„Alpha Position four, Timo, alpha four“, tönt es ruhig, aber bestimmt aus den Kopflautsprechern, die den Funkverkehr zwischen Renningenieur und Rennfahrer übertragen. „Alpha four copy, alpha four copy!“ Die Antwort kommt Sekundenbruchteile später – aus dem Cockpit des LMP1-Rennwagens, untermalt von sanftem Rauschen bei knapp 300 km/h. LMP1-Werks- und Entwicklungsfahrer Timo Bernhard bestätigt damit die Anweisung seines Renningenieurs Mathieu Galoche und dreht den Schalter A wie Alpha auf dem Lenkrad in die gewünschte Position. Insgesamt befinden sich 22 Drehschalter und Knöpfe auf der Prallplatte des Stummellenkrads.
Die spezielle Funksprache entschlüsselt LMP1-Teamchef und Einsatzleiter Andreas Seidl: „Es geht darum, möglichst viele Informationen in ganz knappe Worte zu fassen. Der Informationsfluss muss auch in hektischen Situationen funktionieren.“ Seidl hat sich dazu sogar mit einem Kampfpiloten der Luftwaffe zusammengesetzt. „Dieser hat den Funkverkehr geschildert, wie er auch bei einem Kampfeinsatz funktioniert, und wir haben daraus gelernt. Diese Art Funkdisziplin wird jetzt auch hier im LMP1-Team eingeführt.“
Oft geht im Funkverkehr etwas verloren
Der Grund dafür lässt sich leicht erklären: Oft geht im Funkverkehr etwas verloren, wird verschluckt. Gibt der Ingenieur dem Fahrer beispielsweise den Hinweis „no pit stop“ (kein Boxenstopp) und der Fahrer versteht nur das letzte Wort „pit stop“, kommt er fälschlicherweise an die Box. Im Rennen ein Desaster. Deshalb wird erstens gesagt, was der Fahrer tun soll, und nicht, was er unterlassen soll. „Stay out“, bleib draußen, beispielsweise anstatt „no pit stop“. Und zweitens muss der Fahrer immer bestätigen. Und zwar mit dem zweisilbigen Wort „copy“, was deutlich sicherer ist als ein knappes „yes“.
Ort des Geschehens ist die Via Vedano n° 5 in Monza, Italien. Inmitten eines großartigen Parkgeländes liegt das Autodromo Nazionale di Monza. Die Rennstrecke vor den Toren Mailands ist berüchtigt für ihren hohen Volllastanteil. Rund 70 Prozent der Streckenlänge von 5,793 Kilometern werden mit durchgedrücktem Gaspedal absolviert. „Hier entscheidet sich, ob ein Motor wirklich standfest ist“, erklärt Alexander Hitzinger, Technischer Direktor des LMP1-Teams. „Für den komplexen Hybridantrieb der neuen LMP1-Generation ist dieser Kurs eine große Herausforderung. Deshalb haben wir ihn relativ früh in unser Testprogramm integriert, um Schwachstellen herauszufiltern.“ Und der Leiter LMP1, Fritz Enzinger, ergänzt: „Für uns ist jeder Testkilometer enorm wichtig.“
Einen Kaltstart würde der Turbomotor mit Direkteinspritzung nicht verkraften
Seit 7.00 Uhr sind die rund 50 Teammitglieder an der Strecke, bereiten das Auto und die Boxeneinrichtung vor. Ein externer Durchlauferhitzer ist mit den Kühl- und Schmierkreisläufen des 919 Hybrid verbunden und bringt alle Flüssigkeiten auf Betriebstemperatur. Einen Kaltstart würde der Turbomotor mit Direkteinspritzung nicht verkraften. Noch fehlen nahezu alle Karosserieteile, das Chassis ruht ohne Räder auf massiven Stützen in der Mitte der Box.
7.30 Uhr: Die Vorbereitungen für den Start des Motors sind abgeschlossen, die verantwortlichen Ingenieure geben ihr Okay für den Motorstart. „Fire up“ wird dieser erste Start genannt, der „box run“ erfolgt unmittelbar darauf. „Dabei schalten wir das Getriebe rauf und runter und bringen den Motor weiter auf Temperatur. Ein Check aller Systeme im Auto rundet das Programm ab“, erläutert Andreas Seidl den Ablauf. Um 8.00 Uhr erfolgt ein letztes Briefing für die komplette Ingenieursmannschaft und die leitenden Mechaniker. Jetzt sind auch die Fahrer eingebunden. Noch einmal wird das Tagesprogramm durchgesprochen. 8.45 Uhr, letzter Funkcheck. Um 8.50 Uhr steigt der Fahrer in das von außen winzig erscheinende Cockpit. Es ist weniger mit einem Autocockpit als mit einer Flugzeugkanzel vergleichbar. Renningenieur Galoche fragt knapp über Funk: „Engine ready? Systems ready?“ Die angesprochenen Ingenieure für Motor und Hybridsystem bestätigen. Pünktlich um 9.00 Uhr rollt der Wagen aus der Box. Jeder Handgriff und jede Bewegung der ganzen Mannschaft gehorchen einem festen Schema. Das Testprogramm startet.
