Dr. Nikolai Ardey leitet bei Volkswagen den Bereich „Group Innovation“ und ist damit für rund 500 Mitarbeitende weltweit verantwortlich. In einem Interview mit dem Porsche Consulting Magazin spricht er über die tragende Rolle von Innovationen bei der kontinuierlichen Weiterentwicklung von Produkten. Über die Bedeutung von Digitalisierung, künstlicher Intelligenz und Software für die Zukunftsfähigkeit der Automobilindustrie. Und die Notwendigkeit starker Partnerschaften, um die Innovationsgeschwindigkeit voranzutreiben. Der international vernetzte Bereich „Group Innovation“ kümmert sich um Innovationen für die Pkw-Marken des Konzerns. Darüber hinaus beschäftigen sich Nikolai Ardey und sein hochspezialisiertes Team mit Zukunftsthemen wie Halbleiter-Design, Quantencomputing sowie der Materialforschung für Batterien, Leichtbau und neuen recycelbaren Kunststoffen. Auch die großen Themen Circular Economy und Dekarbonisierung stehen im Fokus der Entwicklungsarbeit.
Herr Ardey, was macht ein „Group Innovator“?
Wir gehen die Zukunftsthemen neugierig an und lassen uns von den Ideen und Entdeckungen anderer inspirieren. Und wir glauben an die Kraft von Innovationen, sie sind das treibende Maß für Fortschritt.
Sind Sie eher Manager oder Ingenieur?
Von Hause aus bin ich Ingenieur. Wichtig ist aber beides – für die Leitung der Group Innovation, eines international vernetzten Bereichs mit rund 500 hochspezialisierten Menschen, sind Führungs- und Management-Skills gefragt. Aber ebenso die gegenseitige technische Inspiration, die mich vor allem als Ingenieur anspricht.
Was macht Innovation für Sie aus?
Innovation ist das, was sich an neuer Technologie nicht nur auf dem Markt zeigt, sondern auch Kunden begeistert. Was kommt ins Auto und damit auf die Straße und was wird von Kunden als Fortschritt wahrgenommen? Das ist unser zentrales Erfolgskriterium.
Der Wert für den Kunden steht bei Ihnen also im Mittelpunkt?
Ja. Es geht um einen echten Mehrwert. Der Volkswagen Konzern ist ein Unternehmen mit starken Marken und ikonischen Produkten. Wir verkaufen hochwertige Autos in der ganzen Welt. Technologieführerschaft und Innovation sind entscheidende Kaufargumente.
Wird bei Ihnen trotzdem auch mal getüftelt?
Natürlich wird bei uns auch getüftelt! Aber es geht dabei nicht um Grundlagenforschung. Um unsere Produkte kontinuierlich zu verbessern, sind Innovationen unerlässlich. Das ist der Kern unserer Arbeit. Für uns als Automobilunternehmen ist es deshalb entscheidend, sich durch kluge Technologiepartnerschaften für die Zukunft zu rüsten. Akademisches Wissen in der Grundlagenforschung gewinnen wir durch Partnerschaften mit Universitäten.
Forschen Sie überhaupt noch jenseits von Themen mit direktem Fahrzeugbezug?
Ja, wir halten in der Group Innovation die Kompetenz für solche Zukunfts- und Spezialthemen, für die es im Unternehmen sonst keine natürlichen Anlaufstellen gibt. Dazu zählen zum Beispiel Halbleiter-Design und Quantencomputing.
Sie blicken aber weit in die Zukunft …
Quantencomputing wird wichtige Anwendungen für die gesamte Industrie treiben, etwa in der IT-Sicherheit. Wir müssen in Zukunft nicht selbst einen Quantencomputer bauen können, aber wir müssen verstehen, wie sich diese Technologie im Unternehmen nutzen lässt. Dafür haben wir beispielsweise eine Forschungskooperation mit IBM.
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Wie hoch ist der Anteil solcher Forschung?
