Die junge Mannschaft ist Titelverteidiger in Le Mans und in der FIA Langstrecken-Weltmeisterschaft WEC. Außerdem ist Porsche mit 17 Gesamtsiegen Rekordhalter auf dem Circuit de la Sarthe und führt in der Hersteller- sowie der Fahrerwertung der Weltmeisterschaft 2016.

Der Druck vor dem Start der ist immens. Um ihn zu meistern, benötigen die Rennstrategen im Porsche Team maximale Kontrolle – nicht nur über die beiden hochkomplexen Prototypen von Timo Bernhard (DE), Brendon Hartley (NZ) und Mark Webber (AU) mit der Startnummer 1 und dem Schwesterauto mit der Nummer 2 von Romain Dumas (FR), Neel Jani (CH) und Marc Lieb (DE). Dabei müssen viele weitere Faktoren einkalkuliert werden.

Die Protagonisten in Le Mans 2016

Teamchef Andreas Seidl ist Bayer von Geburt und Stratege aus Berufung. Zusammen mit den Renningenieuren – Chief Race Engineer Stephen Mitas (AU), Strategieingenieur Pascal Zurlinden (FR) und den Fahrzeug-Renningenieuren Kyle Wilson-Clarke (GB, Startnummer 1) und Jeromy Moore (AU, Startnummer 2) – plant Seidl vor dem Rennen wie ein Schachspieler das optimale Vorgehen in zahllosen Wenn-dann-Szenarien. Nach der Eröffnung wird die Partie allerdings reaktiv. Beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans kommt es auf die situativ richtige Entscheidung an.

Faktor 1: Der Tankstopp in Le Mans

Der erste limitierende Parameter für die Rennplanung ist die Reichweite zwischen den Tankstopps. Weil in der Langstrecken-Weltmeisterschaft WEC die maximalen Verbrauchswerte für den Kraftstoff und die elektrische Energie pro Runde vorgeschrieben sind, ist bekannt, wann spätestens getankt werden muss. Das wissen die Strategen auch für die Fahrzeuge der Konkurrenz. Auf dem 13,629 Kilometer langen Kurs in Le Mans kommt der Porsche 919 Hybrid mit einer Tankfüllung von 62,5 Litern maximal 14,1 Runden weit.

Nun wird es bei dem 24-Stunden-Rennen im französischen Le Mans nicht so sein, dass die zurückgelegte Distanz am Ende durch genau diese 14 Runden teilbar ist. Ziel ist aber, dass das Auto quasi mit dem letzten Tropfen ins Ziel fährt. Denn je weniger Sprit im Tank ist, desto leichter und damit schneller ist es. Es ergibt sich also immer irgendwann ein Tankstopp, bei dem weniger als die volle Ladung fließt. Wann dieser am geschicktesten stattfindet, will gut überlegt sein.

Wenn ein Rennen ohne Zwischenfälle verläuft, hebt man sich diesen kurzen Tankstopp bis zum Schluss auf. Bei Wetterumschwüngen oder Neutralisationsphasen kann es aber zeitsparend sein, ihn vorzuziehen und etwa beim Wechsel auf Regenreifen zu erledigen. Die Entscheidung fällt binnen Sekunden. Dabei hilft ein Simulationsprogramm, das Strategieingenieur Zurlinden permanent mit Informationen füttert. Es sind Daten der eigenen Autos, der Konkurrenzbeobachtung und des Meteorologen an seiner Seite.

Faktor 2: Der Reifenwechsel in Le Mans

Der zweite Grundparameter für die Rennstrategie ist die Leistungskurve der Reifen, dabei kommt auch die Expertise der Michelin-Ingenieure ins Spiel. Je verschlissener der Reifen, desto schlechter die Rundenzeit. Diese Verschlechterung muss ins Verhältnis gesetzt werden zum Zeitverlust durch einen Reifenwechsel an der Box. Der Reifenabbau geschieht nicht immer linear. Manchmal durchlebt der Gummi nach wenigen Runden ein Tief, erholt sich aber wieder.

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Der Porsche 919 Hybrid wird mit jeder Runde leichter

Parallel wird das Auto mit jeder Runde leichter – auch das kann lebensverlängernd für den Pneu wirken. Andreas Seidl nennt Zahlen: „2015 in Le Mans war unsere längste Distanz mit einem Satz Reifen pro Auto 54 Runden. Das heißt: Wir haben drei Mal nachgetankt, ohne die Reifen zu wechseln. Von ihrer besten bis zur schlechtesten Performance haben die Reifen – kraftstoffbereinigt – rund 1,6 Sekunden pro Runde verloren. Der Gewichtsunterschied von 44 Kilo zwischen vollem und leeren Tank macht etwa zwei Sekunden pro Runde aus.“

Das Tempo auf dem Circuit de la Sarthe und die Dauer der Standzeiten sind entscheidend, um in 24 Stunden am weitesten von allen zu fahren. 30 Mal pro Auto tankte das Team 2015 beim Siegeszug in Le Mans. Inklusive An- und Abfahrt dauerte der schnellste Tankstopp 51,3 Sekunden und der kürzeste Boxenstopp inklusive Fahrer- und Reifenwechsel 1:13,9 Minuten. Die Fahrer müssen stets so lange durchhalten wie die Reifen es zulassen. Ein Stopp eigens zur Fahrerablösung wäre ein Zeitverlust. In Le Mans stellt sich auch 2016 wieder die alles entscheidende Frage: Wie lang hält ein Fahrer durch, ohne langsamer zu werden?

