Spätestens durch den Dichter Hermann Hesse wissen wir: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Die folgende Geschichte bringt uns bei, dass auch in jedem Ende einer stecken kann. Für sie reisen wir zur württembergischen Heimat des autoaffinen Schriftstellers – in diesem Fall nach Weissach.
Als Porsches LMP2-Projekt RS Spyder Ende der Nullerjahre ausgelaufen war, suchten die Ingenieure dort nach einer passenden Anschlussbeschäftigung. Ihre Lösung sollte, im wahrsten Wortsinne, den gesamten Sportwagen-Rennsport elektrisieren. Einer der Pioniere war Jens Maurer.
Der Techniker erinnert sich: „Wir haben von unserem Vorstand den Auftrag bekommen, ein GT3-Auto mit Hybridantrieb darzustellen. Das Kernteam umfasste gerade mal eine Handvoll Menschen.“

Anfangs konnte es noch geschützt in der Nische arbeiten. Doch dann wurde es plötzlich sehr ernst. „Als das Auto gebaut war, schickte uns der Entwicklungsvorstand Wolfgang Dürheimer auf den Nürburgring. Nur wenige Wochen später standen wir damit also an der Nordschleife.“ Es galt erneut Porsches allerliebste Weisheit: Nur der Motorsport kann beweisen, was wirklich funktioniert.
Lektion für die Formel 1
Maurer, der die technische Leitung des Gesamtautos innehatte, erklärt zum Zusatz des ansonsten konventionellen Porsche 911 GT3 R: „Das Schwungrad stammte von Williams. Ursprünglich wurde es für die Formel 1 entworfen. Wir haben darin noch mehr Potenzial gesehen und es mit den Engländern weiterentwickelt.“
Brauchte es also Porsche, damit die Ingenieure der Königsklasse alles aus ihrem Paket herausholen konnten? Kein Kommentar – dafür ein entspanntes Lachen. Das erste Rennen stand 2010 in einer experimentellen Klasse der VLN an. Dank des Umbaus wollte Porsche allem voran belegen, wie gut Hybride Sprit sparen können. Dies geschah auf zwei Wegen. „Aus den Kurven heraus nahm der Elektro-Boost dem Verbrenner Arbeit ab, auf den Geraden konnte das Auto danach quasi segeln.“ Im zweiten Jahr des Projekts spielte sogar das Gewicht keine Rolle mehr. „Wir wogen exakt so viel wie die anderen Autos.“
Zum glücklichen Kreis der Piloten gehörte Jörg Bergmeister. Der Leverkusener fand über den bekannten Renningenieur Owen Hayes in das Projekt. „Es war unser Baby“, denkt Bergmeister zurück. „Ich habe den Weg von der ersten Ausfahrt bis zum fertigen Rennfahrzeug komplett begleitet. Im Zuge dessen ging es besonders viel um Funktionalität. Ein gutes Beispiel ist der Knopf für die Rekuperation. Als Fahrer kann man sich bei solchen Projekten reichlich ausdenken und Ideen direkt für das Auto einbringen.“ Bis auf die Soundkulisse des Schwungrads, die ihn an einen überdimensionierten Staubsauger erinnerte, findet Bergmeister nur positive Worte über sein altes Einsatzgerät. „Der Hybrid glich anfangs einem Push-to-pass-System. Gerade auf der nicht mit Überholstellen gesegneten Nordschleife ist es sehr charmant, sogar an anderen GT3 vorbeizuziehen.“ Diese fanden es – wenig überraschend – nicht so toll, von einem Versuchsrenner einkassiert zu werden.
Rein sportlich gesehen sollte der elektrisierte Porsche eher als Pechvogel in die Geschichte eingehen. Das erste 24-Stunden-Rennen 2010 endete auf dramatische Weise: Er rollte kurz vor Schluss in Führung liegend aus. „Während meiner gesamten Karriere war das der schmerzhafteste technische Defekt. Alle hatten Tränen in den Augen“, trauert Bergmeister der vergebenen Chance hinterher. Böser Hybrid? Nein, eine konventionelle Ventilfeder war gebrochen.
