„Feierabend!“, ruft Lars Kern, als sein Porsche 911 GT2 RS krachend an der Streckenbegrenzung der Nürburgring-Nordschleife zum Stehen kommt. „Normalerweise“, fügt er lachend hinzu. Dann blickt er kurz auf den Controller in seiner Hand, sucht den Rückwärtsgang und fliegt wenige Sekunden später schon wieder durch die „grüne Hölle“ – auf dem Bildschirm in einem Spiel der Xbox-Konsole.
Kern ist Test- und Entwicklungsfahrer bei Porsche, war viele Jahre Rennfahrer. 2017 erjagte er mit einem 911 GT2 RS den Rundenrekord für straßenzugelassene Sportwagen auf der Nordschleife – und schnappte ihn sich in sensationellen 6:47,3 Minuten. Kern kann seine Fähigkeiten dank des Lenkrads und des hohen Realismusgrads der Software sehr gut auf den Rennsimulator übertragen. Doch ohne Lenkrad ist auch für einen Routinier wie ihn alles anders. Ein kleiner Controller mit einem Dutzend Knöpfen, keine Pedale, kein Gefühl für das Auto – Kern muss zugeben, dass ihn das „ein wenig überfordert“.
Rallyeweltmeister auf der Xbox
In der Welt des Esports sind auch die Gegner andere. Zum Beispiel „aTTaX Johnson“ alias Niklas Krellenberg. Auf dem Bildschirm lenkt er den Porsche sicher um die virtuellen Kurven der legendären Rennstrecke in der Eifel. Der 27-Jährige war schon Rallyeweltmeister auf der Xbox. Der Controller ist für ihn, was das Lenkrad für Rennfahrer Kern ist: eine Verlängerung seiner Arme. Krellenberg kennt wie Kern jeden Bremspunkt auf zahllosen Rennstrecken, die Schwächen seiner Kontrahenten und Herausforderer. Er weiß, welches Auto in welcher Weise auf heftige Lenkbewegungen reagiert. Und wenn er Rennen fährt, schaltet er die Traktionskontrolle und das ABS ab. An der Xbox hat der eRacer Krellenberg dem Simracer Kern schon nach zwei Minuten einige Sekunden abgenommen. „Unglaublich“, staunt Kern. In einem wirklichen Auto, hinter einem echten Lenkrad, sitzt Krellenberg eher selten. Für den kurzen Weg zur Universität nutzt er den öffentlichen Nahverkehr. Benötigt er zu Hause in Magdeburg ein Auto, leiht er sich das seiner Eltern.
Krellenberg ist ein neuer Typ Sportler. Er stemmt weder Gewichte, noch händelt er irgendwelche Bälle auf dem Platz. Ein Fußballer hat es im Bein, der Rennfahrer angeblich im Hintern. Bei Esportlern wie Krellenberg sind es die Augen und Hände: Seine Finger vollführen bis zu 500 Aktionen in der Minute.
Olympia als Etappenziel
Mittlerweile füllen Esports-Turniere Hallen – aber ist das wirklich Sport? „Natürlich“, sagt Krellenberg, „ich habe ja mehr zu tun als zum Beispiel ein Sportschütze.“ Dieser Meinung sind inzwischen auch die ersten Sportverbände. 2022 wird Esports Teil der Asienspiele sein, und das Internationale Olympische Komitee erwägt, die Disziplin ins Programm der Olympischen Spiele 2024 in Paris aufzunehmen. Das ist wenig überraschend. 2016 wurden weltweit mehr als 100 Milliarden Dollar mit Computerspielen umgesetzt – mehr als in der Film- und der Musikindustrie zusammen. 2,2 Milliarden Menschen treten regelmäßig in virtuellen Spielen gegeneinander an. Die Besten können davon leben, sehr gut sogar. Sie sind in Profiteams organisiert, beziehen feste Gehälter, erhalten hohe Preisgelder. Bei den Turnieren von League of Legends, einem Rollenspiel im Teamformat, schießen die Summen sogar schon in die Millionen.