Faktor 3: Der Rennfahrer in Le Mans

„Alle unsere Fahrer sind topfitte Vollprofis und können einen Vierfach-Stint von 54 Runden in der Nacht leisten“, unterstreicht Seidl. „Aber wir müssen auch die Fahrzeiten im Blick behalten.“ Das Reglement schreibt eine minimale und eine maximale Fahrzeit pro Fahrer vor. In Le Mans muss jeder Pilot mindestens sechs Stunden ans Steuer, darf aber nicht mehr als vier Stunden innerhalb von sechs Stunden fahren und über die Gesamtdistanz höchstens 14 Stunden. Normalerweise ist das kein Problem. Was aber, wenn ein Fahrer sich den Magen verdirbt? Wenn-dann-Szenarien, die rennentscheidend sein können.

Seidl: „Wir versuchen, den Fahrern optimale Ruhezeiten zu geben und uns trotzdem bis zum Schluss möglichst viel Flexibilität zu erhalten.“ Teamchef, Renningenieure und Fahrer besprechen, wer zu welchem Zeitpunkt während des Sport-Ereignisses in Le Mans am Steuer sitzt. Da ist die oft kampfbetonte Startphase, in der man einen kühlen Kopf bewahren muss. Es gibt lange Einsätze in der Nacht, und es gibt die ehrenvolle Aufgabe, ins Ziel zu fahren. Seidl: „Wir versuchen, jeden optimal einzusetzen und fair zu sein, denn auch die Stimmung im Team hat Einfluss auf die Performance.“ 

Faktor 4: Der Schadensfall in Le Mans

Welche Geschichte auch immer das Rennen erzählt, verwirft, wendet oder wieder aufgreift: Die Simulationssoftware hilft bei der Deutung. Das Team kann zu jeder Zeit ablesen, wie es bei normalem weiteren Rennverlauf abschneiden wird und erhält per Computer auch wertvolle Tipps zum Umgang mit außerplanmäßigen Ereignissen. Zum Beispiel, ob es sinnvoll ist, einen Boxenstopp vorzuziehen, wenn das Safety Car ausrückt.

Auch die strategischen Folgen eines möglichen Reparaturstopps auf der Rennstrecke in Le Mans berechnet das Programm. Wenn ein Auto Feindkontakt hatte, werden per Telemetrie sofort die Reifendrücke und Aerodynamik-Daten überprüft, der Fahrer gibt Feedback per Funk. Aber den Schaden anschauen, das kann weder er noch können es die Renningenieure an der Boxenmauer, wenn das Auto mit über 200 km/h vorbeirauscht. Dies geschieht auf Monitoren im sogenannten „Battle Room“, wo auch Zurlinden sitzt. Manchmal bringt erst eine Wiederholung in Zeitlupe Aufschluss, ob das Auto zur Box muss.

Faktor 5: Die Boxenmannschaft in Le Mans

Für kurzfristig fällige Stopps ist die Boxencrew immer in Bereitschaft. Und sie ist schnell: 2015 betrug die Gesamtzeit, welche die damals drei Porsche 919 Hybrid während der 24 Stunden von Le Mans inklusive An- und Abfahrt in der Boxengasse verbracht haben, 95 Minuten und 36 Sekunden. Der Vergleichswert des zweitbesten Teams mit drei Autos addierte sich auf gut 130 Minuten.

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Die Boxencrew ist immer in Bereitschaft

Crew Chief Amiel Lindesay (NZ) macht „etwas Übung“ für diese Leistung verantwortlich. Das ist eine maßlose Untertreibung. Allein die Choreographie für die Stopps ist eine Wissenschaft. Denn anders als in der Formel 1 dürfen in der WEC nicht beliebig viele Mechaniker am Auto arbeiten, und weniger ist schwer. Für 2016 wurden die Regularien noch einmal nachgeschärft. Auf elf Seiten sind Details ausgeführt. Etwa, dass nur zwei Mann tanken dürfen, dass das Auto dabei auf den Rädern stehen muss, dass erst nach dem Tanken Räder gewechselt werden dürfen, dass dafür nie mehr als vier Mechaniker und ein Schlagschrauber gleichzeitig am Auto sein dürfen und vieles mehr – Strafenkatalog inklusive.

Lindesay tüftelt aus, wann welcher Schritt und welcher Handgriff zu tun ist und überlegt, wie er die einzelnen Positionen besetzt. Dann folgt das Trockentraining in der Werkstatt. Über 250 Stopps kommen allein dort pro Saison zusammen. Plus die vielen Trainingseinheiten bei Testfahrten und an den Rennwochenenden selbst. Eine Felge mit Reifen wiegt 19,9 Kilogramm. Die Mechaniker müssen stark, flink und belastbar sein. Auch für sie gilt: Der Druck in Le Mans ist immens.

Benzinverbrauch, Reifenverschleiß, Wartungsfreundlichkeit und Service an der Box: Vieles lässt sich errechnen, einiges kann man im Test erproben und manches trainieren. Niemals jedoch werden die Strategen alles in Wenn-dann-Szenarien erfassen, was in den 24 Stunden von Le Mans, dem wichtigsten Rennen in der FIA Langstrecken-Weltmeisterschaft WEC 2016, passieren kann. Oder wie Porsche-Werksfahrer Mark Webber es formuliert: „Le Mans ist brutal. Ehe man sich Gedanken um die Gegner macht, muss man erst einmal das Rennen selbst bezwingen.“