Wenn es ein Plan war, dann ist er aufgegangen. „Fan“ nannte das Ehepaar Liu aus dem Nordosten Chinas seinen 1997 geborenen Sohn. Übersetzt bedeutet der Name „durchschnittlich“. Für die beiden Lehrer aus der Küstenstadt Qinhuangdao, wo die chinesische Mauer ins Meer ragt, hatte der Name einen doppelten Hintergrund: Zum einen drückte er den Wunsch aus, dass der Junge möglichst normal und sorgenfrei aufwachsen sollte. Zum anderen setzt der Name einen philosophischen Akzent, denn er spielt auf ein Motto von Chinas früherem Staatslenker Deng Xiaoping an: „Verbirg deine Stärke.“
„Verbirg deine Stärke“, lautet das Credo von Liu Fans Eltern.
Bei Liu Fan – der Vorname steht in China immer an zweiter Stelle – passt diese Aussage hervorragend. In seiner Heimat müssen die Heranwachsenden eine harte Qualifikation überstehen, um ins Hochschulsystem aufgenommen zu werden. Liu Fan schaffte dabei nicht nur den Sprung in die erste Liga, sondern gleich in die Champions League des Ingenieursnachwuchses: Er studiert an der Tongji-Universität in Shanghai, eine der weltweit besten Adressen.
Mittlerweile steht sein Abschluss kurz bevor und auf dem Weg dorthin erwarb Fan mehrere Auszeichnungen. Die wichtigste: Vor wenigen Monaten führte er das Formula-Student-Electric-Team der Tongji-Universität als Mannschaftskapitän zum Erfolg. In diesem Innovationswettbewerb konstruieren und fahren Studenten vollelektrisch angetriebene Formel-Rennwagen. Fan dirigierte die siegreiche Mannschaft aus rund 100 Kommilitonen. Porsche China förderte das Projekt.
Die Beziehung der Tongji-Universität zu Deutschland hat eine große Tradition, die lange vor dem Bau des ersten Zuffenhausener Sportwagens begann. Gegründet wurde die heutige Elitehochschule 1907 von deutschen Ärzten als medizinische Ausbildungsstätte. Weder Kriege noch Revolutionen kappten die Verbindung. Das 1998 gegründete Chinesisch-Deutsche Hochschulkolleg gilt heute als Paradebeispiel für den Wissensaustausch der Nationen.
Diese Nähe führte auch Oliver Blume an die Tongji-Universität, wo er promovierte: „Ich habe eine große Kreativität gespürt bei den Menschen, aber auch eine Bereitschaft, sich selbst und das Land weiterzuentwickeln. Diese Dynamik hat mich sehr beeindruckt.“
„Ich würde mit meinen Kommilitonen glatt eine Firma gründen.“ Liu Fan
Der Impuls für den Ortswechsel des heutigen Porsche-Vorstandsvorsitzenden kam damals von einem seiner Doktorväter – ein Chinese, der an der Technischen Universität Braunschweig lehrte. Er holte Blume an das neu aufgebaute Institut für Fahrzeugtechnik der Tongji-Universität. 2001 wurde ihm dort als erstem Deutschen die Doktorwürde verliehen. Der Kontakt ist nie abgerissen. „Oliver Blume hat unser Team besucht“, erzählt Liu Fan noch immer beeindruckt. „Damit wuchs meine Begeisterung für Porsche noch mehr.“
Porsche China feiert in diesem Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Der Aufstieg verlief rasant – bereits seit 2015 ist das Land der größte Einzelmarkt des Sportwagenherstellers. Von Anfang an förderte Porsche soziale und kulturelle Projekte im Reich der Mitte. Im April 2019 unterzeichneten die Tongji-Universität und das Unternehmen eine Vereinbarung zur Kooperation. Die Einrichtung eines chinesisch-deutschen Lehrstuhls im Bereich intelligente Fahrzeuge ist ebenso Teil davon wie weitere Bildungsangebote und Wissenstransfer. So erfuhren die Studenten auch vor Ort professionelle Anleitung durch Experten von Porsche Engineering. Als der persönliche Kontakt pandemiebedingt unmöglich wurde, stellten sie auf digitale Trainingseinheiten um. Weniger theoretisch, dafür sehr sportlich erlebten die aufstrebenden Techniker des DIAN-Racing-Teams der Hochschule ein Fahrertraining im Porsche Experience Center Shanghai, das direkt an die Formel-1-Rennstrecke grenzt. Dazu gehörte auch eine Lektion zum Energiemanagement am fahrenden Objekt: Der Nachwuchs steuerte unter anderem den Porsche Taycan.
