Vorbereitung ist das Schlagwort effizienten Handelns. Weiß man um einen Stau, kann man ihn umfahren, droht eine Dürre, spart man Wasser. Corona traf die Welt unvorbereitet. Bis Mitte 2020 starben mehr als eine halbe Million Menschen an einer Covid-19-Infektion. Und die Frage wird laut: Warum gibt es für Pandemien kein funktionierendes Frühwarnsystem?
In anderen Zusammenhängen sind Frühwarnsysteme schon Standard. Am 26. Dezember 2004 bebte vor der Küste Nordsumatras der Meeresboden. Stärke 9,3 auf der Richterskala, eines der stärksten Seebeben der vergangenen hundert Jahre. Wo der Grund des Ozeans zitterte, türmte er Wellen auf, höher und höher peitschten sie der Insel und vielen weiteren Küsten des Indischen Ozeans entgegen. Vorbereitet war niemand. Mehr als 250.000 Menschen starben. Ein Konsortium unter Führung des Deutschen Geoforschungszentrums in Potsdam errichtete daraufhin ein Frühwarnsystem im Indischen Ozean.
Ein Netz von Seismometern ortet Zentren von Erdbeben, Satelliten vermessen Bewegungen der Erdoberfläche via GPS. Würde das System jede Erschütterung berücksichtigen, gäbe es viele Fehlalarme. GPS-Bojen und Drucksensoren am Ozeanboden helfen, nach einem Beben jede Welle zu vermessen. Die Daten werden in einem Rechenzentrum gesammelt und mit Aufzeichnungen verglichen. Durch diese Informationsfülle entstehen Modelle, die binnen Minuten Auskunft geben über Geschwindigkeit, Richtung und Ausmaß eines möglichen Tsunamis – darüber, wie harmlos oder gefährlich er ist.
Analyse mittels maschinellen Lernens
Frühwarnsysteme helfen auch Unternehmen. Beispielsweise um sich auf Schwierigkeiten in der Lieferkette vorzubereiten. „Resilience360 Supply Watch“ heißt das System des deutschen Logistikunternehmens DHL. Das Programm definiert rund 140 Kategorien von Risiken, etwa finanzielle, umweltbezogene und soziale. Berichten Medien über Kriminalität in einer Region? Wie oft werden Mängel beanstandet? Wie sieht es mit den Beständen aus – genug auf Lager? Das DHL-System analysiert Daten aus bis zu 30 Millionen Online- und Social-Media-Beiträgen und stellt die Ergebnisse der Risikobewertung dem Kunden zur Verfügung. Welche relevant sind und welche Konsequenzen daraus folgen, wird stetig neu bewertet. Vom Programm selbst. Dabei hilft sogenanntes maschinelles Lernen (ML).
ML bedeutet gewissermaßen, dass ein System selbstständig neue Informationen aufnimmt und in Beziehung setzt zu vorhandenem Wissen. Zum Beispiel: Ein Pendler braucht für eine Strecke von A nach B 20 Minuten. Auf dieser Strecke gibt es nun eine Baustelle. Weil bereits andere Autofahrer warten mussten, kann eine App dem Pendler noch vor dem Losfahren anzeigen: Für diese Route brauchst du 30 Minuten länger. Das System analysiert auf diese Weise Tausende Baustellen. Vielleicht stellt es auf Grundlage der gesammelten Daten irgendwann auch fest: Immer, wenn auf einer Strecke mit zwei Spuren eine wegen eines Unfalls gesperrt ist, verzögert sich die Fahrt um etwa 40 Minuten. Dann kann die App diese Störung sofort melden, ohne auf die Erfahrungen erster Autofahrer zu warten.
Erst die Vielen sind effektiv
Oft greifen Frühwarnsysteme auf Millionen oder gar Milliarden Daten zu. Je nach Themengebiet kann das alles Mögliche sein: geschichtliche Aufzeichnungen, Jahresringe von Bäumen oder ein Twitter-Beitrag. Maschinelles Lernen hilft, diese Daten zu ordnen. Es modelliert, wie Faktoren aufeinander wirken.