Controllerkünstler
Fußballvereine wie der deutsche Bundesligist VfL Wolfsburg haben begonnen, Esports-Teams in ihre Strukturen einzubinden. „Wir wollen mit unserem Engagement junge Menschen erreichen“, erklärt Geschäftsführer Tim Schumacher. Und natürlich gehe es auch darum, „neue Vermarktungsfelder zu erschließen“. Als weltweit erster Fußballklub hat der VfL deshalb Esportler unter Vertrag genommen.
Benedikt Saltzer, 25, und Timo Siep, 20, beide mehrfache Deutsche Meister, sind Teil des Wolfsburger Teams und mit Einjahresverträgen ausgestattet. „Alles entwickelt sich sehr schnell“, sagt Saltzer, der wie Siep von seiner Controllerkunst lebt. Eine Erfolgswelle hat die Branche erfasst. Weitere Profiklubs ziehen nach, eine virtuelle Fußballbundesliga scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein – „cool wäre das“, hofft Siep.
So weit ist die Eracing-Szene noch nicht. „Mein Studium kann ich aber gut damit finanzieren“, zeigt sich Krellenberg zufrieden. Er trainiert in Hochphasen bis zu acht Stunden am Tag und ist überzeugt, dass sich sein Fleiß irgendwann auszahlt. „Das Ganze kommt jetzt erst richtig ins Rollen, und dieser Prozess ist nicht aufzuhalten.“
Modellpräsentation auf Gaming-Messe
Auch im Motorsport entstehen professionelle Strukturen. Porsche lud im Sommer 2017 gemeinsam mit Microsoft die weltbesten, zuvor in einem Onlinewettbewerb ermittelten eRacer zum 24-Stunden-Rennen nach Le Mans ein. Dort fuhren sie auf der Xbox-Konsole einen eigenen Le-Mans-Sieger aus – in einer sechsten Wertung und mit Teilnahme an der regulären Siegerehrung. Eine Woche zuvor wurde der bislang stärkste 911, der GT2 RS, von Microsoft auf der Electronic Entertainment Expo in Los Angeles vorgestellt. Vor Gamern. Noch vor der offiziellen Modellpräsentation. Denn der GT2 RS ist das Hero Car des beliebten Xbox-Rennspiels Forza Motorsport 7. Passend zum Spiel gibt es einen mit Alcantaraleder veredelten Controller zu kaufen, in Anlehnung an das Lenkrad des realen 911.
„Der Spielebereich ist wichtig für uns, weil wir einer breiten und jungen Zielgruppe ein emotionales und interaktives Markenerlebnis ermöglichen können“, erklärt Sebastian Hornung, Leiter Branded Entertainment bei Porsche. „Das Interesse am Motorsport mit seinem Wettbewerb und dem Nervenkitzel auf der Rennstrecke zu wecken und zu verstärken, das funktioniert in der virtuellen Welt sehr gut.“ Allein im vergangenen Jahr bahnten Hornung und sein Team mehreren Porsche-Modellen den Weg in die unterschiedlichsten Games – mit beträchtlichem Aufwand. „Der gesamte Prozess vom Fotoshooting mit eventueller Laservermessung über die Bereitstellung technischer Daten bis zur Realisierung der digitalen Kopie im Spiel dauert rund ein halbes Jahr. Für jedes einzelne Modell.“ Resultat: das erstaunlich wirklichkeitsgetreue Erlebnis, virtuell einen Porsche zu steuern. „Das kommt dem echten Fahren schon recht nah“, bestätigt Testfahrer Kern, als er seinen GT2 RS in Forza Motorsport 7 über die Nordschleife steuert. „Es fühlt sich superrealistisch an.“
Esports wird immer relevanter
Die digitale Entwicklung mit den rasant steigenden Prozessorgeschwindigkeiten rückt den virtuellen Motorsport in das Blickfeld der traditionellen Motorsportszene. „Beide Gebiete gehen allmählich fließend ineinander über“, sagt Porsche-Motorsportchef Frank-Steffen Walliser. „Der Bereich Esports wird immer relevanter. Wir öffnen uns dieser Entwicklung und wollen sie mitgestalten.“ Zumal virtuelle Prozesse im Automobilbau gang und gäbe sind: Fahrzeugabstimmungen per Simulator sind Alltag und Computer als Entwicklungshelfer unverzichtbar.
