In stressigen Verkehrssituationen den Autopiloten einschalten, sich auf dem Fahrersitz entspannt zurücklehnen oder dem Assistenzsystem die leidige Parkplatzsuche und das Einparken überlassen – hochautomatisierte Fahrfunktionen werden in Zukunft dazu beitragen, Komfort und Sicherheit im Straßenverkehr weiter zu steigern. Bei ihrer Entwicklung darf aber nichts dem Zufall überlassen werden, denn schließlich ist es ihre Aufgabe, immer und unter allen Umständen eine sichere Fahrt zu gewährleisten. „Validierungsmethoden, die sich ausschließlich auf reale Tests stützen, stoßen im Bereich der Assistenzfunktionen unweigerlich an ihre Grenzen“, so Frank Sayer, Leiter Fachdisziplin Virtuelle Fahrzeugentwicklung bei Porsche Engineering. Denn rein rechnerisch müsste man mit den Erprobungsfahrzeugen auf der Straße Hunderte von Millionen Kilometern zurücklegen, um die Zuverlässigkeit der automatisierten Funktionen unter Beweis zu stellen. Heute übliche Testfahrzeugflotten würden dafür mehrere Jahrzehnte benötigen – ein unmögliches Unterfangen.
Weltweit dieselbe Methodik im Einsatz
Gemeinsam mit Kollegen aus anderen Fachabteilungen hat Sayer mit seinem Team darum eine neue, besonders flexibel umsetzbare Absicherungsmethodik erarbeitet. Das Konzept beruht auf der engen Verzahnung von virtuellen Tests am Simulator und realen Überprüfungen auf der Straße. Dafür arbeiten die Entwickler der Plattform „Porsche Engineering Virtual ADAS Testing Center“ (PEVATeC) und Kollegen aus anderen Bereichen in Teams zusammen – von der Absicherung bis zur Freigabe der Funktion. „Wir wenden so weltweit dieselbe Methodik an und können einen hohen Absicherungsstandard gewährleisten“, berichtet Sayer. Dazu wurde eine zentrale Serverstruktur etabliert, über die die internationalen Projektteams ihre Ergebnisse austauschen und die nächsten Bearbeitungsschritte festlegen können.
Die Absicherung einer neuen Fahrfunktion beginnt in der Regel mit einem intensiven Informationsaustausch. „In diesen Gesprächen arbeiten wir heraus, welche Verkehrssituationen und -szenarien für die Tests einer neuen Fahrfunktion besonders relevant sind“, so Tille Karoline Rupp, Entwicklungsingenieurin bei Porsche Engineering. „Bei einem Einparkassistenten sind das Rangiermanöver, während es beim automatisierten Fahren auf der Autobahn eher um eine sichere Längs- und Querführung in verschiedenen Geschwindigkeitsbereichen geht.“
Auf Basis dieser Informationen erstellt sie im Computer das digitale Streckenmodell, in dem die Testsimulation ablaufen soll – eine Aufgabe, die oft mehrere Tage in Anspruch nimmt. „Detaillierungsgrad und damit Aufwand dieses sogenannten digitalen Zwillings sind stark von der Fahrfunktion abhängig, die getestet werden soll, ebenso von der jeweiligen Phase im Entwicklungsprozess“, erklärt Rupp. „Sehr zeitintensiv sind hochgradig realitätsnahe Modelle von Straßenzügen mit dichtem Straßennetz in Innenstädten. In frühen Phasen der Funktionsentwicklung reichen manchmal auch schlichte Szenen mit wenigen Objekten, die wir als generisches Modell aus dem Baukasten erstellen können.“ Um den Aufwand für künftige Untersuchungen so gering wie möglich zu halten, werden alle Streckenmodelle katalogisiert und auf dem Server abgelegt, sodass die Experten sie später wiederverwenden können. Zusätzlich wird der Automatisierungsgrad im Erstellungsprozess stetig erhöht, zum Beispiel durch eine Szenenerstellung mittels parametrisierbarer Algorithmen oder der Verwendung und Kombination verschiedener Kartendaten.
Entwicklungsingenieurin Clara Marina Martínez nutzt diese Datensätze, um die neue Fahrfunktion mithilfe virtueller Fahrzeuge mittels der PEVATeC-Plattform zu testen. Dabei spielt sie auf den Streckenmodellen verschiedene Testszenarien durch, die ebenfalls vorab mit den Entwicklungsfachleuten definiert worden sind. Beispielsweise lassen sich in den Simulationen Verkehrssituationen testen, die im realen Straßenverkehr aus Sicherheitsgründen nicht so einfach nachgebildet werden können. Auch Wetter- und Beleuchtungsphänomene können per Simulation leichter erzeugt und reproduziert werden. Wiederkehrende Muster sind dabei beispielsweise querende Fahrzeuge auf Kreuzungen in unterschiedlicher Folge und mit variabler Geschwindigkeit, überholende und einscherende Pkws oder Fußgänger, die auf die Straße laufen. Die Ergebnisse werden dann zusammen mit der Fachabteilung ausgewertet.