Dirk Helbing, Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich, forscht, wie die Analyse großer Datenmengen uns helfen kann. Etwa um den Verkehr zu verbessern. Stabile Systeme seien wichtig. „Wenn wir eine Straße perfekt auslasten, also die maximale Zahl an Autos in einer Stunde eine Strecke befährt, ist das ein instabiles System. Der Verkehr bricht zusammen. Die Straße verliert an Kapazität. Die Folge ist ein Stau.“ Besser sei es, die Straße konstant gut, aber nicht maximal auszulasten. Das mache das System weniger anfällig. „Jede Ein- oder Ausfahrt, jeder Wechsel der Fahrspur, jedes Beschleunigen oder Bremsen, sind mögliche Störungen.“ Diese Störfaktoren lassen sich mithilfe maschinellen Lernens analysieren und so eine Art kollektives Fahrverhalten ableiten. „Nur ein Auto mit einem Programm auszustatten, bringt nichts“, sagt Helbing. Effizient werde es im Schwarm, wenn also viele Autofahrer ihr Fahrverhalten nach Datenanalysen ausrichten. „Mit etwa 40 Prozent solcher Autos könnte sich unser Verkehr erheblich verbessern.“
Social Media als Warnmelder
Auf Schwarmintelligenz setzte auch Data Scientist Dr. Avaré Stewart, als sie das Projekt M-Eco an der Leibniz-Universität Hannover leitete. Daten aus den sozialen Medien sollten ihrem Team helfen, ein Frühwarnsystem für Pandemien zu entwickeln. „Menschen posten nicht selten über Symptome wie Fieber und Arztbesuche“, sagt Stewart. „Ein einzelner Beitrag bringt für eine Prognose nichts. Häufen sich Meldungen über Fieber an einem Ort, kann das aber ein Indiz sein.“
„Ein einzelner Social-Media- Beitrag bringt für eine Prognose nichts. Häufen sich Meldungen über Fieber an einem Ort, kann das aber ein Indiz sein.“ Avaré Stewart, Data Scientist
Der Vorteil von Social Media sei die Aktualität der Daten. Das helfe, einen Ausbruch früh zu bemerken. Zugleich sei die Datenbasis aber schwierig. „Die Leute schreiben beispielsweise über ihren Hund, die Nichte oder den nächsten Urlaub. Dinge, die nicht unbedingt etwas mit Erkrankungen zu tun haben. Um die Qualität der Daten zu erhöhen, ist es wichtig zu filtern.“ Ist der Filter zu fein, verliert man wichtige Information. Zu grob? Das System wird unbrauchbar. „Hier die Balance finden“, sagt Stewart, „ist die größte Herausforderung.“
Ein weiteres Problem: Wann kommt eine Warnung früh genug? „Wir gleichen die Gegenwart ab mit Erkenntnissen aus der Vergangenheit“, sagt Stewart. Das bedeutet: „Warnen können wir erst, wenn etwas passiert ist.“ Im Fall von Pandemien, wenn es Infizierte gibt. „Für uns war es zu früh, allein auf Grundlage unserer Daten mögliche Pandemien vorauszusagen.“ Auch daher lief das Projekt am Ende der Förderung durch EU-Gelder aus.
Corona-Warn-App: Zu langsam entwickelt?
Auch die deutsche Corona-Warn-App ist ein Frühwarnsystem. Sie vermeidet keine Infektion, hilft aber die Verbreitung einzudämmen. Seit der Behebung von zwischenzeitlich aufgetretenen größeren Problemen bei diesem komplexen Projekt generiert die App nun zuverlässiger alle paar Minuten einen neuen Zahlencode, den sie via Bluetooth an alle Handys der Umgebung schickt. Anders als in anderen Ländern weiß kein Zentralcomputer, welches Telefon mit welchen anderen Geräten zu tun hatte. Nur das jeweilige Smartphone speichert die Codes – identifiziert aber keinen anderen Nutzer. Google und Apple, die beiden größten Systembetreiber für Smartphones, haben Zugriff auf alle Codes und können diese den jeweiligen Geräten zuordnen. Markiert sich ein Nutzer als infiziert, wird das an die beiden IT-Größen geschickt. Von dort wird eine Warnung an alle Handys gesendet, deren Nutzer Kontakt mit der infizierten Person hatten beziehungsweise sich in ihrer unmittelbaren Nähe befanden.