Noch neu ist dagegen die Fahrerqualifizierung. Wie lassen sich Talente fördern? Auf diese Frage kann der Konsolensport eine Antwort geben, so Walliser, denn „viele eSportler bringen sehr gute Anlagen mit“. Auch ein virtueller Carrera Cup sei denkbar. Der große Vorteil: Die Eintrittsschwelle für ambitionierte Nachwuchsfahrer ist deutlich niedriger. „Ich wollte schon früh Rennfahrer werden“, erzählt Testfahrer Kern, „doch meine Mutter hielt Motorsport für zu teuer und zu riskant.“ So fand er den Weg über Simulationsrennen in die Szene. „Das war deutlich kostengünstiger – und ganz und gar gefahrlos.“
Trotz großer Fortschritte im virtuellen Rennsport sehen alle Beteiligten auch die Unterschiede zum physischen Fahren. „Das Geschwindigkeitsgefühl ist nicht dasselbe, nicht zu vergleichen mit dem Beschleunigen in einem realen Sportwagen“, betont Kern. Es sei eben schwierig, solche Dinge virtuell zu realisieren. Und dann spielen natürlich auch Haptik, Raumgefühl und Geruch eines Rennwagens eine entscheidende Rolle. „Deshalb wird es klassischen Motorsport weiterhin geben“, prophezeit der Rennfahrer. „In Zukunft eben Seite an Seite mit virtuellem Motorsport.“
Esports in Zahlen
25 Millionen US-Dollar betrug das Preisgeld bei dem Turnier „The International 2017“.
3,5 Millionen US-Dollar dürfte das bisherige Karrierepreisgeld von Kuro „KuroKy“ Salehi Takhasomi zählen. Der iranischstämmige Deutsche gilt als der bislang erfolgreichste eSportler. Mit seinem Team Liquid 2017 gewann der 25-Jährige das Dota-2-Turnier „The International“.
700 Millionen US-Dollar betrug im Jahr 2017 der ungefähre Umsatz der Esports-Branche – Medienrechte, Werbung, Sponsoren, Tickets, Merchandising, Lizenzbeträge. Das sind gut 40 Prozent mehr als 2016. Etwa die Hälfte davon wird in China und Nordamerika umgesetzt, auch wenn Südkorea als Wiege des Esports gilt. Die globale Zuschauerzahl wurde 2017 auf 385 Millionen beziffert.
130 Millionen US-Dollar wurden auf Turnieren des Computerspiels Dota 2 seit der Einführung 2013 an Preisgeld ausgeschüttet. Damit ist die sogenannte Multiplayer Online Battle Arena (MOBA) das lukrativste Game-Genre der noch jungen eSport-Geschichte.
33 Millionen Rechner verfolgten durchschnittlich die World Championship im September 2017 im Internet. Den mit Abstand größten Anteil machten chinesische Fans mit mehr als 32 Millionen Views aus.
100 Millionen Menschen weltweit spielen das Game League of Legends mindestens ein Mal im Monat. „LoL“, so die Kurzform, ist ein Kampfspiel im Teamformat.
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche-Kundenmagazin Christophorus, Nr. 385
Verbrauchsangaben
911 GT2 RS: Kraftstoffverbrauch kombiniert 11,8 l/100 km; CO2-Emission 269 g/km