Zukunftsthemen, die noch nicht sofort reif für die Serienentwicklung sind, machen etwa zwanzig Prozent unserer Arbeit aus. Der Großteil unserer Arbeit konzentriert sich auf Produktinnovationen, die möglichst schnell auf den Markt kommen sollen. Diese Balance ermöglicht es uns, sowohl die Anforderungen der Märkte zu erfüllen als auch langfristige technologische Durchbrüche zu verfolgen.
Erleben wir gerade einen Paradigmenwechsel beim Automobil?
Wir erleben gleich mehrere Veränderungen. Die erste ist sicher der Wandel vom Verbrenner hin zur Elektromobilität, und da sind wir mittendrin. Die zweite ist die digitale Leistungsfähigkeit des Autos, von der Software als Schnittstelle zum Kunden über Cloud-Anbindung bis hin zu immer leistungsfähigeren Fahrerassistenzsystemen. In diesen Bereich wollen wir als Unternehmen weiterhin tief eintauchen. Eine dritte Veränderung ist die Weiterentwicklung der Mobilität. Das eigene Auto bleibt sehr wichtig, aber Menschen werden Mobilität künftig noch viel stärker als Service in Anspruch nehmen wollen. Wir müssen uns also Gedanken darüber machen, wie wir solche Services anbieten können und welche Fahrzeugkonzepte dazu passen.
Wir reden viel über Software. Gibt es bei Ihnen überhaupt noch Hardware-Innovationen?
Absolut! Wir verfügen über große Fähigkeiten in der Materialforschung: Batteriematerialien, Leichtbau, neue recycelbare Kunststoffe und nachwachsende Werkstoffe fürs Interieur – all das sind wichtige Themen für uns. Die deutsche Automobilindustrie steht in diesem Bereich international noch immer an der Spitze, und wir wollen, dass das so bleibt. In den vergangenen Jahren haben wir uns zudem stärker in Richtung Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Software bewegt – ein gutes Drittel unserer Ressourcen fließt in dieses Gebiet.
Was ist mit Nachhaltigkeit?
Da stehen die großen Themen Circular Economy und Dekarbonisierung an erster Stelle. Unsere Teams arbeiten beispielsweise an Innenverkleidungen aus Zellstoff und Hanf, und die ersten Ergebnisse sind vielversprechend. Unter der Leitung von Porsche arbeiten wir am Direct Air Capturing, einer Technologie, die Kohlendioxid aus der Luft entnimmt und für die Herstellung von synthetischen Kraftstoffen nutzt.
Wieso gibt es bei Volkswagen überhaupt eine zentrale Innovationsabteilung? Wäre diese Arbeit nicht besser direkt bei den Marken angesiedelt?
Das folgt einer klaren Logik: Eine Grundlage für alle, Individualisierung durch Einzelne. Die Marken fokussieren sich hauptsächlich auf ihre spezifischen Produktinnovationen und Märkte. Wir stellen zugleich sicher, dass der Anschluss an neue Technologien für alle erhalten bleibt. So schaffen wir größtmögliche Synergien und Effizienzen.
Wie stellt sich der Volkswagen Konzern denn grundsätzlich auf?
Ich sehe hier mehrere Säulen. Die Group Innovation versteht sich als leistungsfähige Innovationsabteilung für alle Marken. Zudem strebt unser Konzern nach starken Partnern aus Industrie und Technologie – so ist unsere Zusammenarbeit mit Rivian Automotive in den Vereinigten Staaten oder Xpeng in China zu verstehen. Wir tauschen uns eng mit international führenden Universitäten und Forschungsinstituten aus. Und wir fördern Start-ups mit unserem Venture-Innovation-Ansatz.
Sie brauchen also auch weiter externe Partner?
Ja klar, denn bei Innovation geht es immer auch um Geschwindigkeit. Dinge dogmatisch exklusiv und unbedingt alleine machen zu wollen, hat sich nicht bewährt. Schneller sind die, die mit anderen zusammenarbeiten. Da sind wir bei Volkswagen mittlerweile sehr pragmatisch unterwegs. Denn das ist kein Widerspruch zu eigenen Kompetenzen im Unternehmen. Diese sind wichtig, um die Fähigkeiten potenzieller Partner einschätzen zu können und die besten Ergebnisse zu erzielen.
