Fürs Foto nimmt uns Dr. Matthias Schubert mit in den unternehmenseigenen „Dschungel“. Der Raum mit künstlichen Bäumen und Vogelstimmen liegt auf der Innovationsetage im 18. Stock des TÜV-Hochhauses in Köln. Hier lässt es sich gut über die Zukunft nachdenken. Vorhersagen kann der Leiter der Sparte Mobilität sie natürlich nicht. Aber was da in Sachen New Mobility auf ihn und TÜV Rheinland zukommt, das hat er recht klar im Blick: Er sieht autonom fahrende Robotaxis, derart mit Sensoren vollgestopft, dass sie bei einem Unfall geradezu spüren, welche Schäden entstanden sind. Er sieht Autos, die Messwerte sofort in einen Cloud-Speicher hochladen, wo ein Algorithmus sie mit Unfallmustern vergleicht, automatisch einen Report schreibt – und gleich noch den Restwert des Autos ermittelt.
„Technisch ist das alles möglich“, sagt Schubert. „Ich bin überzeugt, dass wir solche Szenarien sehen werden. Die Frage ist nur, wann.“ Als Executive Vice President Mobilität bei der TÜV Rheinland AG ist es Schuberts Job, diesen Zeitpunkt nicht zu verpassen. Denn wenn es einmal soweit ist, dann wird seinem Geschäftsbereich ein entscheidender Ertragsbringer wegbrechen: die sogenannten Schaden- und Wertgutachten von Fahrzeugen.
Im Auftrag großer Autohäuser, Versicherungen und Leasinggesellschaften begutachten TÜV-Ingenieure Unfallwagen und Leasingfahrzeuge, die zurückgegeben werden, und schätzen deren Restwert. Und obwohl es ein Massengeschäft ist – am größten Rücknahmeplatz kümmert sich TÜV Rheinland um 20.000 Fahrzeuge pro Jahr –, ist der Vorgang bisher nur wenig automatisiert: Die Gutachter geben Daten und Fotos immerhin in Tablets ein.
Es müssen neue, digitale Geschäftsmodelle her
„Da klopft die Digitalisierung buchstäblich an die Tür“, sagt Schubert. Leasing und Carsharing ersetzen weltweit immer mehr den Besitz des eigenen Autos. Im professionellen Flottengeschäft jedoch ist Prozessautomation alles, und deshalb steigt der Druck, technische Lösungen wie digitale Bildverarbeitung und künstliche Intelligenz einzusetzen, genauso wie Fahrzeugsensoren, die im Schadenfall wissen, welche Kräfte gewirkt haben. Für TÜV Rheinland heißt das: Es müssen neue, digitale Geschäftsmodelle her. Denn automatische Schaden- und Wertgutachten werden weit weniger Marge bringen als heutige Gutachten. Falls digitale Disruptoren das Geschäft bis dahin nicht komplett an sich gerissen haben.
Deshalb arbeitete TÜV Rheinland mit Porsche Consulting zusammen an einer Digitalisierungsstrategie für den Bereich Schaden- und Wertgutachten. „Wir wollten Impulse von außen“, sagt Schubert. „Es ging auch darum, etwas in Gang zu setzen. Einigkeit darüber zu schaffen, wo Änderungen nötig sind.“ Den Zuschlag erhielt Porsche Consulting, weil die Berater neben den klassischen Methoden auch einen „Business Model Hack“ anregten, mit dem das aktuelle Geschäftsmodell grundsätzlich hinterfragt wird. Anfang 2018 lieferte Dirk Pfitzer, Senior Partner bei Porsche Consulting, die Projektskizze. Drei Wochen später ging es los: Die Porsche-Berater arbeiteten sich ins Thema ein, analysierten, wie TÜV-Gutachter Autos beurteilen, und leiteten aus den vielen Daten eine Prognose ab. Das Ergebnis war ein Schock: Bis zum Jahr 2030 könnte das Geschäft mit Schaden- und Wertgutachten um bis zu 90 Prozent einbrechen. „Spätestens da konnten alle sehen: Das Bedrohungsszenario ist real“, sagt TÜV-Manager Schubert.
