Der Nürburgring hat seit jeher die Menschen um ihn herum geprägt – und auch sie prägen den Ring. Weltweit gibt es keine zweite Rennstrecke, die so viel Ehrfurcht gebietet.
Im hohen Alter von über 90 Jahren sollte man es eigentlich etwas langsamer angehen lassen. Weniger Hektik, nicht so viel Stress. Lieber mal innehalten und zurückblicken. Das Klima hat sich gewandelt, die Mode auch. Ganz zu schweigen von der Technik. Eines ist geblieben: der Nürburgring, den es seit dem 18. Juni 1927 gibt. Er ist zwar etwas kürzer, aber es sind immer noch dieselben 73 Kurven, Steigungen und Gefälle. 300 Meter Höhenunterschied trennen die tiefste Stelle in Breitscheid von der höchsten Stelle am Abschnitt Hohe Acht. Die Nordschleife des Nürburgrings ist ein 20,8 Kilometer langes Asphaltband zwischen Tälern und bis zu 800 Meter hohen Bergen. Wo früher dichtes Unterholz die Rennbahn säumte, stehen heute hohe Vierfach-Leitplanken und massive FIA-Sicherheitszäune.
Und doch: So, wie der einst vom Bundesland Rheinland-Pfalz als „einspurige Landstraße ohne Gegenverkehr und ohne Geschwindigkeitsbegrenzung“ gewidmete Eifel-Kurs seiner Linie treu geblieben ist, so halten auch die Menschen, die dort aufgewachsen sind und ihn mitgeprägt haben, an ihm fest.
„Kartoffelschälen war nicht mein Ding“
Sabine Schmitz, 47, Rennfahrerin,Pferdenärrin und Ex-Moderatorin der britischen Auto-Sendung „Top Gear“, hat auf der Nordschleife schon viele Tausend Runden absolviert. Zuerst auf dem Fahrrad, dann heimlich mit dem Auto ihrer Mutter, später mit ihrem eigenen Polo GT. „Mein Vater hat die Reifen spendiert. 30.000 Runden werden es bis jetzt wohl gewesen sein.“ Grob überschlagen also mehr als 600.000 Kilometer. Schmitz ist nicht nur Renntaxi-Fahrerin, sie hat auch Dutzende Rennen auf dem Ring bestritten. Unter anderem drei Gesamtsiege beim legendären 24-Stunden-Rennen und sechs in der Langstreckenmeisterschaft konnte sie einfahren.
Alle auf Porsche, im „Frikadelli“-Racing-Team ihres Lebensgefährten Klaus Abbelen. Die beiden leben unweit des Rings in Barweiler auf einer Pferde-Ranch. Dort beherbergen sie während der Saison Hobby-Rennfahrer aus den USA und Kanada. Dabei sollte die gelernte Hotelfachfrau eigentlich das Gasthaus der Eltern, das „Hotel am Tiergarten“ in Hörweite des gleichnamigen Streckenstücks am Ende der Döttinger Höhe, übernehmen. „Meine Oma war echt sauer, als ich lieber Rennen fahren wollte – das sei doch eher was für Männer. Aber Kartoffelschälen war nicht mein Ding.“
Mutter Uschi Schmitz, 75, weiß, warum sich ihre Tochter so mit dem Ring verbunden fühlt: „Ich wusste auch von Kindesbeinen an, dass ich nichts anderes machen wollte, als hier am Ring zu arbeiten.“ Sämtliche Rennsportgrößen hätten schon in ihrem Hotel am Tiergarten genächtigt – und nicht selten hätten sie in ihrer Siegerlaune mit Sektkorken die Lampen kaputt geschossen. Dass einige Rennfahrer am Vorabend der Rennen früher genauso tief ins Glas geblickt hätten wie ihre Teamchefs, sei kein Gerücht, sagt sie. Heute sei das undenkbar: „Die jungen Fahrer sind alle sehr vernünftig geworden.“
Ein Stockwerk tiefer, im Untergeschoss des Hotels, liegt das berühmte Restaurant „Pistenklause“. Der Chef dort: Patrizio Persiani, 54 Jahre alt, Inhaber diverser italienischer Restaurants in der Umgebung. „Ich fahre Porsche Cayenne, aber was den Ring angeht, habe ich keinen blassen Schimmer, wo es langgeht.“ Dafür hält er die Besucher des Nürburgrings seit mehr als 20 Jahren mit ausgesuchten italienischen Weinen und Pasta bei Laune. In dieser Zeit sei er nur sechsmal auf der Strecke gewesen, unter anderem auf dem Beifahrersitz von Sabine Schmitz. „Die Runde werde ich nie vergessen – mir ist das Herz in die Hose gerutscht.“
Wenn es nicht seine Filetsteaks vom heißen Stein sind, die vor allem unter den englischsprachigen Besuchern Kultstatus genießen, dann sind es Nordschleifen-verrückte Promis wie der US-Schauspieler und Porsche-Rennfahrer Patrick Dempsey oder der russische Oligarch Roman Abramowitsch, die sich regelmäßig in seinen Gasträumen einfinden. Für sie eine unterhaltsame und willkommene Ablenkung vom Renngeschehen. Hunderte Fotos, alte Rennplakate, Autogramme und Lobpreisungen früherer Renn-Idole zieren die Wände der Pistenklause.