Bevor dieser Moment auch nur greifbar wird, läuft eine gewaltige Maschinerie. Mit bis zu einem Jahr Vorlauf erfolgt die Rennstreckenbuchung. Zwei eigene Renntrucks plus zwei angemietete 30-Tonnen-Sattelzüge bringen den LMP1-Renner und Material an die Strecke. Zusätzlich schickt Reifenpartner Michelin zwei Lastzüge. Und bereits zwei Tage vor dem ersten Testlauf beginnen die Vorbereitungen vor Ort. Zehn solcher Testläufe über drei bis vier Tage auf internationalen Kursen absolvierte das LMP1-Team allein 2013.
Timo Bernhard tastet sich in Monza immer weiter ans Limit des Prototyps vor. Besonders die hohen Randsteine, die Curbs, in den engen Schikanen stellen den 919 Hybrid vor eine Herausforderung. „Im Rennen ist der Curb Bestandteil der Ideallinie“, sagt Bernhard, „selbst in einem Langstreckenrennen. Laut Reglement ist das Befahren mit einer Fahrzeugseite gestattet, also tun wir es auch.“ Der Wagen wird dabei fast ausgehebelt, fährt ein Augenzwinkern lang nur noch auf zwei Rädern. Bernhard: „Wir kommen im Rennen oft in die Situation, dass wir einem langsameren Fahrzeug plötzlich ausweichen müssen. Dabei führt der einzig mögliche Weg auch mal über die Randsteine.“ Auf der Rennstrecke in Le Mans fliegt der Wagen in der letzten Schikane vor der Start- und Zielgeraden förmlich über die hohen Randsteine – Runde für Runde, 24 Stunden lang. Dieser Belastung muss der Porsche LMP1 standhalten.
Monza ist einer der magischsten Plätze auf der Welt
In Monza sind es dagegen Schikane Nummer eins, Rettifilo, und die Variante della Roggia, Schikane Nummer zwei, die Timo Bernhard kräftig durchschütteln. Für Bernhard, seit 2002 Porsche-Werksfahrer, ist eine Fahrt in Monza immer etwas Besonderes. „Monza ist einer der magischen Plätze auf der Welt. Man sieht auch noch die alten Steilkurven, die bis 1961 sogar bei Formel-1-Rennen genutzt wurden. Unglaublich! Wenn man versucht, sie hochzulaufen, kann man sich kaum auf den Beinen halten.“ Bernhard ist in Monza 1999 sein erstes Rennen gefahren, einen Lauf zur Formel-Ford-Europameisterschaft.
14 Jahre später testet er hier für das vielleicht anspruchsvollste Motorsportprojekt in der Porsche-Historie. Bei der Entwicklung des hochkomplexen Hybrid-Rennwagens mussten die Porsche-Ingenieure auf einem weißen Blatt Papier beginnen. Vorlagen gab es nicht. Positiver Effekt:
Sie mussten im Rahmen des technischen Reglements viele neuen Technologien anwenden, die in Zukunft auch für den Bau der Porsche-Serienwagen relevant sind. Die Einbindung von Hybridkomponenten und zukunftsweisenden Energierückgewinnungssystemen in einen Rennwagen für den Langstreckensport stellen die Ingenieure vor außergewöhnliche Aufgaben.
Ein Testtag ist fast anstrengender als ein Renntag
Auch für den LMP1-Werksfahrer Timo Bernhard birgt die Entwicklung des 919 Hybrid bis hin zum ersten Renneinsatz besondere Herausforderungen: „Ein Testtag ist fast anstrengender als ein Renntag, weil du viel länger im Auto sitzt. Vor allem mental, denn dein Renningenieur erwartet ein detailgenaues Feedback. Das ist in diesem Stadium der Entwicklung sehr wichtig. Mir macht das unheimlich viel Spaß, weil du als Fahrer in alle möglichen Richtungen gefordert wirst.“
17.30 Uhr in Monza. Renningenieur Galoche funkt den Fahrer des 919 Hybrid an: „Box Timo, box now!“ Timo gibt ein kurzes „copy!“ zurück. Der flache Rennwagen im Tarnanzug fährt ein letztes Mal für diesen Tag vor die Box und wird Sekunden später schon in die hell erleuchtete Garage gerollt. Auf der Rennstrecke im Parco di Monza herrscht ab sofort Stille, der Testtag ist beendet. Die Lichter in der Box werden aber sicher erst in ein paar Stunden ausgehen. Der letzte Funkspruch gibt allen im direkten Fahrzeugumfeld den Hinweis, dass der Wagen stromfrei ist, die Hochvolt-Hybridsysteme abgeschaltet sind: „Car is safe!“
Info
Text erstmals erschienen im Porsche-Kundenmagazin Christophorus, Nr. 365