Die Polizei jagt über die Straßen. Im Schlepptau eine dunkle Limousine mit amerikanischen Flaggen an der Front. „Die Nachbarn bekommen Besuch“, schmunzelt Porsche-Werksfahrer Michael Christensen. Der Däne blickt vom Balkon, deutet auf das spektakuläre Nachbargebäude. „Das ist die neue Botschaft der USA. Es könnte definitiv ein schlechteres Lebensumfeld geben“, lacht er. Seit Anfang 2019 lebt der amtierende Sportwagen-Weltmeister in London. Seine 50 Quadratmeter große Wohnung ist in einem modernen Komplex direkt neben der US-Vertretung. Vorn die Themse, hinten die S-Bahn, die den 1,81 Meter großen Dänen in wenigen Minuten ins Zentrum der britischen Hauptstadt oder zum Flughafen Heathrow bringt.
„Das Umfeld ist perfekt für mich. So etwas findet man in London nur sehr selten“, sagt der Le-Mans-Sieger von 2018. Christensen hat zuvor fünf Jahre lang in Wien gelebt. Mit der Unterschrift unter seinen Vertrag als Porsche-Werksfahrer im Jahr 2014 war es an der Zeit, das elterliche Haus zu verlassen und ein neues Lebensumfeld zu schaffen. „In Wien habe ich etwas über mich selbst gelernt“, schildert der oft stille Profirennfahrer. „Ich hatte eine Wohnung mit herrlicher Aussicht. Da ist mir erst einmal klar geworden, wie wichtig es für mich ist, weit in die Ferne blicken zu können.“ Das hohe Apartmentgebäude im südlichen Londoner Stadtteil Nine Elms bietet genau dies. Christensens Blicke können vom Balkon weit über die Silhouette der Finanzmetropole schweifen. Und noch eine andere Tatsache ist ganz nach dem Geschmack des schnellen WEC-Piloten.
„Wenn ich die Fenster und die Balkontüre schließe, dann habe ich meine Ruhe“, meint Christensen. „Ich habe dänische Freunde, die seit vielen Jahren in London leben. Bei meinen Besuchen dort habe ich ganz andere Lebensumstände kennengelernt. Es gibt viel alte Baustruktur. Bei einigen Freunden ist es im Wohnzimmer unheimlich laut, weil alles extrem schlecht insoliert ist. Da hast du das Gefühl, du sitzt auf der Straße“, lacht der durchtrainierte Athlet. Christensens Wohnung befindet sich in einem hochmodernen Neubau in einem aufstrebenden Viertel. „Wir haben sogar ein eigenes Fitnessstudio im Haus. Ich muss nur mit dem Fahrstuhl ein paar Etagen nach unten fahren, um trainieren zu können. Da gibt es also keine Ausreden“, bemerkt er augenzwinkernd.
Dabei bevorzugt der Däne das Training an der frischen Luft. Sein direktes Umfeld gilt nicht als touristischer Hotspot von London. Nach nur rund 250 Metern erreicht der Porsche-Werksfahrer bei seinen Läufen die Themse, anschließend lädt die dortige Promenade zu ausgiebigen Touren in Richtung Battersea Park ein. „Wenn die aktuelle Corona-Pandemie überhaupt einen Vorteil hat, dann die Tatsache, dass es derzeit kaum Touristen in der Stadt gibt. Das bedeutet, ich kann auch mal direkt vor dem berühmten London Eye laufen. Das ist eine tolle Szenerie“, meint Christensen. Harmonische Bilder und künstlerische Ästhetik sind dem ansonsten stets auf Rennsport fixierten Skandinavier wichtig. Christensen liebt die Kunst. Und er ist vor zwei Jahren sogar ein Teil der Szene geworden.
„Direkt nach unserem Le-Mans-Sieg 2018 kam eine Künstlerin mit einem spannenden Projekt auf mich zu“, erklärt er. „Sie hat mich im feinen Zwirn in einen mächtigen Lederstuhl gesetzt und fotografiert. Anschließend hat sie über nahezu 50 weitere Layers zusätzliche Elemente hinzugefügt. Am Ende hatte es den Charakter eines Stilllebens. Das Bild bringt mich und meinen Rennsport auf den Punkt: ein Falke für Fokus und Geschwindigkeit, ein Gehirn als Zentrum der Konzentration und ein Zeitmesser für den ständigen Kampf gegen die Uhr. Im Rahmen dieses Projektes sind viele tolle Bilder entstanden. Das hat mir großen Spaß gemacht.“ Christensen liebt die Weitsicht, das klare Bild und im Leben generell den Blick über den Tellerrand.
Der stille Schöngeist ist seit einigen Monaten mit der Dänin Maria liiert. Das Paar ergänzt sich ideal. Die Leben der dänischen Regierungsmitarbeiterin und des schnellen Rennfahrers aus dem Ort Greve nahe Kopenhagen sind enorm unterschiedlich. „Und genau das ist es, was unsere Beziehung perfekt macht“, meint der 29-Jährige, der trotz der anhaltenden Reisebeschränkungen immer wieder von London in seine Heimat fliegen kann, um seine Freundin zu sehen. „Ich bin extrem viel auf Reisen, arbeite im schnellen Motorsportgeschäft. Maria hingegen ist immer in Kopenhagen und hat ganz andere Themen bei ihrer Arbeit. Ihre völlig andere Perspektive ermöglicht mir spannende Einblicke ins Leben.“ Bei ihren regelmäßigen Begegnungen steht manchmal der Rennsport auf der Tagesordnung. Mindestens ebenso oft geht es aber auch um ganz andere Themen. „Aktuell sprechen wir viel darüber, wie sich die Corona-Pandemie auf das Zusammenleben und die Gesellschaft auswirkt. Das ist enorm wertvoll“, berichtet Christensen.
„Ich war in Dänemark in Talkshows, habe bei Sportler-Ehrungen eine halbwegs zentrale Rolle gespielt und bin sogar Prinz Joachim begegnet“, berichtet er. Schmunzelnd fügt er an: „Man glaubt es kaum, aber seine Hoheit hat mich in einem Rennen geschlagen. Beim historischen Grand Prix in Kopenhagen teilen sich jeweils ein Amateur und ein Profi ein Auto. Sein Wagen war insgesamt besser besetzt. Nicht schlimm, denn dort geht es hauptsächlich um den Spaß.“ Weniger Spaß hatte Christensen hingegen beim Besuch des berühmten Musikfestivals Roskilde unweit von Kopenhagen. „Da war ich einmal. Nie wieder! Die Musik war großartig, weil ich Pop und Rock mag und die Veranstalter dort jungen Künstlern eine Bühne bieten. Aber diese vielen Menschen, das Durcheinander und der Matsch waren mir unheimlich. Da bevorzuge ich meine Ruhe in London.“