gide, Literaturnobelpreisträger von 1947. Anfang der 1970er-Jahre trifft dieser Satz die Stimmungslage bei Porsche sehr genau. Was war los in Zuffenhausen? Die Familien Porsche und Piëch haben sich aus dem Unternehmen zurückgezogen. Gesetzgeber in den USA, damals der größte Porsche-Markt, diskutieren neue Crashvorschriften. Und der Porsche 911 gilt – nicht zuletzt wegen der bevorstehenden strengeren Abgas- und Sicherheitsbestimmungen – als Auslaufmodell. Die Zeichen stehen auf Veränderung. Und bei Porsche beginnen einige Männer damit, diese Veränderung gründlich anzugehen.
Ernst Fuhrmann, der neue Vorstandschef, favorisiert das Konzept für ein neues Modell – die radikale Abkehr vom bisherigen Heckmotorprinzip. Künftig soll der Motor vorn, das Getriebe im Heck untergebracht werden, dazwischen eine sogenannte schnelle Welle. Kenner sprechen bei dieser Verteilung der Antriebskomponenten von Transaxle-Bauweise. Genau die soll den Porsche 928 prägen.
Ab Februar 1972 nimmt die Entwicklung des 928 Fahrt auf
Eine mutige Entscheidung angesichts der Heckmotortradition bei Porsche. Doch einmal getroffen, „standen alle dahinter“, erinnert sich Wolfhelm Gorissen, der Projektleiter Porsche 928. Ab Februar 1972 nimmt die Entwicklung Fahrt auf. Die Ingenieure im Entwicklungszentrum Weissach betreten Neuland, und zwar in alle Richtungen: Der Motor, ein aus dem Rennsport abgeleitetes wassergekühltes 4,5-Liter-V8-Aggregat aus Aluminium, kommt erstmals bei einem Serienauto aus Europa zum Einsatz. Dem Fahrwerk spendieren die Entwickler eine komplett neue, mitlenkende Hinterradaufhängung, die Weissach-Achse. Die Karosserie ist ein Gemisch aus Stahl, Aluminium und Kunststoff. Und die Stoßfänger aus Polyurethan sind – ebenfalls eine absolute Novität – vollständig in die Karosserie integriert. Souverän bestehen sie die neu eingeführten Aufpralltests (Pendeltests). Bis zu einer Crashgeschwindigkeit von 8 km/h darf keine Delle im Auto zurückbleiben.
Heute eine Selbstverständlichkeit, aber damals bringen die Stoßfänger Ingenieure, Designer und Projektleiter Gorissen an den Rand der Verzweiflung. Das liegt nicht nur an der komplexen, nachgiebigen Befestigung, sondern vor allem an der Lackierung. „Wir hatten damals einfach keinen Lack, der für Stahl ebenso geeignet war wie für Aluminium und Polyurethan“, erinnert sich Gorissen. „Überall gab es unterschiedliche Farbtöne.“ Dieser Lack muss erst noch erfunden werden – es gelingt bis zur Serienfertigung.
Der erste Gran Turismo von Porsche
Während in Weissach an Hunderten Details gearbeitet, um jeden Zentimeter mehr Platz und jedes Kilogramm weniger Gewicht gerungen wird, bringen die Experten aus der Versuchsabteilung die jeweils aktuellsten Prototypen an ihre physikalischen Grenzen. Die nahezu ideale 50:50-Gewichtsverteilung zwischen Vorder- und Hinterachse, der großvolumige V8-Motor und das aufwendige Fahrwerk lassen schon von der Papierform her ein erstklassiges Fahrverhalten erwarten. Doch dann stellt sich heraus: Der 928 ist viel besser. Gorissen weiß noch gut, wie es damals bei Nacht im Schwarzwald war: „Winter, die Straßen teils vereist, es ging richtig zur Sache.“ Trotzdem steigen die Testfahrer nach der Ausfahrt frisch und munter aus. „Der Wagen fuhr sich um eine Klasse besser als der damalige 911.“
Der 928 ist von vornherein etwas anders und vor allem höher positioniert: als sportlicher Reisewagen, der erste Gran Turismo von Porsche. Das neue Auto bietet vier Sitzplätze, wenn auch die beiden hinteren für längere Strecken unzumutbar sind, dazu ein hervorragendes Raumgefühl und einen beachtlichen Kofferraum. Der Wagen gilt damals als großes Auto, aus heutiger Sicht hingegen wirkt er unglaublich kompakt. „Es gibt keinen anderen V8-Sportwagen, der so flach und elegant ist“, sagt Harm Lagaaij, von 1989 bis 2004 Porsche-Designchef. Privat wird er „mindestens drei 928“ fahren.
