Mehr als 400 Oldtimer-Rallyes ist Gianmaria Aghem in seinem Leben schon gefahren, viele davon hat er gewonnen. Sein Wagen: ein Lancia Fulvia Coupé aus dem Jahr 1965. „Ich liebe das klassische Design, die rustikale Technik und den Klang des Motors“, schwärmt der 74-jährige Unternehmer aus Turin. Über 70 Pokale stehen in seinem Wohnzimmer.
Zu seinen vielen Auszeichnungen ist nun eine weitere Höchstleistung hinzugekommen, die man von einem Oldtimer-Fan wie Aghem eher nicht erwartet hätte: Im Frühjahr 2021 stellte er auf dem Gelände des Nardò Technical Center (NTC) in Süditalien sieben Weltrekorde auf – mit dem topmodernen elektrischen Einsitzer Blizz Primatist, an dessen Entwicklung er maßgeblich beteiligt war und der kaum etwas mit seinem Lancia Fulvia Coupé gemeinsam hat. Denn einen chromblitzenden Kühlergrill findet man dort ebenso wenig wie Rallye-Scheinwerfer oder klassisch geschwungene Formen. Stattdessen erinnert das vier Meter lange und einen Meter breite Fahrzeug mit Heckflosse eher an einen Torpedo. Beim Beschleunigen hört man keinen satten Vierzylinder, sondern nur das leise Summen des E-Antriebs.
Vom Z.E.R. beeindruckt
Der Name „Blizz Primatist“ verweist einerseits auf Aghems Unternehmen Blizz Timing, das er vor einigen Jahren gegründet hat und das hochwertige Chronometer für den Rallyesport herstellt. Der Zweitname „Primatist“ unterstreicht andererseits den Anspruch des Fahrzeugs, stets als Erster durchs Ziel zu gehen. Vorbild war der legendäre Z.E.R. (Zero Emission Record), den die italienische Designschmiede Bertone 1994 präsentiert hatte. Das E-Fahrzeug mit dem sensationellen cw-Wert von 0,11 war eine futuristische Neuinterpretation des Abarth 750 Record, einem ebenfalls von Bertone gebauten Rennwagen aus den 1950er-Jahren.
Wie dieser war auch der Z.E.R. ausschließlich dafür entwickelt worden, Höchstleistungen zu erbringen. Und das tat er: Das E-Fahrzeug stellte zwei Weltrekorde auf. Einen erzielte er 1994, indem er in einer Stunde eine Entfernung von 199,881 km zurücklegte. Im folgenden Jahr stellte er einen neuen Höchstgeschwindigkeitsrekord für elektrisch betriebene Fahrzeuge auf: 303,977 km/h.
Gianmaria Aghem sah den Z.E.R. zum ersten Mal 1996 auf der Messe Auto-Classica in Mailand. Sofort war er von seinem Konzept beeindruckt. Für Aghem war der Z.E.R. mehr als nur ein Bertone-Klassiker. Er repräsentierte mit seiner neuen Antriebstechnik für ihn einen Vorstoß in unbekanntes Terrain. Und genau das war es, was der Turiner Autofan rund ein Vierteljahrhundert später auch wollte: den Z.E.R. fahren, ihn verbessern und damit neue Rekorde erzielen. Nur leider war der Wagen nicht verfügbar. Nach der Insolvenz von Bertone kaufte der italienische Oldtimerclub ASI (Automotoclub Storico Italiano) die gesamte Sammlung des Bertone-Museums. Jetzt werden die Fahrzeuge – auch der Z.E.R. – in Volandia ausgestellt, einem Museum in der Nähe des Flughafens Mailand Malpensa.
