Raumfahrer trifft Rennfahrer

Der Astronaut Matthias Maurer und Porsche-Pilot Timo Bernhard kennen das Gefühl der Geschwindigkeit. Im Interview sprechen sie über Hightech und das Gefühl, ganz bei sich zu sein.

Timo Bernhard ist Situationen gewohnt, von denen andere träumen. Kinder im Autoquartett-Alter sowieso, aber viele auch später noch, als Erwachsene. Einmal nur über diese Départements-Straße, Ordnungsnummer 338, im französischen Westen. Einmal über die ligne droite des Hunaudières, am besten nachts, am besten in einem Rennwagen, die Tachonadel jenseits der 330. Für Bernhard, 36 Jahre alt, ist das Teil seines Jobs, er hat zweimal die 24 Stunden von Le Mans gewonnen, eines der drei berühmtesten Autorennen der Welt, und weit härter als die anderen beiden, die 500 Meilen von Indianapolis und der Große Preis von Monaco.

Bernhard steht, ein paar Wochen nach seinem zweiten Le-Mans-Sieg, vor seinem Rennwagen, einem Porsche 919, vier Zylinder, Hybridantrieb, rund 900 PS. Ein Auto, so komplex, dass in dessen Entwicklung und Betrieb so viel Geld geflossen ist, dass man mit dem Aufwand auch eine ganze Formel-1-Saison bestreiten könnte. Bernhard will das Cockpit erklären, das Lenkrad, den Blick aus der Kanzel auf die Welt, die Rennstrecke da draußen, in der er in 2,2 Sekunden von null auf 100 beschleunigt, in gut vier auf 200. Aber dem Mann, dem er das erklären will, fällt es sehr leicht, den Rennfahrer zu beeindrucken. „Wir sind in neun Minuten auf 28.000 km/h“, sagt Matthias Maurer.

Matthias Maurer, 47 Jahre alt, wie Bernhard im Saarland geboren, ist Astronaut, der nächste Deutsche, der ins All fliegen wird. Im Februar ist er als neues Mitglied des Astronautenkorps der Esa vorgestellt worden. Aus der kasachischen Steppe den Sternen entgegen, mit Tempo 28 000, angeschnallt in einer Rakete, die mit 200 Tonnen hochexplosivem Treibstoff gefüllt ist, bis sie am Außenposten der Menschheit im All andockt, an der International Space Station ISS – irgendwann wird es so weit sein. Wann? Maurer weiß es noch nicht: „Es steht nicht fest, dass der Flug 2020 ist oder 2021 oder 2022, aber einer der verfügbaren wird für mich sein.“

 

Was werden Sie empfinden, wenn die Kapsel weggesprengt wird und sie das Weltall sehen?

Maurer: Ein paar Sachen versucht man sich auszumalen. Klar. In so einer Rakete zu sitzen, die Beschleunigung zu spüren, wie alles losgeht, aus dem Fenster zu blicken, die Erde da unten zu sehen, ganz klein ... und dann natürlich zu wissen: Jetzt bin ich im Weltraum. Ich bereite mich jahrelang darauf vor. Ein richtiger Astronaut ist man nach meiner Definition erst, wenn man im Weltraum war. Ein Rennfahrer, der zehn Jahre lang übt im Simulator, aber nie auf der Rennstrecke war, das ist ja kein ...

Maurer spricht den Satz nicht zu Ende, aber er erinnert an die berühmte Aussage des Rennfahrers Michael Delaney: „Rennfahren ist Leben. Alles, was vorher oder hinterher passiert, ist warten.“ Delaney ist der von Steve McQueen gespielte Porsche-Pilot in der Le-Mans-Verfilmung von 1970. Ein Hollywood-Satz, der mit Bernhards Realität wenig zu tun hat. Warten aufs Rennen, ja, sicher. Aber das beginnt lange, bevor die Startampel erlischt.

Bernhard: Ein Rennwochenende ist immer gleich aufgebaut. Anreisetag, Day Zero, Tag null, Pressearbeit, Cockpittraining. Im Auto sitzen, die ganzen Knöpfe, Prozeduren durchgehen. Der Renningenieur sitzt nebendran und fragt die Schalterstellungen durch.

Maurer: Ist das unterschiedlich von Rennen zu Rennen?

Bernhard: Eigentlich ist es gleich. Es geht um die Erinnerung.

Maurer: Muscle memory.

