Paulo Humanes steht im Labor für neue Mobilität am Hauptsitz der PTV Group in Karlsruhe. Fünf Monitore, ein Tisch mit Projektionsfläche und ein wandgroßer Bildschirm umgeben den Manager, zuständig für Business Development und New Mobility der PTV Group. Der Raum fungiert als Schaltzentrale, in der er Besucher auf eine virtuelle Tour mitnimmt. Erster Halt: Barcelona.
„Was meinen Sie, wie lange sollen die Passagiere maximal warten, bis sie von autonomen elektrischen Fahrzeugen abgeholt werden?“, fragt Humanes und fordert dazu auf, in die Rolle des Bürgermeisters zu schlüpfen und für die Einwohner zu entscheiden, wie sie in der europäischen Metropole künftig umweltfreundlich, schnell und sicher an ihr Ziel kommen können. „Wie lange vorher sollen sie ein Fahrzeug vorbestellen müssen?“ Und: „Können sie an jedem Ort einsteigen, an jeder Straßenecke oder nur an festgelegten Haltepunkten?“ Ganz schön viel zu entscheiden.
Doch wenn alle Eckdaten feststehen, entfaltet sich die Zukunft in Form eines interaktiven Szenarios vor den staunenden Augen der Betrachter. Die Fahrt von einem beliebigen Punkt ins Stadtzentrum, zum Beispiel zur berühmten Einkaufsstraße La Rambla? Kein Problem. Auf dem Wandmonitor lässt sich genau nachvollziehen, wie sie verlaufen würde – und was sich gleichzeitig sonst noch bewegt in der Stadt.
„Wir entwickeln uns zu einer globalen Plattform für Mobilitätsmanagement“ Paulo Humanes
Realistische Szenarien für die urbane Mobilität zu entwickeln, ist das Kerngeschäft der PTV Group. Die drei Buchstaben stehen für Planung, Transport und Verkehr. „Wir entwickeln uns zu einer globalen Plattform für Mobilitätsmanagement“, sagt Humanes. Dazu gehört, nicht nur die jeweils aktuellen Gegebenheiten zu berücksichtigen, sondern auch alles, was sich in Zukunft ändert. Denn allein der Bau einer Brücke oder eine größere Veranstaltung mit mehr Besuchern als an durchschnittlichen Tagen wirken sich auf weite Teile der Stadt aus. Genauso wie neue Mobilitätsanbieter wie Uber oder Moia, die mit Ridesharing-Konzepten das Verkehrsgeschehen beeinflussen. „Städte sind eine komplexe und teils zufällige Sache“, so Humanes. Und trotzdem lassen sie sich berechnen. „PTV war schon vor 40 Jahren davon überzeugt, dass Technologie die Mobilität verändern kann.“ Damals entstand das Unternehmen als Spin-off des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Seither ist PTV durchgehend gewachsen. Heute ist das Unternehmen in 128 Ländern vertreten, 2.500 Städte und 15.000 Menschen nutzen die Software.
Und mehr als eine Million LKW-Fahrer lassen sich von einer Software lotsen, die auf Simulationen von PTV basiert. Dank Algorithmen und historischen Daten kann sie vorhersagen, wann ein Empfänger mutmaßlich anzutreffen ist – und berücksichtigt den Zeitpunkt bei der Berechnung der Route, damit keine unnötigen Schleifen gefahren werden. „Allein damit vermeiden wir 40.000 Tonnen CO₂ pro Tag“, sagt Paulo Humanes. Es gibt aber noch weitere Kriterien, die einfließen, wie aktuelle Verkehrsveränderungen oder die Eigenschaft der Lieferung. Bekommt ein Supermarkt Tomaten, ein anderer hingegen Kühlwaren? PTV hat sich hier längst zum Platzhirsch entwickelt. „In Frankreich wird kaum ein Paket ohne PTVOptimierung zugestellt.“ Auch die Veranstalter der weltweit größten SportEvents vertrauen auf die Erfahrung des deutschen Unternehmens. Genauso wie Städteund Verkehrsplaner.
„Die Simulation ermöglicht einen Blick in die Zukunft“, sagt Paulo Humanes – und wie zur Bestätigung wechselt die Ansicht des großen Monitors zur nächsten Station, vom Barcelona der Zukunft zum Karlsruhe der Gegenwart: 9.30 Uhr morgens, viele Straßen und Kreuzungen sind rot eingefärbt. „Berufsverkehr, ein Unfall bringt den Fluss zum Stocken“, erklärt Humanes. Nur ein Klick von Humanes und das System zeigt anhand verschiedener Szenarien auf, wie der Verkehr wieder zum Fließen gebracht werden kann – in 10, 30 oder 60 Minuten.