Fundierte Expertise im Automobilbau
Darum beschloss Aghem, ein eigenes Fahrzeug zu konstruieren. Das nötige Wissen brachte er mit, denn der Unternehmer hat sich im Lauf der Jahre eine fundierte Expertise im Automobilbau zugelegt. „Wenn Ingenieure nicht weiterwissen, rufen sie hier an und fragen ihn“, erzählt seine Frau Rossella Conti. Außerdem gewann Aghem für sein Projekt den Ingenieur Eugenio Pagliano, der den Z.E.R. entwickelt hatte und nun gemeinsam mit ihm den inoffiziellen Nachfolger aus der Taufe heben sollte. Als bloß verbesserte Kopie des Z.E.R. war der Blizz Primatist allerdings nie gedacht. „Wir haben alle Komponenten von Grund auf neu entwickelt“, betont Aghem.
So sind die Leistungsfähigkeit des E-Motors und die Effizienz der Akkuzellen auf dem neuesten Stand der Technik. Der Energiespeicher des Blizz Primatist besteht aus 2.688 Lithium-Ionen-Zellen, die insgesamt 34 kWh Energie liefern. Für den elektrischen Antrieb sorgt eine 20 kg leichte Drehstrom-Asynchronmaschine aus der Schweiz, die eine Spitzenleistung von mehr als 147 kW abgeben kann und eine Höchstgeschwindigkeit von mehr als 300 km/h ermöglicht. Das Energiemanagement übernimmt ein komplexer Algorithmus, der zu einer vorgegebenen Strecke oder Zeit die maximale Geschwindigkeit ermittelt. Alle Informationen laufen im Cockpit mit seinen Digitalanzeigen und schwarzgrauen LCD-Displays zusammen, das fast genauso spartanisch ist wie in der Formel 1. Gelenkt wird das E-Fahrzeug mit einem Steuerhorn, ähnlich wie im Flugzeug.
Design-Optimierung im Windkanal
Eines wollten die Ingenieure um Aghem allerdings unbedingt vom Z.E.R. übernehmen: den niedrigen cw-Wert von 0,11. Dafür haben die Designer und Konstrukteure von Podium Engineering aus dem Aostatal den Luftwiderstand des Blizz Primatist am Computer optimiert und im Windkanal des Polytechnikums Turin gemessen. Zu seiner hohen Reichweite trägt auch die moderne Kohlefaser-Leichtbauweise bei, für die das Unternehmen Carbonteam aus Saluzzo im Piemont verantwortlich war. Am Ende blieben die Ingenieure mit dem extrem niedrigen Fahrzeuggewicht von 499 kg unter der vorgegebenen Grenze von 500 kg. So sollte es möglich sein, in zwei unterschiedlichen Klassen anzutreten: E-Fahrzeuge bis 500 kg Gewicht und – mit einigen kg Ballast – E-Fahrzeuge von 500 bis 1.000 kg Gewicht. Hier war auch der mit Bleiakkus ausgerüstete, 890 kg schwere Z.E.R. angetreten.
Seine beiden Weltrekorde hatte der Z.E.R. auf dem Rundkurs des NTC in Apulien erzielt. So lag es nahe, auch den Nachfolger auf dieser Strecke antreten zu lassen. Antonio Gratis, Geschäftsführer des NTC, erinnert sich noch genau an den Anruf von Gianmaria Aghem: „Als ich gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könne, die Strecke für die Rekordfahrten zu öffnen, musste ich nicht lange überlegen. Grenzen der automobilen Zukunft zu erproben, ist Teil unserer DNA – sei es über die Absicherung der Fahrzeuge von morgen oder über einzigartige Rekordversuche. Auf unserer Rundstrecke wurde Automobilgeschichte geschrieben. Was wäre das Nardò Technical Center ohne Rekorde?“
Neuer Streckenrekord über eine Stunde
Nachdem der internationale Automobilverband FIA (Fédération Internationale de l’Automobile) die Rennstrecke überprüft und zertifiziert hatte, war es am 30. April 2021 so weit. Ein Zugwagen schleppte den Blizz Primatist auf die Startposition der 12,6 km langen Hochgeschwindigkeits-Rundstrecke des NTC. Auf einer Anzeigentafel wurde der Countdown heruntergezählt, und bei null setzte sich der schwarze Torpedo mit der aufgemalten italienischen Trikolore fast geräuschlos in Bewegung. Der Blizz Primatist startete zur Rekordjagd. Am Steuer: Gianmaria Aghem.