„Fahrt vorsichtig, Jungs!“
Mit jetzt 89 Jahren ist er fast so alt wie der Ring: Reiner Strack, Spitzname Opa Strack. Den Job als Streckenwärter hat er von seinem Vater, Jahrgang 1896, übernommen. „Der hat schon beim Bau der Nordschleife mitgeholfen und ist später sein ganzes Berufsleben lang am Ring tätig gewesen“, erzählt Strack in seinem typischen Eifeler Dialekt. Noch heute fährt er fast jeden Tag mit seinem Auto die 200 Meter von zu Hause zum „Café zur Nordschleife“, um dort den Ticketverkauf und das Speisen- und Getränkeangebot seines Sohnes und Nachfolgers Alexander zu überprüfen. „Ich muss ja gucken, was passiert!“ Er selbst ging kurz nach dem Krieg beim „einzig großen Arbeitgeber der Gegend“ in Stellung und wurde ab 1958 zu dem, was er bis zur Rente 1995 für Tausende von Ring-Besuchern war: der etwas brummig wirkende Ticketverkäufer und Schrankenwärter an der Nordschleifen-Einfahrt in Breitscheid. „Oft habe ich 95 die jungen Leute wie zum Beispiel den heutigen Rennfahrer Christian Menzel und den Porsche-Testfahrer Timo Kluck gewarnt – fahrt vorsichtig, Jungs, habe ich gesagt, an dieser und jener Stelle ist es rutschig“, erzählt Strack. „Die haben mir natürlich nie was geglaubt. Sind dann hinter der Schranke mit durchdrehenden Rädern losgebrettert und waren nach kurzer Zeit wieder da. Aber die konnten es eben.“
Die Eifelaner rund um den Ring lassen es gemächlich angehen – sofern sie nicht auf der Strecke unterwegs sind. „Nicht so viel Driss“ heißt so viel wie: Keep cool, spiel dich nicht so auf.
Die heutigen Ring-Touristen seien mit denen von damals nicht mehr zu vergleichen, erzählt Strack: „Die rücken heute mit ganz anderem Material an. Früher sind die hier viel mit VW Käfer angetreten, manche tiefergelegt und höllenlaut. Manche auch im Wohnmobil und mit Kind und Kegel. Der schöne Grünstreifen links und rechts neben der Strecke hat immer ziemlich gelitten. Oft haben sie uns auch Beulen in die Planken gefahren und sind heimlich abgehauen, ohne den Schaden zu bezahlen. Die Zeiten der Busse und Wohnwagen sind aber vorbei. Damit traut sich heute keiner mehr auf die Strecke.“ Jetzt würden die Heizdecken auf die Reifen gezogen, nicht mehr über die Knie.
„Die Porsche gehen nicht kaputt“
Mit Reifen-auf-Betriebstemperatur-Bringen hat auch Ron Simon zu tun. Unterhalb der Nürburg hat er seinen Betrieb: „Ich habe 13 verschiedene Porsche-Modelle am Start. Die gehen einfach nicht kaputt, auf der Nordschleife nicht und bei den von uns organisierten Eifel-Touren auch nicht.“ Simons Firma RSR vermietet Autos für Touristenfahrten, Trackdays und für Rennen in der VLN- und RCN-Serie. Man kann ihn auch als Coach oder für Taxifahrten auf der Nordschleife buchen. „Ich bin so etwas wie die letzte Instanz. Wer sich keinen Porsche leisten kann, aber trotzdem einmal einen Cayman S oder einen GT3 RS rund um die Nürburg bewegen will, für den bin ich da.