Bernhard: Genau. Am Lenkrad haben wir insgesamt 26 Schalter und Drehknöpfe, nebendran ist das Dashboard für Sachen aus der zweiten Kategorie, die nicht direkt beim Fahren verwendet werden. Das sind 15, 20 verschiedene Schalter. Auch Boxenstopptraining für die Jungs und für uns, Fahrerwechseltraining. Das wird immer am Tag null gemacht. An Tag eins geht dann das Fahren los.

Maurer: Wir üben beim Andocken an die ISS zum Beispiel, was passiert, wenn einer der Motoren ausfällt. Dann muss ich mein System anders konfigurieren, um trotzdem noch andocken zu können.

Bernhard: Wir haben auch ein Prozedere, in dem wir üben, was zu tun ist, wenn etwas kaputtgeht. Wir nennen das „Misuse Test“. Das machen wir im Fahrzeug vor der Saison auf dem Testgelände von Porsche. Da wird Material mit hohen Laufzeiten hergenommen und trainiert: Was kann ich tun, wenn die Kupplung nicht mehr trennt? Ich komme zur Box, ziehe die Wippe für die Kupplung am Lenkrad, aber sie trennt nicht. Das Auto steht, der Motor stirbt ab. Wie fahre ich jetzt wieder los? Diese Abläufe müssen in Fleisch und Blut übergehen. Solche Vorbereitung und Routine hat uns schon Rennen, Siege und gute Ergebnisse gerettet.

Im Juni in Le Mans steuert Bernhards Teamkollege Earl Bamber nach dreieinhalb Stunden die Box an. Der Porsche hat einen Antriebsdefekt. 65 Minuten steht das Auto in der Garage.

Bernhard: Wir haben mit zwei Minuten Vorsprung gewonnen. Hätten die Jungs drei Minuten länger gebraucht, was im Verhältnis zu den 24 Stunden nicht viel ist, hätten wir vielleicht nicht gewonnen. Toyota hat ein ähnliches Problem gehabt, die E-Maschine gewechselt und 54 Minuten länger gebraucht. Auf diese Sachen legt unser Team extrem viel Wert. Im Motorsport guckt man schnell auf Performance. Wer ist der Schnellste? Klar. Das ist das Kerngeschäft. Aber drum herum sind so viele Dinge, auf die man achten kann, die Einfluss auf die Gesamtleistung haben.

Maurer: Wir können ja, wenn es schiefgeht, nicht an den Straßenrand rollen und sagen: In ein paar Stunden haben die Mechaniker das repariert. Wir haben den einen Versuch, und der muss klappen. Wir simulieren im Sojus-Simulator, wie der Flug funktioniert. Die verschiedenen Phasen, der Ablauf, was die Instrumente anzeigen. Und natürlich alles, was nicht nominell läuft. Die Extremsituationen. Timo kann beim Lenken schlecht einen Prozedurenblock rausziehen, sondern er muss wissen, was zu tun ist, und umsetzen, was die Leute ihm sagen. Ich kann immer noch einen Block rausziehen mit Prozeduren und den abarbeiten.

In drei Situationen besteht an Bord der ISS Lebensgefahr für die sechs Astronauten: Feuer. Ein Loch in der Außenwand, Druckabfall. Und bei einem Defekt an dem von den Amerikanern entwickelten Kühlsystem mit hochgiftigem Ammoniak.

Maurer: Es gibt Sensoren, die das messen. Wenn der Alarm losgeht, heißt es für jeden: schnell rüber zum russischen Teil und die Tür zumachen. Wenn die Kollegen es nicht schaffen, rüberzukommen, dann geht keiner zurück und holt die. Wenigstens nicht ohne Maske.

Der russische Teil der ISS wird mit Glykol gekühlt. Das ist weniger effizient, aber dafür ungefährlich. Drei Prioritäten haben die Astronauten der ISS, sagt Maurer. An erster Stelle steht die eigene Sicherheit, an zweiter Stelle die der Station.

Maurer: Das dritte ist: die Mission. Wir haben für jeden Raumflug ein wissenschaftliches Programm. Wir wollen zum Beispiel 200 Experimente durchführen. Die versuchen wir auch durchzuführen, aber wenn wir nur 190 schaffen, aber dafür nicht die Station beschädigen oder Lebensgefahr aufbauen für die Astronauten, dann ist das okay. Das ist unsere Abstufung.

Die Astronauten bereiten sich jahrelang auf ihre Missionen vor, psychisch und körperlich. 48 Stunden Überlebenstraining im schwedischen Winter, Teambuilding in sardischen Höhlen. Unterschiedliche Charaktere müssen einen gemeinsamen Weg finden. Wissenschaftler wie der Werkstoffingenieur Maurer, zum Beispiel, und Kampfpiloten, die den nächsten Karriereschritt machen.

