Prolog
Ihr versteht uns nicht. Und das hängt ganz eindeutig mit dem Wetter zusammen. Wir Kalifornier kennen nur Sonne. Irgendwer will herausgefunden haben, dass in der Bucht von San Francisco mehr Regen runterkommt als in London. Nur mit einem Unterschied: Bei uns fällt das ganze Wasser praktisch auf einen Schlag. Cabrioletdächer? Sind grundsätzlich offen. Wetterbericht? Uninteressant. Wir wissen, es bleibt die nächsten Monate trocken. Aber dann kommt der Regen. Jedes Jahr im Winter. Ohne Vorwarnung. Vor allem anderen bringen die Bewohner des Golden State ihre Autos in Sicherheit. Wer bei diesem Wetter fährt, der kann nur verrückt sein! Oder einer von uns: ein Mitglied der R Gruppe.
1. Akt: Für immer Mitglied 001
Niemand hat es ihm gesagt. Und niemand wird ihm je sagen können, dass er der Erste ist. Die Mitgliedsnummer 001 erhielt Steve McQueen posthum, der unbestrittene „King of Cool“, die Stilikone voller viriler, melancholischer Eleganz, der Schwarm, der Star, der Rennfahrer, der niemals einen anderen spielte als Steve McQueen: unbeugsam, rebellisch, stur. Sein Ideal trägt die kalifornische R Gruppe wie eine Monstranz vor sich her.
Das, was Steve McQueen in seinen Filmen verkörpert – das Unangepasste, das Raue, das Wilde –, ist der Geist dieser außergewöhnlichen Porsche-Fans. „Um bei uns dazuzugehören, muss man schon Nonkonformist sein,“ sagt Cris Huergas, Nummer 002, Mitbegründer und Präsident. Ernst guckt Huergas nur auf Fotos. Wenn man ihn darum bittet. Aber lieber hat er Spaß. Weil er das Leben nicht so ernst nimmt und sich selbst schon gar nicht. Er hat 1999, als er die Apokalyptiker mehr fürchtete als den angeblich drohenden Weltuntergang, seinen ganz persönlichen Baum auf die Straße gepflanzt, einen Porsche 911 S, Baujahr 1969 – oder das, was er daraus machte: Rennverschlüsse, tiefer, rougher Look; alles im Stil eines klassischen Renngefährts, das gelebt hat. Huergas übersetzte das amerikanische Hot Rod der 1950er-Jahre in das Jetzt der Porsche-Welt. Und gleichgültig, ob man nun rod nach Duden mit „Pleuel“ übersetzt oder als „Waffe“: Es kam ein heißes Eisen dabei heraus. Eines, das aus dem Norden Kaliforniens bis tief in den Süden Hitze ausstrahlte. Dort hatte der frühere Porsche-Designer Freeman Thomas (003) eine ganz ähnliche Idee. Und so begann es.
Der erste Kontakt. Gegenseitige Anrufe. Bald wird mehr daraus. Fünf weitere Bekenner kommen hinzu. Eines der ersten regulären Mitglieder ist Jeff Zwart (011), Rennfahrer, ein guter Freund von Thomas. Zwart ist Rallyes gefahren, Rundstrecke, aber richtig gut ist er am Berg. Er gewann auf dem legendären Pikes Peak in Colorado mehrfach die Klasse; kaum einer hat häufiger und schneller das Geschlängel der 156 Kurven über knapp 1.500 Höhenmeter hinauf in die Wolken absolviert: 20 Kilometer in deutlich unter zehn Minuten.
Die R Gruppe entsteht. Bewusst wählen sie den deutschen Namen, nicht das englische group – eine Hommage an den Porsche 911 R von 1967. Mit dem Motor des 906 Carrera 6 ausgestattet, ist er das Kultobjekt der Gruppe und das Vorbild für die Eintrittskarten: alle Porsche bis 1973. „Vergiss nie, wofür ein Sportwagen gebaut wurde – für sportliches Fahren“ lautet das Motto der Enthusiasten. Aus dem Mund von Huergas klingt es wie ein Mantra.
Das erste Treffen – nicht meeting – findet Mitte 2000 an einem kleinen Hotel in Cambria, Kalifornien, statt, auf halber Strecke zwischen San Francisco und Los Angeles. 30 Autos erwarten die Initiatoren – bestenfalls. Es fahren vor: rund 100 Porsche. Damals wie heute gilt: Weder Fahrzeuge noch Mitglieder sind Mainstream. Cool müssen sie sein, irgendwie, so wie der Rollkragenpullover von McQueen im Mustang von Bullitt oder die Erscheinung von Magnus Walker, dem Modedesigner und Autor von Urban Outlaw. Mitglieder kann es nur 300 geben. Nicht mehr. Nicht, um auszugrenzen, sondern um die Vertrautheit zu bewahren. „Die R Gruppe ist nicht nur einfach ein Club“, sagt Huergas, „sie ist eine Gemeinschaft.“ Um sie lebendig zu halten, muss sie aktiv sein. Wer nicht mitmacht, ist draußen. Andere rücken mit fortlaufenden Nummern nach.