Der folgende Schritt sind in der Regel Fahrtests. Dazu werden die aktualisierten Software-Datensätze aus dem Simulationscomputer auf die Steuergeräte der Testfahrzeuge übertragen, um die Rechenergebnisse unter realen Fahrbedingungen zu verifizieren. Die Fahrversuche finden zumeist auf einem abgesperrten Testparcours wie dem Nardò Technical Center (NTC) statt, Prüffahrten auf öffentlichen Straßen sind aus Sicherheitsgründen bei der Absicherung automatisier ter Fahrfunktionen die Ausnahme.
Roboter steuern reale Fahrzeuge
Auch hier entwickeln sich die Absicherungsmethoden immer weiter. So arbeiten die Ingenieure im NTC daran, bei Fahrversuchen in immer mehr Situationen Fahrroboter einzusetzen. „Das führt zu einer hohen Genauigkeit der Fahrmanöver, die zudem vollständig reproduziert werden können“, erklärt Pierpaolo Positano, Senior Manager Engineering im NTC. Schon heute können in Testszenarien bis zu sechs automa tisierte Fahrzeuge eingesetzt werden, bei denen die mechanischen Aktuatoren die Betätigung von Gas, Bremse und Lenkrad übernehmen. Gesteuert werden die Roboterautos durch lokale Computer, die ein syn chronisiertes Multi-Fahrzeug-Szenario erzeugen. Dazu wurde die komplette Teststrecke in Nardò digitalisiert. Auf dem Rechner ist so eine detailgetreue Nachbildung des Parcours als digitaler Zwilling entstanden, die alle Eigenschaften des realen Systems widerspiegelt.
„Mit dem digitalen Zwilling verwischt die Grenze zwischen Simulation und Realität immer mehr“, so Positano. „Es können sehr realistische Simulationen im Computer durchgeführt werden, da wir neben dem Streckenverlauf auch die Eigenschaften der einzelnen Straßenabschnitte zu 100 Prozent berücksichtigen. Auf dieser Grundlage können wir reale Autos auf der Strecke von Robotern steuern lassen. Sie folgen den Simulationsergebnissen und wiederholen die Tests, um zusätzliche Messwerte zu gewinnen, die für eine endgültige Validierung mit den Simulationsdaten verglichen werden. Mit der durchgehenden Kette aus Simulation und Test haben wir ein Verfahren entwickelt, bei dem sich beide Teile gegeneinander absichern. Das erhöht die Aussagekraft der Ergebnisse erheblich“, berichtet Positano.
Oft ergeben sich durch die Fahrtests im NTC oder auf anderen Teststrecken neue Fragestellungen, etwa zu den Auswirkungen von Regen und Schnee auf die Fahrfunktion. Die Simulationen werden daraufhin angepasst und neu durchgeführt. Ihre Ergebnisse werden anschließend wieder zurück auf das Testfahr zeug übertragen. „Wir arbeiten bei Simulationen mit derselben Software-Plattform wie bei den Testfahr zeugen, sodass unsere Ergebnisse 1:1 auf die Realität übertragbar sind und die Fahrzeugsysteme schnell und problemlos auf unseren Softwarestand gebracht werden können“, so Martínez. Im iterativen Zusammen wirken von Simulations und Testabteilung arbeitet das Team so alle Punkte der Validierung ab – bis die neue hochautomatisierte Fahrfunktion bestmöglich abgesichert ist.
Die neue Absicherungsmethodik soll in nächster Zeit auch bei Porsche Engineering in China eingeführt werden. Seit Gründung der Tochtergesellschaft 2014 ist der Standort Shanghai die Schnittstelle zu Unternehmen vor Ort und strategischer Partner der Porsche AG für den chinesischen Markt. Derzeit baut Porsche Engineering die Kapazitäten im Bereich des hochautomatisierten Fahrens in China massiv aus, auch um die lokalen Gegebenheiten bei der Entwicklung optimal berücksichtigen zu können – etwa die mehrstöckigen Trassen, auf denen der Verkehr aus Platzgründen über- statt nebeneinander geführt wird. „Wenn die Fahrfunktion nicht in diesem Sinne konzipiert ist, kann es zu ADAS-Fehlfunktionen kommen, weil es kein Höhenmodell und keinen ausreichenden Simulationstest gibt“, sagt Zhengjun Xu, Senior Manager für Softwareentwicklung (HAF und ADAS) bei Porsche Engineering China.
