„Ein Hocker steht besser auf drei als auf zwei Beinen“. Hans-Jürgen Wöhler zitiert seinen Vorgänger und lehnt sich zurück für eine kleine Zeitreise. Bis vor kurzem war er Leiter der Baureihe SUV. Für die zwei Hockerbeine stehen sinnbildlich die Modelle Porsche 911 und Boxster, die es in den 1990er-Jahren bereits gibt. Ende des Jahrzehnts ist die gedankliche Geburtsstunde des Cayenne. Wenige Jahre später, 2002, präsentiert Porsche der Weltöffentlichkeit das erste SUV des Unternehmens. 18 Jahre später rollt der 1.000.000. Cayenne in Bratislava in der Slowakei vom Band. Ein GTS in Karminrot, der an einen deutschen Kunden ausgeliefert wird.
Der Cayenne ist der Inbegriff eines SUV, hat das gesamte Segment geprägt, immer wieder Maßstäbe gesetzt und sich selbst übertroffen. Er hat das Unternehmen aus der Krise geholt, eine Vorreiterrolle bei der Hybridisierung eingenommen, Rekorde aufgestellt. Mit dem Cayenne gewann Porsche an Größe und Ertragskraft. Bis heute steht dieses SUV für die Erfolgsgeschichte des Unternehmens. Aber der Reihe nach.
Mutig: ein SUV mit Porsche-DNA
Der stark gesunkene Dollarkurs, die Modellpolitik und die hohen Kosten in der Produktion bereiten dem Unternehmen ab 1986 Probleme. Porsche steuert auf einen wirtschaftlichen Tiefpunkt zu. 1991 verkauft der Sportwagenhersteller 23.000 Fahrzeuge, gerade einmal halb so viele wie fünf Jahre zuvor. Ende 1992 beläuft sich der Verlust auf 240 Millionen Deutsche Mark. Der Tiefpunkt zeigt sich im Geschäftsjahr 1992/1993 mit einem Absatz von nur 14.362 Fahrzeugen, im Geschäftsjahr 1989/1990 waren es noch 31.235. Kurze Zeit später: Im Januar 1993 begeistern die Schwaben auf der Detroit Motor Show mit dem Concept Car des Boxster. Das Unternehmen scheint sich neu erfunden zu haben. Neben der Baureihe 911 fertigt Porsche fortan den ebenfalls zweisitzigen Sportwagen Boxster, der bereits 1996 mit 32.000 verkauften Fahrzeugen für kräftigen Aufschwung sorgt.
Auf Erfolg ruht man sich in Zuffenhausen aber nicht aus. Das war schon immer so. Es gilt zu überlegen, welches Modell in naher Zukunft das Programm ergänzen könnte. Wonach würden sich die Menschen in den frühen Zweitausenderjahren sehnen? Ein Blick in die Glaskugel: Welches Fahrzeug könnte marktadäquat sein? Womit ließe sich der Ertrag verbessern? Mit einem dritten Zweitürer aus Zuffenhausen? Nein, nicht noch ein Zweitürer. Das Projekt „Colorado“ wird ins Leben gerufen. Eine Kooperation mit Volkswagen, alleine möchte sich Porsche das nicht leisten, einen Geländewagen. Die Anforderungen: leistungsstark, geländetauglich, fahrdynamisch. Ein fünfsitziges Familienauto mit typischer Porsche-DNA. Sportlich.
Ende der Neunzigerjahre ein SUV zu bauen, war eine mutige Entscheidung, mit der Porsche schon kurze Zeit später alle Erwartungen übertroffen hat“, erinnert sich Wöhler, der direkt nach seinem Maschinenbaustudium mit Schwerpunkt Fahrzeugtechnik bei seinem ersten Arbeitgeber anfing. „Die Marke übt eine wahnsinnige Faszination aus. Ich hatte damals geplant, etwa drei Jahre bei Porsche zu bleiben. Und bin nie wieder weg“, erzählt der 61-Jährige. Manche Dinge nehmen eben ihren Lauf, schreiben ihre eigene Erfolgsgeschichte. „Ferry Porsche sagte mal: Wenn wir ein Geländefahrzeug nach unseren Qualitätsvorstellungen bauten, würde es auch verkauft“, zitiert der gebürtige Hamburger. Wie recht er hatte.
Hemmingen als Geburtsstätte des Cayenne
Die Idee zum Cayenne ist geboren. Mit ihm wird Porsche alles anders machen als zuvor. In Zuffenhausen übernimmt man die Entwicklungsführerschaft. Da die Kapazitäten in Weissach erschöpft waren, mietet Porsche in der 8.000-Einwohner-Gemeinde Hemmingen ein 3.800 Quadratmeter großes Fabrikgelände im Gewerbegebiet Nord, etwa auf halber Strecke zwischen dem Stammwerk und dem Entwicklungszentrum. Unauffällig, eingezäunt und mit verspiegelten Fenstern. Was folgt sind umfangreiche Umbauten, ein Parkhaus auf der grünen Wiese nebenan, für die Mitarbeiter, Aggregatträger und Prototypen.