Nährboden für Start-ups.
Der Fokus der Forschung liegt sehr stark auf digitalen Funktionen, ein Schlüsselthema für China. Nirgendwo anders auf der Welt werden mehr Start-ups gegründet. Die junge Generation gilt als wichtiger Gradmesser für die automobile Zukunft. Dazu passt das Durchschnittsalter der chinesischen Porsche-Kundschaft: Es liegt im Schnitt bei 35 Jahren – gegenüber weltweit 53 Jahren. Und: In China gehört fast jeder zweite Porsche einer Frau.
Liu Fan entdeckte seine Begeisterung für Fahrzeuge beim Spielen mit einem ferngesteuerten Rennwagen. Allerdings interessierte den damals Achtjährigen weniger die Geschwindigkeit als die Funktionsweise des Mini-E-Autos. Die Neugier auf moderne Technologien wie E-Antriebe war geweckt. Wobei Liu Fan fast schon reflexartig darauf hinweist, dass die Idee so neu nicht sei: „Immerhin wurde schon im Jahr 1900 auf der Weltausstellung in Paris das Lohner-Porsche Elektromobil gezeigt.“
„Mit einer Mannschaft unter Zeitdruck Lösungen zu realisieren, das hat mich fasziniert.“
Auch mit dem Lohner-Porsche „Semper Vivus“ aus demselben Jahr ist der Student vertraut. In dessen Mischantrieb erkennt er zum Beispiel den Urahn des Porsche Cayenne E-Hybrid, mit dem er heute über den Campus fährt. Liu Fan ist Fan von alternativen Antrieben. Sein aktuelles Traumauto sei der Porsche Taycan. Sein Herzensprojekt bleibt aber das Siegerauto seines Formula-Student-Electric-Teams – der knuffige DRe20 mit dem beeindruckenden Heckflügel.
Die Formula Student ist keine als Rennserie ausgetragene Meisterschaft, sondern ein weltweiter Innovationswettbewerb, dessen Historie 1981 beginnt. Die Teams konkurrieren in verschiedenen Disziplinen um Punkte – vom Design über die Umsetzung der Konstruktion bis hin zur Leistungsfähigkeit der Wagen.
Im praktischen Teil der Prüfung wird ein Handling-Parcours auf Zeit gefahren. Darüber hinaus sind ein Langstreckentest zu absolvieren und eine Beschleunigungsprüfung. Üblicherweise messen sich die Teams weltweit, doch die Pandemie stoppte die Entwicklungsarbeit der Studenten in vielen Ländern. Auch ein geplanter deutsch-chinesischer Studentenaustausch fiel dem Virus zum Opfer; dabei hatte Liu Fan bereits begonnen, Deutsch zu lernen.
Deshalb startete der Wettbewerb nun lokal. Sechs Tage dauerte das Kräftemessen von 101 Teams in Xiangyang in der Provinz Hubei. Allein 67 der chinesischen Universitätsmannschaften brachten rein elektrische Rennwagen an den Start.
In der Vorbereitung musste auch das Team der Tongji-Universität auf Homeoffice umstellen. Liu Fan, bereits 2017 von der Hochschule als herausragende studentische Führungskraft ausgezeichnet, wurde zum Teamchef gewählt und übernahm die Koordination. „Als Fahrer wäre ich sowieso viel zu vorsichtig gewesen“, sagt er lachend. Während Konkurrenten in Sachen Batteriesteuerung auf Standardlösungen zurückgriffen, entwickelte die Tongji-Gruppe das Herzstück des Elektroautos selbst.
Liu Fan programmierte die Software zur einheitlichen Dokumentation des Fahrzeugaufbaus und beeindruckte die Jury mit reibungslosem Datenaustausch und Kommunikation. Die Teamarbeit begeisterte Fan: „Mit einer eingeschworenen Mannschaft unter hohem Zeitdruck Lösungen zu realisieren, das hat mich fasziniert.“ Mit seinen Kommilitonen würde er glatt eine Firma gründen, oder noch besser: gleich für Porsche arbeiten. Vielleicht ist der erste Schritt dafür ja bereits gemacht, denn die Kooperation zwischen der Tongji-Universität und Porsche beinhaltet pro Jahr fünf Praktikantenstellen für herausragende Studenten. Liu Fan ist nun einer von ihnen. Und ganz sicher nicht der letzte Junior, dem Porsche Starthilfe gibt.
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche-Kundenmagazin Christophorus, Nr. 399.