Eigentlich dachten die Pioniere der R Gruppe, die Gemeinschaft werde mit der Zeit an Attraktivität verlieren. Inzwischen ist klar, dass sie zur Subkultur geworden ist. Sie könnte leicht zehnmal so stark sein, obwohl oder gerade weil sie nach Gegenwehr schreit. Die einen können sie nicht ausstehen, weil sie in arrivierten Kreisen für einen Haufen Möchtegern-Rennfahrer gehalten werden. Andere lehnen sie ab, weil sie sich nicht an vermeintliche Regeln alteingesessener Owner Clubs halten. Wieder andere rümpfen die Nase, weil sie die Autos für billige Nachbauten halten. Huergas kann da nur lachen. Er winkt ab: „I don‘t give a damn.“
2. Akt: Von der Notwendigkeit, unernst zu sein.
Das Clubhaus der R Gruppe: mehr offenes Haus als einsame Trutzburg. Dorthin zu gelangen, ist ganz EASY; das Akronym steht für European Auto Salvage Yard. Das Gelände ist in dem kleinen kalifornischen Ort Emeryville, direkt an der Bucht von San Francisco, zwischen Oakland und Berkeley, beheimatet und liegt in unmittelbarer Nachbarschaft der Pixar Animation Studios, wo Cartoon-Träume wie Findet Nemo oder Toy Story für das Kino entstehen. EASY hingegen ist ein Ort, an dem Träume einst sehr real endeten: ein Verwertungsbetrieb, spezialisiert auf Porsche-Fahrzeuge, die nicht so viel Glück hatten unter der Sonne Kaliforniens. Zwar wurde der Betrieb der Anlage 2017 eingestellt. Aber noch immer ist das Gelände ein Wallfahrtsort. Dort treffen sich die Mitglieder der R Gruppe – und mit ihnen viele andere Porsche-Enthusiasten aus der Bay Area – jeden ersten Samstagmorgen im Monat. Seit 20 Jahren.
Heute Morgen regnet es. Vielleicht herrscht deshalb nur halb so viel Betrieb wie sonst. Es fehlen die normals, wie Huergas sagt, Sammler und Gäste, die ihre Autos notfalls mit Wattestäbchen reinigen. Nicht so die R Gruppe: Kein Wetter kann sie abhalten. Ihre Mitglieder tröpfeln auf den Hof. Ein Grollen, weit entfernt, schnell näherkommend, ein Gasstoß, herumschwingende Scheinwerfer, Vorfahrt. Immer wieder. Beschlagene Seitenfenster blockieren den Blick ins Innere der Sportwagen. Sobald ein Fahrer aussteigt und sich zu seinen Freunden gesellt, beginnen die gegenseitigen Sticheleien.
Rick Spinali (720) kennt das schon. Alle wissen, dass er ein kürzeres Bein hat; deshalb hat er auf das Kupplungspedal ein zweites geschweißt. Doch die Frage danach gehört zum Begrüßungsritual. Sein Porsche 912 aus dem Jahr 1969 wird zwar keinen Schönheitspreis gewinnen, aber auch kein Beschleunigungsrennen verlieren. Dafür gibt es keinen Spott, sondern Anerkennung.
Eine Gelegenheit, sich über Jeff Saccullo (750) oder seinen Porsche 356 Baujahr 1960 lustig zu machen, bekommt man nicht. Saccullo lacht nämlich gern und schnell über sich selbst. Er nennt den 356 sein „Warzenschwein“, denn „er ist einfach nur hässlich“. Trotzdem liebt er ihn. Oder besser: gerade deswegen. Saccullo zögert keine Sekunde mit Spötteleien, vor allem über jene, die bei Regen nicht fahren, weil ihre Autos dann schmutzig würden: „Was ist denn bei euch kaputt, Jungs?“
Steve Hatch (746) kommt an, als der heftigste Schauer des Tages niedergeht. Raunen und Applaus. Mit ihm hatten sie nun wirklich nicht gerechnet, besser gesagt: nicht damit, dass er sein Auto aus der Garage holt. Hatchs 911 von 1970 ist bildschön, ein Fabelwesen in Orange, das man eher beim Concours d’Elegance in Pebble Beach erwarten würde, und zwar bei gedimmter Sonne und einer leichten Brise vom Meer. Und tatsächlich hat Hatch kurz überlegt, ob er losfahren soll – nicht wegen des Sauwetters, sondern weil er sich anfangs nicht sicher war, ob die Scheibenwischer funktionieren. Denn er hat sie vorher noch nie benutzt. Der Vorbesitzer übrigens auch nicht. Der hat den Sportwagen immer nur geputzt und Hatch einmal sogar zusammengestaucht, weil er es sich erlaubt hatte, den Porsche mit Wasser zu waschen. Mit normalem Wasser! „Der würde wahrscheinlich tot umfallen, wenn er wüsste, was ich hier heute bei diesem Wetter mache.“ Hatch lacht. Immerhin: Der Scheibenwischermotor schnurrt wie ein Kätzchen.
3. Akt: Das Gesetz der Straße
Dann wird es Zeit zu fahren. Nicht nach Hause, denn das hier ist kein Kaffeeklatsch. 18 klassische Porsche teilen das Wasser auf der Straße und folgen dem Asphaltband der Claremont Avenue direkt hinauf in die Berkeley Hills. Es gibt wenige Dinge, die mehr Spaß machen als eine freie kurvige Straße, Heckmotor und ein gefühlvoller Gasfuß. Mitlenkende Hinterachse? In gewisser Weise hatte ein Porsche die schon immer.
Als die knapp dreißig Köpfe zählende Gruppe zum Mittagessen vor einem Restaurant hält, spricht eine Kleinigkeit Bände: Niemand hat daran gedacht, Plätze zu reservieren. Hastig werden Tische zusammengeschoben. „Chaos gehört bei der R Gruppe dazu“, sagt Saccullo mit einem breiten Lächeln. „Man will ja eine kleine Spur hinterlassen, damit man in Erinnerung bleibt.“
Epilog
Die Menschen da draußen verstehen uns nicht. Wir sind die R Gruppe. Wir kennen keine Regeln außer denen, die wir uns selbst geben. Aber ihr, ihr versteht uns jetzt. Denn wir sind Porsche-Fahrer. Ihr, wir, dreihundert, dreitausend, drei Millionen – egal: wir alle.
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche-Kundenmagazin Christophorus, Nr. 390.
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