Der zweite Anlauf brachte dann keine nachträgliche Erlösung. Das Auto war das schnellste im Feld, Verkehr und andere Technikquerelen trieben es aber in die Knie. Immerhin sollte das Weissacher Wundermobil über seine Karriere hinweg ein VLN-Rennen gewinnen sowie erfolgreiche Gaststarts in den USA und Asien absolvieren. Nach der Saison 2011 war Schluss. Die Projektpartner hatten allerdings keine Zeit für Wehmut. Jens Maurer, der heutige technische Leiter für Sonderprojekte bei Porsche Motorsport, lächelt: „Wir waren komplett in die LMP-Entwicklung eingebunden.“ Jedem Ende wohnt ...
Aus Helfer wird Herz
Bevor der 919 Hybrid die Szene aufmischte, spielte Porsche übrigens schon eine zugegebenermaßen überschaubare Rolle bei Audis Pioniererfolg mit dem E-Boost. Wie es sich unter Konzerngeschwistern gehört, teilte man sein gewonnenes Knowhow mit Ingolstadt. Schnell wurde aus dem lockeren Austausch eine knallharte Konkurrenz. Le Mans’ letzte goldene Technik-Ära war gestartet – und Porsche passend zum eigenen Anspruch mittendrin.
Stefan Moser, ein Hauptverantwortlicher für den LMP1-Motor, erzählt: „Im Vergleich zum GT3 zeigten sich die Voraussetzungen verschieden. Der Prototyp war um seine zusätzliche elektrische Antriebsquelle herum ausgelegt. Zwar ist das Gewicht bei Hybridrennern immer ein großes Thema, aber damals beschäftigte es uns noch mehr. In der Folge entschieden wir uns für einen kleinen, leichten V4-Motor. Das Hybridsystem sollte Priorität haben.“ Aus der heutigen Sicht mag dieser Gedankengang simpel wirken. Damals beschritten die Weissacher Ingenieure aber – mal wieder – Neuland.
Hierbei hatten sie auch ein Stück weit Glück. Auf der Suche nach passender Batterietechnik als Ersatz für die Schwungräder sollten die parallelen Bemühungen von F1-Teams Chancen eröffnen. Eigentlich waren die damaligen Batteriezellen durch zu schnelle Alterungsprozesse für 24h-Rennen ungeeignet. Doch ein US-amerikanischer Spezialist konnte Porsche dann von seiner Innovation überzeugen. Diese war grundsätzlich an ein Formel-1-Team gebunden. Weil es allerdings noch mal ein spezielles eigenes Produkt erhielt, konnte Porsche die Lizenz bekommen. Der Rest war eine ziemlich erfolgreiche Geschichte. „Unser LMP1 wurde zum Beweis, dass Hybride wettbewerbsfähig sein können. Wir starteten aus dem Nichts und durften unsere Vision umsetzen“, berichtet Moser. Sowohl bei der Technik als auch bei den Menschen konnte das Team viel Eigeninitiative zeigen. Die extrem anspruchsvolle Energie-Rückführung aus dem Abgas-Trakt war die Meisterprüfung der Truppe.
Nicht nur für die Techniker stellte das Programm eine Highspeed-Weiterbildung dar. Gleichermaßen verlangte es den Fahrern jede Menge ab. Analog zu Bergmeister beim GT3 war Timo Bernhard ab Sekunde eins elementarer Teil der 919-Entwicklung. Er blickt zurück: „Die Ingenieure kündigten weit über 800 PS Systemleistung an, sogar 1000 PS sollten möglich sein. Diese Vorstellung erschien mir damals wie ein Wahnsinn. Aus dem Abstrakten wurde dann schrittweise die Realität.“ Leistung und Beschleunigung bildeten natürlich die DNA der Faszination.