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In welchen Zeiträumen planen Sie?
Früher haben Forscher Prototypen entwickelt, die dann in die Vorentwicklung übergeben und bewertet wurden. Davon wiederum kam ein kleiner Teil in die Serienentwicklung und dann schließlich ins Auto. Dieses strukturierte, nachvollziehbare Prinzip führt jedoch nicht zu den schnellen Innovationszyklen, die wir als modernes Automobilunternehmen brauchen. Deshalb wollen wir uns viel stärker als Innovationsunternehmer in eigener Sache verstehen: als Intrapreneure, die Innovation von der Idee bis zum Produktionsstart durchweg und mit Tempo begleiten.
Muss ein Group Innovator also erst mal die Konzernprozesse erneuern, bevor er über Innovationen nachdenkt?
Es gibt im Unternehmen bereits viele Bereiche, die nach agilen Prinzipien arbeiten. Deshalb denke ich durchaus, dass sich meistens zuerst die Idee durchsetzt und erst dann die Prozesse. Wer sich etwas traut und für ein Projekt einsteht, gewinnt häufig auch andere dafür. Dann überlegen wir gemeinsam, wie wir das umsetzen.
Wie nehmen Sie bei dieser Veränderung Ihre Mitarbeitenden mit?
Eine zukunftsfähige, also ergebnisstarke Forschungs- und Innovationsarbeit verlangt von uns, stetig in Bewegung zu bleiben. Diesen Anspruch stelle ich an mich selbst und erwarte ihn auch von meinem Team. Es bringt uns nicht voran, aus reiner Freude im Elfenbeinturm an Themen zu arbeiten, die niemals serienreif werden. Ebenso sollten wir uns nicht damit begnügen, ein Projekt einfach zu übergeben. Wer dafür brennt, muss es mitbegleiten.
Arbeiten Sie also nur an Projekten, die auch sicher beim Kunden landen?
Unternehmensgeist ist Teil unserer Team-DNA. Meine Erfahrung ist: Es lohnt sich, für die Ideen einzustehen, von denen man überzeugt ist – und nicht immer auf jedes Siegel zu warten. Aber wir wissen auch, dass nicht jeder Ansatz erfolgreich sein wird. Nach sorgfältiger Prüfung müssen wir dann eben loslassen und uns den nächsten Ideen zuwenden. Diese Flexibilität und Entschlossenheit sind entscheidend, um kontinuierlich innovativ zu bleiben.
Inwieweit spielt KI in Ihrer Arbeit eine Rolle?
Künstliche Intelligenz ist elementarer Bestandteil im Auto der Zukunft, insbesondere bei neuen Fahrerassistenzsystemen und dem autonomen Fahren. Wir nutzen KI zudem als Werkzeug. Unsere Abteilung Zukunftsforschung analysiert mit KI weltweit hunderttausende Patente und erstellt so eine detaillierte Landkarte von Forschungsschwerpunkten. Wir sehen genau: In welche Richtung bewegt sich das Interesse der Industrie, und wie beeinflusst es die Autos der Zukunft? Das bietet unseren Konzernmarken wichtige Orientierung für ihre Produktplanung.
Wie werben Sie denn eigentlich die Expertinnen und Experten für Ihr Team an?
Wir müssen uns um Bewerber nicht sorgen. Es wäre sicher wünschenswert, sich in einigen Feldern zu verstärken, aber das ist derzeit nicht einfach. Für uns stellt sich deshalb die klare Aufgabe, mit den vorhandenen Ressourcen und einem engagierten Team möglichst viel zu erreichen.
Auch Sie müssen sparen?
Ja, natürlich leisten wir auch unseren Beitrag. Die aktuelle Situation ist eine enorme Herausforderung. Es geht darum, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren und noch enger zusammenzuarbeiten. Zur Wahrheit gehört: Das gelingt uns mittlerweile ziemlich gut.
Volkswagen ist in der Lage, an der automobilen Spitze mitzuspielen?
Davon bin ich absolut überzeugt.
Sie sprachen das autonome Fahren an. Wie sieht Ihre Vision für autonome Fahrzeuge aus?