Manchmal kommen auch Leute vorbei, die ihr eigenes Auto in der Leitplanke kaltverformt haben und nicht im Traum daran denken, ihren Nordschleifen-Urlaub deswegen abzubrechen.“ Dass die Strecke ihren Tribut fordert, ist eine Binsenweisheit, auch wenn man im Umkreis der Nordschleife gar nicht so gern darüber redet.
Joachim Retterath, 68, Tankstellen-Besitzer an der Döttinger Höhe, kennt die Mimik der getroffenen Ring-Kämpfer und ihrer Angehörigen nur zu genau: „Früher, in den 1960er- und 1970er-Jahren, war die Trauer hier in vielen Häusern zu Hause. Weder die Strecke noch die Autos boten Sicherheit. Das ist heute Gott sei Dank völlig anders. Wenn ich manchmal die enttäuschten Blicke und hängenden Mundwinkel der Leute sehe, dann weiß ich: Mit dem eigenen Auto fahren die nicht mehr heim.“ Die einzige Tankstelle im engeren Umkreis ist mehr als nur ein Ort, an dem getankt, Öl nachgefüllt und der Reifendruck überprüft werden kann.
Sie ist Treffpunkt für Motorsport-Fans, Lebensmittel-, Getränke- und Buchladen in einem. Ein Hotel ist ebenfalls mit angeschlossen, die Tankstelle führt man bereits in dritter Generation. „So um die 100.000 werden es wohl sein“, mutmaßt Retterath über die Anzahl der Modellautos, die sich in seinem Geschäft in Türmen stapeln. „Wenn sich erwachsene Männer mit leuchtenden Augen ihr Traumauto im Maßstab 1:18 oder 1:43 aussuchen, dann geht auch mir das Herz auf.“
Nur ein paar Kilometer weiter befindet sich die Cockpit-Bar des an der Start- und Zielgeraden liegenden Dorint-Hotels. Dort trifft Christophorus auf Josef Moré, 72 Jahre alt. Er war fast 30 Jahre lang hier Geschäftsführer. „Josefs“ nannten viele Stammkunden seine Bar, die er mit unzähligen Rennsport-Devotionalien, Plakaten, Motorenteilen, Autogramm-Inschriften und Pokalen verziert hat. Seit jeher einer der bevorzugten Orte am Ring, an dem das auf dem Ring ereilte Schicksal aufrecht und mannhaft angenommen und geteilt wird.
Wenn Moré, aus welchen Gründen auch immer – wegen eines Sieges, einer Platzierung oder vielleicht auch wegen eines unglücklichen Ausfalls –, einen weißen Handschuh über die Theke reichte, dann wussten die Gäste Bescheid. Dann nämlich gab es ein Glas eiskalten „Eifelgeist“. Wenn Moré den klaren Kräuterschnaps aus der Flasche ließ, blieb meist kein Auge mehr trocken.
Porsche auf dem Nürburgring
Porsche hat die Nordschleife des Nürburgrings als einer der ersten Hersteller zu einem wesentlichen Bestandteil des eigenen Testprogramms gemacht. In dem vor über 20 Jahren gegründeten „Industrie-Pool“ am Nürburgring sind heute nicht weniger als 37 Firmen organisiert – nahezu alle Automobil- und Reifenhersteller. An 56 Tagen im Jahr ist die Strecke jeweils von 8 bis 17.15 Uhr allein für die Versuchsfahrten der im Industrie-Pool vertretenen Firmen reserviert – von Mitte März bis Mitte Oktober. Alle Fahrer sind speziell für den Einsatz auf der Strecke geschult. Nirgendwo auf der Welt lässt sich einem Auto in ähnlich effektiver Weise auf den Zahn fühlen. Das Belastungsprofil der 20,8 Kilometer langen Strecke bildet so gut wie jeden erdenklichen Fahrzustand ab. Der für den Ring angenommene sogenannte „Raffungsfaktor“ wird mit 1 zu 100 angegeben, das heißt, ein Kilometer Nordschleife entspricht in etwa 100 Kilometern auf der normalen Straße. So kann in vergleichsweise kurzer Zeit ein ganzes Autoleben simuliert werden. Der einzigartige Streckenverlauf mit seinen vielen Senken und Kuppen ist ideal für Dauerlaufversuche und Funktionstests. Was auf der Nordschleife für gut befunden wird, funktioniert überall auf der Welt.
Weitere Informationen: www.nuerburgring.de
Info
Text erstmalig erschienen im Magazin Porsche Klassik 15.
Autor: Horst von Saurma
Fotografie: Theodor Barth
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