Die Weltpremiere des 928 in Genf war eine Sensation
Wobei – im 928 gleitet man eher über die Straße. Der Geräuschpegel ist deutlich niedriger als im Elfer mit luftgekühltem Boxermotor, das Fahrverhalten weitaus gutmütiger und der Komfort an Bord herausragend. Die Klimaanlage umfasst eine Kühlung des Handschuhfachs, Lenkrad und Cockpit lassen sich in der Höhe verstellen, darüber hinaus werden auch die Positionen der Pedale, der Fußstütze und des Schalthebels auf den Fahrer abgestimmt. Die Scheibenwaschanlage verfügt über einen separaten Tank mit zusätzlicher Dosierpumpe, aus dem bei Wischerbetrieb von Zeit zu Zeit ein spezielles Reinigungsmittel auf die Scheibe sprüht. So soll das Glas schlierenfrei bleiben. Schließlich gibt es ein eigens entwickeltes Porsche-Kassettenradio. Es verbindet „ausgezeichnete Empfangseigenschaften mit übersichtlicher, leichter Bedienung“.
Auf dem Autosalon in Genf im März 1977 ist der 928 bei seiner Weltpremiere eine Sensation, die Begeisterung beim Publikum immens. „Ex-Volkswagen-Chef Rudolf Leiding kaufte gleich einen – für seine Frau“, berichtet der Spiegel und schreibt: „Kein anderes Auto war je so entscheidend für das Wohl und Wehe von Porsche wie der 928.“ Anders gesagt: Dieser komplett neue, ungeheuer moderne, zeitlos elegante Sportwagen hat eigentlich alles, um das Erbe des 911 anzutreten.
Die Produktion stoppte bei 61.056 gebauten Exemplaren
Es kommt anders, wie man heute – 40 Jahre später – weiß, obwohl der Porsche 928 im Jahr 1978 (als erster und bis heute einziger Sportwagen) mit dem Titel „Auto des Jahres“ ausgezeichnet und später immer wieder verbessert und aufgewertet wird. Die Motorleistung steigt von anfangs 240 PS noch auf 350 PS. Das jedoch ist die letzte Evolutionsstufe der Baureihe, der 928 GTS von 1991. Das Ende kommt 1995: Die Produktion stoppt bei 61.056 gebauten Exemplaren.
Lagaaij bewundert die Formensprache des Autos bis heute. Irgendwann im Gespräch über den Wagen, über dessen zeitlos elegante Ästhetik und das schlüssige Konzept, sagt er einen Satz, der wie ein Widerhall auf das Zitat von André Gide klingt: „Der Porsche 928 war wie ein neuer Kontinent in der bis dahin bekannten Porsche-Welt.“
Andrew Phinney
Der 51-Jährige aus Connecticut, USA, ist stolzer Besitzer des ersten Porsche 928. Elf Porsche 928, beginnend mit der Chassis-Nummer 9288100011, wurden 1977 im Rahmen des Autosalons und der Weltpremiere des Porsche 928 in Genf präsentiert.
„Als Teenager saß ich vor dem Fernseher und entdeckte erstmals einen Porsche 928 in der TV-Show The Six Million Dollar Man. Da war es um mich geschehen. Bis heute besaß ich ungefähr zwanzig Porsche 928. Doch dieser hier ist etwas ganz Besonderes: Ich habe den Porsche 928 von Jim Doerr, einem Enthusiasten aus Michigan, gekauft. Er fand ihn im Jahr 2011 relativ ungeliebt und verlassen auf einem Hinterhof, irgendwo in Michigan. Die Karosserie hatte an die vierzig Löcher, diverse Sonderteile wurden verbaut. Doch sein Originalmotor war genauso vorhanden wie der Originallack: Grandprix-Weiß. Ich unterzeichnete den Kaufvertrag am 22. Februar 2017. Es war exakt der Tag, an dem der 928 40 Jahre zuvor das Werk von Zuffenhausen verlassen haben muss. Elf neue Porsche 928 wurden einen Tag später, am 23. Februar 1977 der Weltöffentlichkeit präsentiert. Die Dokumentation des Fahrzeugs ist nahezu lückenlos. 1979 wurde er von Porsche an einen Privatmann in Hamburg verkauft. 1983 fand sich der 928 in Amerika wieder. Aufgrund von Einfuhrbestimmungen wurde das Tachometer gewechselt und zeigte fortan Meilen pro Stunde. Aktuell hat er 90.000 Meilen bewältigt. Ich weiß, welchen Schatz ich da habe. Oft setze ich mich auf einen Stuhl in der Garage neben ihn und wünsche mir, er könnte sprechen und von damals erzählen.“
Hans Clausecker
Jahrgang 1940, Fahrwerksexperte, war in der Spätphase der Entwicklung des Porsche 928 an den Winterreifenfahrversuchen beteiligt – und am Aufbau des einzigen Werksrennwagens dieses Typs.