Eine Vision ist diese hier (zeigt auf das Fahrzeug im Raum). Das Auto hinter mir ist wohl das erste Fahrzeug in Deutschland, das mit einer Straßenzulassung ohne Lenkrad und Pedale fährt. Es ist ein Entwicklungsträger, ein einmaliger Prototyp. Wir nennen ihn Gen.Urban. Wir wollen mit dem Gen.Urban erforschen, wie Menschen ihre Zeit in einem selbstfahrenden Fahrzeug verbringen.
Wie würde man denn mit dem Gen.Urban fahren?
Sie rufen das Fahrzeug per App herbei, das Auto begrüßt Sie, und Sie steigen ein. Ein Sprachassistent fragt, wohin es geht und wie Sie die Zeit im Auto verbringen möchten. Soll es eher entspannt sein, mit zurückgelegten Sitzen, regulierter Lichtstimmung und Klimatisierung? Oder reisen Sie mit Ihrer Familie und wollen während der Fahrt vielleicht gemeinsam ein Wissensspiel am großen Frontbildschirm spielen? So wird jede Fahrt zu einem einzigartigen Erlebnis.
Und dieses Auto ist für den Straßenverkehr zugelassen und fährt wirklich?
Ja, das tut es. Wir testen den Gen.Urban seit Mitte 2024 im realen Straßenverkehr in Wolfsburg.
War es schwierig, solch ein Auto zuzulassen?
Der bürokratische Aufwand war enorm. Wir hatten uns vor drei Jahren dafür entschieden, dieses Fahrzeug komplett neu zu bauen und auf die Straße zu bringen. Die Zulassung war eine große Herausforderung und zugleich eine wichtige Erfahrung. Aber ob wir diesen Weg noch einmal so gehen würden, müssen wir gut überlegen.
Was kostet denn so ein Auto?
Es ist ein Prototyp. Da steckt schon ein bisschen Geld und Aufwand drin.
Können Sie es denn nicht eigentlich kaum erwarten, dass solche Autos auf der Straße sind?
Unser Mobilitätsanbieter MOIA, die Volkswagen ADMT und Volkswagen Nutzfahrzeuge arbeiten gemeinsam daran, in zwei Jahren die ersten fahrerlosen Fahrzeuge auf die Straße zu bringen. Schon heute sind viele Dutzend Prototypen in München, Hamburg und im texanischen Austin täglich auf den Straßen unterwegs. Da ist enormes Tempo drin. Und wenn man nach China und in die USA guckt, findet man auch schon einige Wettbewerber im kommerziellen Betrieb.
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Mit gemischten Fahrergebnissen: Es gab bereits einige Unfälle!
Ja. Leider lassen sich Unfälle statistisch nicht ausschließen. Das Gesetz der großen Zahlen zeigt jedoch, dass es bereits heute bei autonomen Fahrzeugen 84 Prozent weniger Unfälle mit Airbag-Auslösung gibt als bei menschlichen Fahrern, und die Tendenz ist steigend. Autonom fahrende Fahrzeuge kennen keine Übermüdung, keinen Alkoholeinfluss, keine toten Winkel, sie sind damit sicherer als von Menschen gelenkte Autos. Diese Technologie hat das Potenzial, die Verkehrssicherheit erheblich zu verbessern.
Das heißt: Autonome Fahrzeuge werden auf jeden Fall kommen?
Sie werden kommen, auch weil sie als Mobilitätsangebot eine echte Bereicherung sind für alle Menschen, die nicht selbst fahren können oder wollen. Damit kann der Volkswagen Konzern auch Kunden gewinnen, die wir heute noch nicht haben.
Was wären Sie, wenn Sie nicht Chef der Group Innovation wären?
Ich gehe jeden Tag mit großer Freude an. Wer weiß: Hätte ich nicht den Weg eines Ingenieurs eingeschlagen, wäre mein Leben vielleicht in anderen Bahnen verlaufen. Dann wäre ich vielleicht auch Geigenbauer geworden. Oder Opernsänger. Die Hingabe an Handwerk und Kunst ist etwas, was mich immer fasziniert hat.
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche Consulting Magazin.