Nicht nur in westlichen Industrienationen werden Maschinen vernetzt, Daten gesammelt und Geschäftsmodelle überdacht. Auch China strengt sich an, bei den Zukunftstechnologien Schritt zu halten: „In der Industrie zeichnet sich ein Digitalisierungsboom ab. Stark steigende Löhne machen Investitionen in moderne Produktionsanlagen unausweichlich“, sagt Prof. Dr. Sebastian Heilmann. Er ist Gründungsdirektor des Mercator-Instituts für China-Studien in Berlin (MERICS) und hat den Lehrstuhl für Politik und Wirtschaft Chinas an der Universität Trier inne. „In der Breite“, sagt Heilmann, „wird es zwar lange dauern, bis die Industrie 4.0 in China Wirklichkeit wird, gleichzeitig aber experimentieren führende Technologiekonzerne bereits in diesem Feld und werden durch die Modernisierung ihrer Produktion auch international deutlich wettbewerbsfähiger.“

Noch klaffe allerdings zwischen dem „Reich der Mitte“ und den etablierten Wirtschaftsmächten eine große Lücke. Der Rückstand lasse sich beispielsweise Anfang 2016 an der Automobilindustrie ablesen: „In dieser Branche kommen in China bislang nur 305 Industrieroboter auf 10 000 Beschäftigte, in Deutschland sind es bereits 1149.“ Das Hauptproblem seien geringe Investitionen der Unternehmen in Forschung und Entwicklung: „Nur wenige Unternehmen verstehen Innovation als Geschäftsgrundlage. Das alte Modell der Nutzung billiger Arbeitskräfte zur Herstellung von Massenwaren ist noch immer verbreitet. Die Regierung versucht, dies durch umfassende Innovationsprogramme zu ändern. Aber Innovation lässt sich nicht einfach von oben verordnen.“

Heilmann: „Die Volksrepublik soll zur Industrie-Supermacht aufsteigen“

Gemeint ist das Programm „Made in China 2025“. „Damit setzt die Regierung in Peking die Digitalisierung der Industrie ganz oben auf die Agenda“, erklärt Heilmann. „Die Volksrepublik soll zur führenden Industrie-Supermacht aufsteigen – mindestens auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten, Deutschland, Japan und Südkorea. Die Marke ,Made in China‘ soll dann nicht mehr für billige Massenware, sondern für Innovation, Effizienz und Qualität stehen. China will damit ausländische Produkte durch inländische ersetzen und international expandieren. Das ist eine Kampfansage an die etablierten Industrienationen.“

Prof. Dr. Sebastian Heilmann, Gründungsdirektor Mercator-Institut, 2016, Porsche Consulting GmbH
Prof. Dr. Sebastian Heilmann, Gründungsdirektor des Mercator-Institut

Dabei gehe es für China um alles oder nichts. „Wenn es dem Land nicht gelingt, sein Wirtschaftsmodell rechtzeitig umzustellen und eine Abschwächung der Wirtschaftsleistung abzuwehren, wird der Aufschluss zu den Industrienationen deutlich erschwert. China droht dann in die Klemme zu geraten zwischen etablierten Industrieökonomien und aufstrebenden kostengünstigeren Industriestandorten in Asien, Afrika und Lateinamerika“, so Heilmann.

Der Wissenschaftler warnt vor zu viel Offenheit

Die größte Hürde sei der Fachkräftemangel: „Regierung und Unternehmen begreifen die Industrie 4.0 bislang nur als eine technologische Herausforderung. Sie haben aber kein Konzept, wie sie die Arbeitskräfte für die neuen Anforderungen der digitalen Industrie ausbilden wollen“, sagt Heilmann. Dennoch warnt der China-Wissenschaftler davor, von Chinas gegenwärtigem Technologierückstand auf einen auch künftig gesicherten Vorsprung des Westens zu schließen: „Wenn es gelingt, die Strategie ,Made in China 2025‘ umzusetzen, dann wird das Land im Spitzentechnologiebereich für Deutschland zu einem Konkurrenten auf Augenhöhe.“