Der Business Model Hack
Für den eigentlichen Business Model Hack schlossen sich Porsche-Berater mit einer Gruppe von TÜV-Mitarbeitern für knapp zwei Wochen weg. Das Team war gemischt aus Führungskräften und Gutachtern, auf geschlossenen Erneuerern, aber auch eher traditionell eingestellten Kollegen. Junge Gründer aus der Tech-Szene waren auch dabei. Drei Start-ups stellten digitale Technologien vor, die das Zeug dazu haben, die Welt der Schaden- und Wertgutachten auf den Kopf zu stellen. Anschließend forderten die Moderatoren von Porsche Consulting die Teilnehmer heraus: Wenn ihr Geld und Zeit hättet, wie würdet ihr TÜV Rheinland kaputt machen? Wie würdet ihr angreifen? „Die Leute konnten alles hinterfragen“, sagt TÜV-Manager Schubert. Entscheidend für den Erfolg des Hacks war auch der Ort: das Gründerzentrum UnternehmerTUM in München. Schubert war wichtig, dass seine Kollegen den Alltag komplett hinter sich lassen: „Ich wollte nicht, dass sie zu Hause schlafen, mit ihren Kollegen zu Mittag essen oder sie am Kaffeeautomaten treffen.“
Das Team leitete her, welche Eigenschaften eine Firma mitbringen müsste, die der schlimmste Albtraum für TÜV Rheinland wäre: Sie muss finanzstark sein, Zugang zu fortgeschrittener KI-Technik haben, Daten vergangener Schadenfälle auswerten können und eine Möglichkeit besitzen, damit in die Märkte des TÜV Rheinland einzutreten. Es folgte der zweite Schock: Dieses „Albtraum-Unternehmen“ gibt es bereits – zumindest ist es nah dran. Der chinesische Online-Handelskonzern Alibaba Group ist im Gebrauchtwagengeschäft tätig, verfügt also über riesige Mengen an Fahrzeugdaten, er arbeitet an künstlicher Intelligenz zur Schadenbewertung und ist finanziell äußerst potent. Die Chinesen haben bisher bloß noch keinen Zugang zum Markt des TÜV Rheinland. „Dieses Beispiel war ein Augenöffner“, erinnert sich Schubert. „Und es hat bei vielen Kollegen den Schalter umgelegt.“
Von nun an starteten die Teilnehmer des Hacks durch, als wären sie von einer Blockade befreit: Sie entwickelten in Brainstormings neue, vollkommen andere Geschäftsideen, bei denen sich die Kompetenzen des TÜV Rheinland auch in der digitalen Mobilitätswelt rentabel anbringen lassen. Sie bewerteten bestehende Konzepte, priorisierten die Ergebnisse und sortierten aus. „Besonders hilfreich war das Porsche- Consulting-Modell der strategischen Kontrollpunkte“, sagt TÜV-Manager Schubert. „Damit konnten wir sehr schnell die erfolgversprechendsten Ideen herausfiltern.“
Das Resultat: fünf „Wachstumsinitiativen“
Am Ende hielten Schubert und seine Kollegen fünf „Wachstumsinitiativen“ in den Händen, die – würden sie erfolgreich umgesetzt – das wegbrechende Geschäft mit den Schaden- und Wertgutachten mehr als ausgleichen könnten.
„Jetzt gibt die Mannschaft richtig Gas“, sagt Schubert. Er will den Schwung aus dem Business Model Hack nutzen. Seine Leute arbeiten an einer App, mit der Endverbraucher Unfallschäden aufnehmen können. Ein anderes Team stimmt sich gerade mit einem Startup über eine Anwendung künstlicher Intelligenz ab. Und weitere Kollegen wollen gemeinsam mit einem Partner die Prozesse zwischen Werkstatt, Versicherung und Gutachter automatisieren.
„Wenn ich mir anschaue, mit welchem Enthusiasmus die Leute an diesen Dingen arbeiten, bin ich sehr zufrieden“, sagt Schubert. Aber er weiß auch, dass noch ein langer Weg vor TÜV Rheinland liegt. „Fragen Sie mich in einem Jahr noch mal“, sagt er. „Dann sehen wir, was daraus geworden ist.“