Aber es ging noch weit darüber hinaus. „Mit der E-Maschine an der Vorderachse konnte man die Balance beeinflussen. Die Möglichkeiten der Allradnutzung waren riesig.“ Bernhard und seine Kollegen konnten durch ihr Feedback entscheidend das technische Konzept prägen. „Vorher haben klassische Faktoren wie die Linien und Stile den Pilotenjob geformt. Nun konnten wir in Sekundenbruchteilen über das Lenkrad technische Extra-Optionen – zum Beispiel in besonderen Verkehrssituationen – ziehen. Das Fahren wurde zum Schachspielen. Man musste sich auf das System einlassen, um es komplett nutzen zu können.“ Timo Bernhard sollte genau der richtige Typ für diese Herausforderung gewesen sein. Der Le-Mans-Sieger und Doppel-Weltmeister durfte das Projekt mit dem Nordschleifen-Rekord krönen. Als riesiger Stefan-Bellof-Enthusiast hätte kein Besserer die Ehre erhalten können, dessen Gruppe-C-Husarenritt in die LMP1-Moderne zu übersetzen.
Zum zaubervollen Ende sagt Stefan Moser, heute Technikdirektor LMDh: „Davor mussten wir von Jahr zu Jahr das Auto innerhalb des Reglements weiterentwickeln. Für den Rennsport war es schon ziemlich frei gefasst. Änderungen wie die aktive Aero zeigten aber, welche Chancen noch in der Technik stecken.“
Zwischen den Jahren
Bei Porsche wird wahrscheinlich niemand dem Fazit widersprechen, dass die Innovationsparabel hier ihre Spitze erreicht hat. Im Anschluss lag der Fokus in Weissach vorerst auf der Formel E. Die Elektro-WM mag die bekannten, dokumentierten Schwächen haben. Dennoch fanden die Ingenieure – darunter die mittlerweile extrem wichtige Gattung der Software-Spezialisten – eine lehrreiche Weiterbeschäftigung. Gegensätzlich zur LMP1-Hybrid-Ära, die als Grenzerfahrung eher Inspiration für die Serienproduktion schenkte, können die Formel-E-Lektionen konsequenter auf die Straße überführt werden.
Das Le-Mans-Comeback 2023 mit dem LMDh-Renner 963 fühlte sich trotzdem absolut richtig an. Technisch finden sich Sprünge im Detail. Die Aufgabe des Teams liegt diesmal darin, den engen Rahmen von Einheitsteilen perfektionistisch auszunutzen. Motorsportchef Thomas Laudenbach erklärt seine Sicht der Dinge: „Wenn wir als Automobilhersteller Sport betreiben, möchten wir eine Relevanz für die Straße sehen. Über das Ausfüllen dieses Begriffs kann man reden. Der Aspekt des Labors spielt diesbezüglich jedoch eine wichtige Rolle. Der Sport kann uns die Chance geben, etwas Mutiges zu probieren. Sollte es nicht passen, geht man zurück und findet eine neue Richtung. In der Serienentwicklung ist das deutlich schwieriger. Deswegen müssen wir Relevanz behalten.“
Dass der Motorsport nicht entkoppelt von der wirtschaftlichen Realität ist, weiß Laudenbach besser als die meisten. „Unser Leben wäre um etliches einfacher und günstiger, wenn wir im Verbrenner-Status-quo verharrten. Aber die Elektrifizierung kommt in größeren Formen. Dies muss abgebildet sein.“ Wie genau – das diskutieren Marken und Regelhüter. Bis dahin bereitet der aktuelle Technikkompromiss gute Action. Vielleicht wohnt also auch zwischen Anfang und Ende ein Zauber.
Le Mans im Überblick
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Info
Text erstmals erschienen in Auto, Motor und Sport
Autor: Philipp Körner
Fotos: Porsche
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