Der damalige Leiter der neuen Baureihe SUV, Klaus-Gerhard Wolpert, bringt es in der Mitarbeiterzeitung Carrera (Ausgabe 9/1998) auf den Punkt: „Simultaneous Engineering – hier wird es gelebt“. Porsche teilt sich den für das Projekt „Colorado“ geschaffenen Standort in Hemmingen mit Volkswagen, eine „Investition in die Zukunft“, um die neuen sportlichen Mehrzweckfahrzeuge Cayenne und Touareg zur Serienreife zu bringen. Werkstattmeister Karlheinz Bolz: „Um in der Werkstatt zwischen den Stützpfeilern die Hebebühnen aufstellen zu können, haben wir Autos aus Papier ausgeschnitten und so lange auf dem Plan hin- und hergeschoben, bis es gepasst hat.“
Drei Generationen Porsche-Erfolgsgeschichte
Erstmals angekündigt wird der Cayenne – wenn auch nicht mit dem finalen Namen – 1998, ein Jahr später wird der Standort Hemmingen bezogen. Schnell wird aus dem geplanten „sportlichen und geländegängigen Mehrzweckfahrzeug“ nicht nur das dritte Standbein nach 911 und Boxster, sondern ein Zugpferd, das das Unternehmen aus der Krise manövriert. Als Produktionsstandort kommt Zuffenhausen nicht infrage, der Stammsitz ist zu ausgelastet mit dem Elfer. Also entsteht ein neues Werk in Leipzig.
Circa zwei Jahre nach dem ersten Spatenstich ist es fertig. Mit den hohen Investitionen in die Fertigung geht Porsche ein großes Risiko ein. Aber auch das gehört für das Unternehmen dazu, neue Wege zu gehen, Mut zu beweisen, Chancen zu ergreifen. Bei der Einweihung des Werks im August 2002 ist der Cayenne bereits fertig. Wenige Wochen später, im September 2002, präsentiert ihn Porsche auf dem Pariser Automobilsalon.
Die „Colorado“-Strategie geht auf. Porsche verdient mit dem Cayenne Geld und stärkt ganz nebenbei auch die Zusammenarbeit mit den Wolfsburgern. Was folgt, ist die Erfolgsgeschichte einer Modellreihe über drei Generationen hinweg. Seit 2019 bietet Porsche mit dem Cayenne Coupé eine zusätzliche Karosserievariante an.
Hybridisierung als wichtiger Meilenstein
Die erste Generation des Cayenne stammt aus der Feder des damaligen Designchefs Harm Lagaaij und startet als Turbo und S, mit der Modellpflege kommen die Derivate GTS und Turbo S, später der Diesel hinzu. Insgesamt laufen mehr als 275.000 Fahrzeuge vom Band. Die zweite Generation umfasst unter anderem den S Hybrid, der später zum S E-Hybrid wird. Mit einem der ersten Plug-in-Hybride im Premium-SUV-Segment setzt Porsche 2014 erneut Maßstäbe.
„Der Hybridisierung maßen wir hohe Bedeutung zu, nachdem wir Acht- und Sechszylinder auf den Markt gebracht hatten“, erklärt Wöhler. „Unser Hybridkonzept war ein bedeutender Meilenstein für den Cayenne auf dem Weg zum Plug-in-Hybrid 2014, der eine elektrische Reichweite von mehr als 30 Kilometern hatte.“ Mit dieser Vorreiterrolle habe man wieder neue Märkte erschlossen, eine weitere Benchmark gesetzt, erst als Hybrid, anschließend als Plug-in-Hybrid. 2017 kommt die dritte Generation auf den Markt, mit geschärfter Fahrdynamik, optimierter Alltagstauglichkeit, geringeren Verbrauchs- und CO2-Werten.
Superlative und Weltrekorde
Auch die Zahlen sprechen für das SUV und präsentieren den Erfolg schwarz auf weiß: Im Geschäftsjahr 2007/2008 überholt der Cayenne den Porsche 911 mit knapp 50.000 Stück bei einer Gesamtproduktion von mehr als 105.000. Apropos überholen: Bei der Rallye Transsyberia werden in zwei Wochen mehr als 7.000 Kilometer zurückgelegt. Ein anspruchsvoller Offroad-Marathon, der in den Jahren 2003 bis 2008 stattfindet. Auch dort performt der Cayenne. 2007 belegt er die ersten drei Plätze, ein Jahr später gleich die ersten fünf Plätze.