Auch die Fahrweise auf Chinas Straßen unterscheidet sich in einigen Punkten von Europa. Zum Beispiel sorgen häufige Fahrspur wechsel und das Einscheren mit geringem Abstand dafür, dass der Übergang zwischen einer normalen und einer sicherheitskritischen Situation viel plötzlicher ist. Darum ist eine andere Abstimmung der Fahrzeugsensorik erforderlich. „Die Bedeutung des hochautomatisierten Fahrens ist in China in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen“, so Zhengjun Xu. „Das liegt daran, dass viele Autofahrer Komfortfunktionen wie Autobahnpiloten und das automatische Einparken schätzen. Darüber hinaus sind automatisiertes und autonomes Fahren Schlüsseltechnologien für die künftige Automobilindustrie, weshalb die chinesische Regierung zahlreiche Richtlinien und Vorschriften erlassen hat, um die Entwicklung dieser Technologie zu lenken und zu beschleunigen.“
Testareal für vernetzte Fahrzeuge
Für Tests unter realen Bedingungen im öffentlichen Straßenverkehr wurde in der Peripherie von Shanghai ein rund 30 Quadratkilometer großes Areal ausgewiesen. Durch ein modernes 5G-Mobilfunknetz können dort neue Ansätze für den Datenaustausch zwischen Fahrzeugen und Infrastruktur entwickelt und getestet werden. „All diese chinaspezifischen Anforderungen erordern eine umfangreiche Forschungs- und Entwicklungskompetenz vor Ort. Auch die Simulation muss in China durchgeführt werden“, sagt Zhengjun Xu. „Es ist eine große Herausforderung, so viele chinaspezifische komplexe Szenarien zu simulieren. Wir glauben, dass die Plattform PEVATeC in Zukunft einen großen Nutzen für die Effizienz und Qualität der chinesischen Entwicklung im Bereich ADAS und hochautomatisiertes Fahren bringen wird.“
Auch in Nardò baut Porsche Engineering derzeit ein modernes privates 5G-Mobilfunknetz auf, das beispielsweise die Echtzeit-Datenübertragung zwischen den Fahrzeugen und stationären Rechnern ermöglicht. „Das schafft die Basis für künftige Testkonzepte, bei denen wir Versuche einschließlich der Anpassung der Testparameter vollautomatisiert durchführen wollen“, erklärt Positano. „Das robotergesteuerte Fahrzeug sendet dazu alle Messdaten an einen stationären Rechner, wo sie ausgewertet und verarbeitet werden. Sollten die Ergebnisse zeigen, dass Parameteränderungen sinnvoll sind, lassen sie sich in Echtzeit ins Auto übertragen, um dann noch während des laufenden Tests die Auswirkungen zu analysieren.“
Bietigheim-Bissingen
Die Entwickler der Plattform „Porsche Engineering Virtual ADAS Testing Center“ (PEVATeC) und Kollegen aus anderen Bereichen arbeiten in Teams zusammen. Ihre Kooperation beginnt bei der Absicherung und endet mit der Freigabe der Funktion. Die Ergebnisse der Simulationen werden gemeinsam mit den Fachabteilungen ausgewertet.
Nardò
Im Nardò Technical Center (NTC) finden die realen Fahrversuche statt. Immer öfter sitzen dabei Roboter am Steuer, um die Ergebnisse reproduzierbar zu machen. Zudem gibt es einen digitalen Zwilling der Teststrecke, der alle Eigenschaften des realen Systems detailgetreu widerspiegelt. Simulation und Test sichern sich so gegenseitig ab.
Shanghai
Porsche Engineering baut seine Kapazitäten im Bereich des hochautomatisierten Fahrens in China derzeit massiv aus, um die lokalen Gegebenheiten bei der Entwicklung optimal berücksichtigen zu können. Neben realen Tests werden dort in Zukunft auch virtuelle Methoden eine wichtige Rolle spielen.
Zusammengefasst
Porsche Engineering sichert hochautomatisierte Fahrfunktionen mit einer Kombination aus virtuellen und realen Fahrversuchen ab. Teams in den Standorten Deutschland, Italien und China arbeiten dabei eng zusammen. Nur so lassen sich die neuen Fahrfunktionen ebenso zuverlässig wie effizient absichern und länderspezifische Besonderheiten berücksichtigen.
Info
Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 1/2022.
Autor: Richard Backhaus
Fotografen: Yolanda vom Hagen, Annette Cardinale, Danilo Dom Calogiuri
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