An diesem und dem folgenden Tag rauschte er mit konstanten Geschwindigkeiten zwischen 200 und 250 km/h über die Bahn und stellte dabei sieben Rekorde in zwei Fahrzeugklassen auf. Am 30. April legte er die Strecken über zehn Meilen, 100 km und 100 Meilen mit der höchsten Durchschnittsgeschwindigkeit zurück, die E-Fahrzeuge mit einem Gewicht bis 500 kg bis dato erreicht hatten. Außerdem überbot Aghem den Streckenrekord über eine Stunde, indem er 225,184 km weit fuhr. Am Ende des Tages hatte der Akku noch eine Ladung von vier Prozent. Dank des intelligenten Energiemanagements hatte Aghem die verfügbare Energie optimal genutzt.
Über Nacht wurde der Akku erneut geladen, und am 1. Mai folgten die drei Rekorde im Zeitfahren über zehn Meilen, 100 km und 100 Meilen in der Klasse E-Fahrzeuge 500 bis 1.000 kg. Zertifiziert wurden sie vom internationalen Automobilverband FIA, dessen Experten gemeinsam mit Vertretern des italienischen Automobilclubs ACI (Automobile Club d’Italia) angereist waren.
Hätte er sich mehr Zeit genommen und den Akku nachgeladen, hätte Aghem noch höhere Geschwindigkeiten erzielen können. „Darum ging es mir aber nicht“, sagt er. „Ich wollte zeigen, dass ein batteriebetriebenes Auto lange Strecken mit einer hohen Geschwindigkeit zurücklegen kann. Das habe ich erreicht.“ Nun hofft er, dass sein Fahrzeug den Automobilherstellern als Vorbild dient und sie anspornen wird. „Diese Leistung war noch vor einigen Jahren unvorstellbar“, so Aghem. Und schon im kommenden Jahr will er sie weiter steigern: Aghem hat angekündigt, dass er im Mai 2022 mit dem Blizz Primatist nach Nardò reisen und weitere Rekorde brechen möchte.
Auch Antonio Gratis ist beeindruckt: „Die Rekorde von Gianmaria Aghem belegen den großen Fortschritt bei den E-Antrieben. Im Vergleich zum Z.E.R. verfügt der Blizz Primatist über eine weitaus höhere Reichweite und repräsentiert damit einen gewaltigen technischen Sprung. Ich bin mir sicher: Die Öffentlichkeit wird schon bald weitere faszinierende Rekorde in der Klasse der E-Fahrzeuge erleben. Und ich bin sicher, dass das NTC dabei eine wichtige Rolle als der Ort großer Erfolge spielen wird.“
Den achten Rekordversuch hat Gianmaria Aghem ausgelassen: das Zeitfahren über eine Stunde für E-Fahrzeuge bis 1.000 kg Gewicht. Diesen Rekord hält dadurch bis heute der Z.E.R. mit 199,881 km zurück- gelegter Strecke. „Ich hätte das überbieten können, wenn ich am zweiten Tag in den anderen drei Kategorien langsamer gefahren wäre“, so Aghem. „Aber ich entschied mich dafür, diesen Rekord des Z.E.R. nicht zu brechen. Das gebot der Respekt vor dieser Legende.“ Seine Frau bringt es auf den Punkt: „Hören Sie? Mein Mann ist eben kein kaltblütiger Rekordjäger. Er ist ein Gentleman.“
Zusammengefasst
Mit seinen sieben Rekorden vom Frühjahr 2021 hat der italie nische Unternehmer Gianmaria Aghem bewiesen, dass reinelektrisch angetriebene Fahrzeuge lange Strecken bei hohen Geschwindigkeiten zurücklegen können. Möglich wurde diese Leistung durch einen effizienten E-Antrieb, modernste Akkuzellen und den geringen Luftwiderstand des Blizz Primatist.
Info
Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 1/2022.
Autor: Mirko Heinemann
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