Weil Deutschland auf die zentrale Speicherung von Daten verzichtet, keine GPS-Signale verfolgt und Anonymität garantiert, benötigte es mehr Zeit als andere Länder für die Entwicklung – beispielsweise China, dessen IT-Gigant Alibaba nur drei Tage für die Entwicklung einer App brauchte. Wie funktionsfähig die App dort in den ersten Wochen wirklich war, ist allerdings umstritten. So spricht eine Studie des in Berlin ansässigen Mercator-Instituts für Chinastudien von mehr als 50.000 Beschwerden wegen technischer Fehler allein in der ersten Woche, in der die App im Einsatz war.
Das lange Ringen um den Datenschutz im Vorfeld der Einführung der deutschen App scheint sich in der Akzeptanz der Bürger bemerkbar zu machen. Entscheidend für das Funktionieren des von SAP und Telekom entwickelten Systems ist eine möglichst breite Nutzung. In der Woche nach ihrer Veröffentlichung wurde die Corona-Warn-App von etwa 15 Prozent der Deutschen heruntergeladen. In Österreich war eine ähnliche Warn-App mehr als einen Monat früher erhältlich. Die dortige „Stopp Corona“-App kam drei Monate nach ihrem Erscheinen allerdings nur auf etwa acht Prozent Verbreitung. Österreich hat bei seiner Warn-App inzwischen nachgebessert und garantiert den gleichen Datenschutz wie Deutschland.
Sicherheit versus Geschwindigkeit
In Deutschland wird jede Meldung geprüft. Wer sich infiziert meldet, muss das beweisen. Fehlermeldungen sind so gut wie ausgeschlossen. Zugleich dauert es länger, bis eine Warnung verschickt wird. Aber mit jeder Minute steigt das Risiko weiterer Infizierter. Was geht vor? Sicherheit oder Geschwindigkeit? Dieses Dilemma zeigt sich immer wieder bei Frühwarnsystemen. Und selbst die besten Systeme können keine sicheren Aussagen über die Zukunft treffen, nur mögliche Optionen aufzeigen. Indem sie frühe Wissensgrundlagen liefern, verschaffen sie Zeit. Damit Menschen vorbereitet sind. Und rechtzeitig handeln können, um die Zukunft zu beeinflussen. Die Corona-App kann warnen. Aber nur Menschen können sich entscheiden, Kontakte zu meiden.
Frühwarnsysteme in Natur, Wissenschaft und Wirtschaft
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Elefanten nehmen über Druckrezeptoren in den Fußsohlen Infraschall wahr – etwa 16 bis 20 Hertz unterhalb der Wahrnehmungsgrenze eines Menschen. Das ermöglicht den Tieren, früh auf Erdbeben und Tsunamis zu reagieren.
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Durch das von Jakarta aus betriebene deutsch-indonesische Tsunami-Frühwarnsystem für den Indischen Ozean werden Erdbeben innerhalb von drei bis vier Minuten nach ihrem Aufkommen bis auf 20 Kilometer genau lokalisiert und in ihrer Stärke berechnet.
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Mit „CoronaVis“ entwickelte die Universität Konstanz ein Frühwarnsystem für die drohende Auslastung für Intensivbetten. So sollen Patienten rechtzeitig verlegt werden – auch über die Grenzen von Landkreisen und Bundesländern hinaus.
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Für den Ifo-Geschäftsklimaindex für Deutschland befragt das Ifo-Institut monatlich circa 9.000 Unternehmen zu ihrer Geschäftslage und ihren Erwartungen für die nächsten sechs Monate. Anlageberatern gilt der Index als Frühwarnsystem.
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche Consulting Magazin.