„Man muss genau hinschauen, wenn man die Zukunft plant“ Paulo Humanes
Doch der Stau ist nur ein Problem von vielen Metropolen der Welt. Ein weiteres ist die Lebensqualität in den Innenstädten, die oft davon geprägt ist, dass immer weniger Platz für Fußgänger und für Freizeitaktivitäten bleibt. Über dieses Problem kam die Stadt Lissabon eines Tages mit PTV ins Gespräch. Sie wollte wieder attraktiver für Fußgänger werden und beauftragte eine Studie über die Potenziale. Eine Erkenntnis aus der Arbeit: Das Kopfsteinpflaster der Innenstadt machte Fußgängern zu schaffen – viele stolperten. „Bei der Analyse stellten wir fest, dass dies vor allem vor Bars und Restaurants passierte“, so Humanes. Doch dahinter stand nicht die Trunkenheit der Barbesucher, sondern die Logistik: Vor den Bars hielten viele Laster, die Getränke lieferten. Sie waren zu schwer für das Kopfsteinpflaster, sodass es uneben wurde. „Man muss genau hinschauen, wenn man die Zukunft plant“, sagt Humanes. Als mögliche Lösung schlug PTV vor, dass Parkhäuser zu Micro-Delivery-Hubs umgestaltet werden, zu lokalen Verteilzentren, in denen Waren aus den großen LKW zu weiteren Distribution in der Stadt auf kleinere Elektro- Fahrzeuge umgeladen werden. „Wenn man in Lissabon kein Auto mehr braucht, können auch die Parkhäuser umfunktioniert werden“, so Humanes. Auf den Dächern der Parkhäuser könnten zum Beispiel Bars entstehen oder sie könnten zu öffentlichen Plätzen umgestaltet werden.
Die Lissabon-Studie habe auf Grundlage einer Simulation mit historischen Daten sowie Annahmen für die Zukunft ergeben, dass die Stadt mit geteilten autonomen Fahrzeugen, sogenannten Robotaxis, lediglich einen Bruchteil der heutigen Autos brauchen würde: nur zehn Prozent. Würde es so weit kommen, wäre das eine ganz neue Form und Kultur der Mobilität, die die roten Balken auf Humanes’ Bildschirm in seiner Schaltzentrale endgültig verschwinden ließen. Und der Manager ist optimistisch, dass es so weit kommen wird. „Wir sehen überall auf der Welt, wie Technologie Mobilität verwandelt.“ Humanes formuliert es noch deutlicher. „Es gibt spürbare Hinweise darauf, dass PTV die Welt verändert“, sagt er. Das sei der Grund gewesen, weshalb der Portugiese nach einer Station im englischen Newcastle vor gut zehn Jahren nach Karlsruhe gezogen ist – um sich bei PTV für nachhaltigen, effizienten und sicheren Verkehr zu engagieren.
In Lissabon wird konkret an der nachhaltigen Zukunft gearbeitet. Dort wurden bereits 300 Ladestationen für E-Autos installiert und zudem der Fahrdienstleister Uber verpflichtet, vermehrt Fahrten in E-Mobilen anzubieten. Zugleich senkte die Stadt die Preise des öffentlichen Nahverkehrs. „Mobilität als Service kann ökologisch sein“, sagt Paulo Humanes. Aber: Es gibt keine Pauschallösungen“. Jede Stadt sei anders und um die Zukunft zu planen, brauche es gute Simulationen, die jede Eventualität berücksichtigen.
„Du musst immer das gesamte System verstehen“, stellt Humanes fest. Dieser Zugang bewahrt ihn und seine Kollegen vor einem verbreiteten Denkfehler: Selbst wenn nur noch Robotaxis auf der Straße fahren sollten, führt das nicht zwangsläufig zu weniger Verkehr. „Im Gegenteil, die Gefahr besteht, dass mehr Menschen Auto fahren“ – schließlich ist es bequem, nicht selbst lenken zu müssen und ohne zeitraubenden Stau vorankommen zu können. Die prognostizierten zehn Prozent aller Fahrzeuge, die Lissabon in Zukunft nur noch braucht, werden Tag und Nacht fahren – im Gegensatz zu den Autos heute, die im Schnitt 23 Stunden am Tag stehen. „Deshalb braucht es auch einen sehr guten Nahverkehr“, sagt Humanes. „Eine Simulation muss klären, ob ein System die Metro füttert oder ob es der Metro Fahrgäste wegnimmt.“ Eine schnelle Metro und ein Robotaxi für den letzten Kilometer – das kommt allen entgegen: der Umwelt und den Fahrgästen. Und das, sagt Humanes, ist die Zukunft.
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Foto: Porsche Consulting