Zehn Jahre später sichert sich Porsche einen Eintrag im Guinness-Buch der Weltrekorde, als der Cayenne einen 285 Tonnen schweren Airbus A380 42 Meter weit zieht. Damit überbietet der Sportwagenhersteller den bestehenden Rekord für ein „Serienfahrzeug, das das schwerste Flugzeug zieht“ um 115 Tonnen.
Noch wohler als auf einem Flugplatz fühlt sich ein Porsche auf der Rennstrecke, allen voran auf der Nürburgring-Nordschleife. Perfekt für Testfahrten, Rennen und Rekordversuche. Wer in der grünen Hölle besteht, kann überall in der Welt antreten. Als erstes SUV fährt der Cayenne Turbo S dort eine Rundenzeit von weniger als acht Minuten. „Wir setzen uns immer wieder dasselbe Ziel: uns selbst zu schlagen“, sagt Wöhler zur Herausforderung, einen Geländewagen über die berüchtigte Strecke in der Eifel zu schicken.
Cayenne: Kopffreiheit auch ohne Teilcabriolet
Auch beim Design gibt es für Porsche von Beginn an keine Kompromisse. Ganz oder gar nicht. Die Porsche-Gene entscheiden. Wöhler: „Wir haben gesehen, was der Wettbewerb gemacht hat und wollten eine elegante Optik, gepaart mit sichtbarer Sportlichkeit. Uns war es wichtig, dass auch auf den hinteren Sitzen genügend Kopffreiheit vorherrscht. Die Dachlinie ist uns perfekt gelungen. Ein Panorama-Glasdach einzubauen war die perfekte Idee, um einen noch besseren Raumeindruck zu kreieren.“
Kurz vor Markteinführung des Cayenne Anfang der Zweitausenderjahre denken die Designer und Entwickler über weitere Versionen des neuen Modells nach. Im Gespräch ist ein Teilcabriolet mit hoher C-Säule, für dessen Präsentation sie ein 1:1-Modell anfertigen. Das Modell mit dem Targa-ähnlichen Bügel findet zwar Anklang – dennoch entscheidet man sich wegen kaum vorhersehbarer Absatzzahlen dagegen.
Beim 911 hat Porsche gelernt, mehrere Varianten innerhalb einer Baureihe anzubieten. „Da ist es nur konsequent, dass wir auch bei den SUV das Angebot auffächern und so unseren Anteil in diesem wachsenden Marktsegment steigern“, sagt Wöhler und spannt den Bogen zum Cayenne Coupé. „Mit ihm haben wir ein Modell auf den Markt gebracht, das die Alltagstauglichkeit eines SUV noch stärker mit den Fahreigenschaften eines Sportwagens verbindet.“
Wie es Porsche geschafft hat, die Gene des Elfers in den Cayenne zu integrieren, erklärt Designchef Michael Mauer. „Beim Porsche 911 muss jedes neue Designelement so stark sein, dass es sich auch auf einen Panamera oder Cayenne übertragen lässt. Vom 911 leiten wir unsere Marken-DNA ab. Das durchgehende Leuchtenband beispielsweise haben wir als Element vom Porsche 911 erst auf den Panamera und dann, bei der dritten Generation, auf den Cayenne übertragen. Nun ist es ebenfalls Teil der Markenidentität.“
Freier Blick nach vorne
Zurück zum nicht mehr ganz so geheimen Standort Hemmingen. Dort arbeiten heute knapp 700 Mitarbeiter und es herrscht, findet Wöhler, „ein ganz eigener Spirit. Man kennt sich einfach.“ Das läge allen voran an der Art und Weise wie der Standort entstanden sei, schließlich arbeiteten Porsche und Volkswagen dort gemeinsam an einem – wie sich später herausstellen sollte – Erfolgsprojekt. Cayenne und Touareg, Stuttgart und Wolfsburg. „Hemmingen ist bestens eingebettet in unser Netzwerk an Standorten.“ Früher konnte man dort mit Prototypen rein- und rausfahren, ohne fotografiert zu werden, erinnert sich Wöhler an die gute alte Zeit.
Auf die bevorstehende Zeit angesprochen: „Das Automobil wird sich in den kommenden zehn Jahren verändern. Der Cayenne wird weiter seinen Weg gehen und nach wie vor das beste SUV in seinem Segment sein. Ich kann ganz gelassen an meinen Nachfolger übergeben“, sagt Wöhler, der sich inzwischen voll und ganz auf das zweite Erfolgs-SUV von Porsche, den Macan, konzentriert. Und verweist auf Dr. Manfred Harrer, den neuen Baureihenleiter für den Cayenne, der dessen Erfolgsgeschichte nun weiterschreiben darf. Nach einer Million.