Die Gefahr, die Heilmann sieht: „Neue Technologien und Technologieführer können binnen kürzester Zeit bestehende Märkte aus den Angeln heben und etablierte Platzhirsche verdrängen.“ Darum warnt der Wissenschaftler vor zu viel Offenheit: „Das deutsche Konzept für die Industrie 4.0 dient China als Referenzmodell, das durch Präzision, Qualität und Zuverlässigkeit überzeugt. Deutsche Fabrikausrüstungen, Unternehmenssoftware und Systemintegration sind sehr gefragt.“ Heilmann rät, die Kooperation in diesem Bereich auf ein operatives Minimum zu begrenzen: „Es kann doch nicht im Interesse deutscher Technologieführer sein, die Konkurrenzfähigkeit chinesischer Wettbewerber auf einem zentralen Zukunftsfeld gezielt zu fördern. Denn umgekehrt schließt China den chinesischen IT-Markt zunehmend für ausländische Wettbewerber.“

Prof. Chuanqi He blickt optimistisch auf die Entwicklung seines Landes

Und wie wird die Lage in China selbst wahrgenommen? Der angesehene chinesische Wissenschaftler Prof. Chuanqi He, Gründer und Direktor des China Center for Modernization Research in Peking, blickt optimistisch auf die Entwicklung seines Landes. „In manchen Bereichen können chinesische Unternehmen bereits Weltniveau bei der Qualität von Produkten und Prozessen erreichen. Beispielsweise in der Telekommunikation mit den Ausrüstern ZTE und Huawei oder in der Internetbranche mit hervorragenden Firmen wie der Handelsplattform Alibaba oder dem Medienunternehmen Tencent. In anderen Bereichen wie der Lebensmittelindustrie ist die Qualität dagegen immer noch relativ niedrig“, so He.

Prof. Chuanqi He, Gründer und Direktor des China Center for Modernization Research, 2016, Porsche Consulting GmbH
Prof. Chuanqi He, Gründungsdirektor China Center for Modernization Research

Seit 2001 veröffentlicht er gemeinsam mit einer Forschungsgruppe jedes Jahr einen aktuellen Bericht zum Fortschritt von Chinas Wirtschaft und Gesellschaft. He glaubt fest daran, dass die Strategie „Made in China 2025“ geeignet ist, Innovation und Unternehmertum zu fördern, sofern sie konsequent verfolgt wird: „Sie hat das Potenzial, die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben.“ Anzeichen für mehr Innovativität seien schon vorhanden: „China steht weltweit auf Platz eins, wenn es um die Anmeldung von Patenten geht, weit vor den USA und Deutschland. Diesen Vorsprung müssen wir noch stärker in tatsächliche unternehmerische Innovation umwandeln.“

Biologe He erwartet wegbereitende Innovationen

Doch das kann dauern. „Wir erwarten, dass noch etwa 20 Jahre vergehen, bis technische Erfindungen aus China das Niveau der Weltmarktführer erreichen. Bei modernen Technologien wird es wohl noch länger dauern“, sagt He. China befinde sich in der besonderen Lage, dass das Land einerseits noch nicht vollständig industrialisiert sei, gleichzeitig aber schon Themen der Post-Industrialisierung wie Nachhaltigkeit und Ausweitung der Informationstechnologien stemmen müsse.

Entscheidend sei der Fortschritt auf den drei Schlüsselfeldern Informations-, Nano- und Biotechnologie. Diese drei Bereiche gelte es miteinander zu verknüpfen, um echte Entwicklungssprünge zu erreichen und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Der Biologe He erwartet wegbereitende Innovationen zum Beispiel bei transgenen Nutzpflanzen, Krebszellen zerstörenden Nanorobotern oder Mensch-Maschinen, sogenannten Cyborgs. Da gesellschaftliche und politische Widerstände gegen derartige Innovationen in China viel geringer ausgeprägt sind als in anderen Ländern, bieten sich He zufolge für chinesische Unternehmen auf diesen Feldern besonders gute Chancen, globale Technologieführer zu werden.

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