„Ungefähr ein Jahr, bevor der 928 vorgestellt wurde, stieß ich zum Testteam. Es ging damals vor allem um Fahrversuche mit unterschiedlichen Winterreifen in Österreich: auf der Turracher Höhe und auf dem zugefrorenen Falkertsee bei Bad Kleinkirchheim. Für die Handlingtests fuhren wir zum Nürburgring oder auf das Contidrom bei Hannover. Wegen der nahezu idealen Gewichtsverteilung war der 928 viel problemloser zu fahren als der 911. Ich empfand das Auto als ausgesprochen gutmütig und schätzte ihn als wunderbar komfortablen Reisewagen. Mein Kollege Günter Steckkönig und ich sahen in diesem Auto das ideale Fahrzeug für die damalige Tourenwagen-Europameisterschaft. Tatsächlich erhielten wir dafür die Freigabe. 1983 war der Wagen einsatzbereit. Er überzeugte beim Veedol-Langstreckenpokal auf dem Nürburgring, ebenso bei den 24 Stunden von Daytona. Leider erreichte die Produktion nicht die vom Reglement der Tourenwagen-EM geforderten 5.000 Einheiten binnen eines Jahres. Damit war der Traum von einer Motorsportkarriere des 928 gleich wieder ausgeträumt. Mehr als 30 Jahre vergingen, bis der Renn-928 reanimiert wurde: von Porsche-Lehrlingen und zwei Porsche-Rentnern – Günter Steckkönig und mir. Jetzt steht das Auto wieder so da wie vor dem ersten Rennen 1983.“
Hans-Georg Kasten
1970 kam Kasten, er war damals 23, direkt nach seinem Karosseriebau- und Design-Studium in Hamburg zu Porsche. Er arbeitete von Beginn an am 928 mit, erst als Interieur-Designer, dann im Exterieur und als Assistent des Studioleiters Wolfgang Möbius.
„Im August 1970 fing ich bei Style Porsche an, zunächst im Interieur-Design unter dessen damaligem Leiter Hans Braun. Schon bald drehte sich alles um den künftigen Sportwagen von Porsche, und es herrschte die einhellige Meinung, dass der Wagen entgegen dem Zeitgeist der keilförmigen, sehr kantigen Karosserien ganz anders aussehen sollte: organischer, moderner, eben porschiger. Ich glaube, das lässt den 928 noch heute ästhetisch interessant und zeitlos wirken. Meine Aufgabe bestand zunächst darin, das von Hans Braun entworfene Interieur umzusetzen. Völlig neu war das Cockpit, das sich zusammen mit der Lenksäule verstellen ließ, außerdem die hoch in die Armaturentafel gezogene Mittelkonsole, die Fahrer und Beifahrer geradezu umfing. Ende 1973 wechselte ich ins Exterieur-Design. Die größte Herausforderung dort stellten die in die Karosserie integrierten Stoßfänger dar – so etwas hatte es noch bei keinem Auto gegeben. Das Problem war, dass diese Stoßfänger neue und sehr strenge US-Crashanforderungen erfüllen mussten, was einen immensen Entwicklungsaufwand bedeutete. Doch schließlich gelang uns die Lösung bravourös. Das war aber nur möglich, weil wir nicht nur einen komplett neuen Sportwagen entwarfen, sondern damals auch eine ganz neue Art der Kooperation zwischen Ingenieuren und Designern bei Porsche etablierten.“
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche-Kundenmagazin Christophorus, Nr. 384