Maurer: Ich wurde fünf Tage in eine Höhle geschickt, mit einem internationalen Team. Da waren ein Italiener, zwei Russen und ein Amerikaner dabei. Wir waren fünf Tage in einem Höhlensystem, circa zwanzig Kilometer lang. Da sind die Räume zum Teil so eng, dass man überlegen muss: zuerst mit dem linken Arm durch oder dem rechten Bein? Da kann man dan die Lage nicht mehr ändern für 50, 80 Meter, da muss man durchrobben. Dann kommt man in enorm große Räume, muss sich abseilen, zwanzig Meter senkrecht in die Tiefe. Bergsteigen unter Tage.

Auch in der Dunkelheit der Höhle müssen die Probanden ihre Mission bewältigen, zum körperlichen Stress kommt die geistige Herausforderung.

Maurer: Wir werden unter Druck gesetzt, sind in einer gefährlichen Situation. Wenn ich das Protokoll nicht einhalte, kann ich abstürzen und sterben. Da sind Leute dabei, die gucken drauf – es ist ja ein Training. Im Team hat jeder eine Rolle: Einer ist der Teamleader, einer der Fotograf, einer der Wissenschaftler A, einer der Wissenschaftler B, einer der Kartograph. Aber jeder kann seine Arbeit nur machen, wenn ihm die anderen dabei helfen. Man wird in Extremsituationen geworfen, bis ans Limit gebracht, bewusst, und dann wird beobachtet: Wann fällt das Team auseinander? Am erfolgreichsten ist man, wenn man sich gezielt hilft, aber die eigenen Aufgaben im Blick behält.

Auf die Ausnahmesituation folgt die Auswertung, der Einblick in die eigene Psyche.

Maurer: Da kommt kein Brief, in dem steht: Matthias ist eine Null, der taugt nichts. Da kommen die Psychologen zu mir und sagen: Hier und da musst du mehr arbeiten, weil deine Kollegen den Eindruck haben, du hättest da was anders machen sollen. Dann wäre das ganz anders gelaufen. Ich habe gemerkt, dass ich in diesem Training Zugang hatte zu Kollegen, die mir vorher verschlossen waren. Es gibt ja Alphatiere. Die Kampfpiloten sagen: Ich bin der Teamchef, da geht es lang. Da sage ich: Moment, ich bin der Wissenschaftler, wenn wir diskutieren, finden wir vielleicht eine andere Lösung. Erst mal zwei Minuten Pause und durchdenken, wo wir stehen.

Auf der Rennstrecke bekommt Bernhard sein Feedback sofort und regelmäßig. Er wird stetig überwacht von den Ingenieuren an der Box.

Bernhard: Unter dem Renningenieur gibt es einen Performanceingenieur, der guckt die Livedaten unter einem anderen Aspekt an. Der guckt nicht nur, ob die Motortemperatur zu warm ist. Sondern der guckt auf Fahrlinien, auf Sektorenzeiten, der guckt, wo ich Zeit verliere. Dann funkt der Renningenieur: „Olli (der Performanceingenieur) said: ,Stay a little more inside in turn two – bleib’ in Kurve zwei mehr innen, fahr’ früher an, you’re too late.‘“ Das kommt auch noch. Dann musst du die Information umsetzen. Als über Jahre geschulter Fahrer habe ich das Gefühl, ein Computer zu sein, der die Daten sammelt und im Unterbewusstsein speichert, und wenn ich in die Box komme und nach Feedback gefragt werde, kommt das auf Knopfdruck sortiert raus. Wenn das Auto im freien Training in die Box kommt, habe ich vielleicht zwanzig Sekunden, in denen ich das Feedback geben kann. Und das muss dann entsprechend geordnet sein.

Der beste Rennfahrer, sagt Bernhard, sei, wer die größte Kapazität habe für Kommandos von außen, für Störeinflüsse auf das reine Fahren.

Bernhard: Es gibt Momente - gerade nachts in Le Mans – in denen man das Gefühl hat, komplett bei sich zu sein. Tunnelblick. Und alles ist automatisiert. Die Reflexe übernehmen, fahren das Auto. Ich habe schon oft Momente gehabt, ein Stein auf der Straße, oder vor mir dreht sich einer, und ich reagiere, fange das Auto ab, wie auch immer, und erst Sekunden später denke ich drüber nach, was da hätte passieren können. Und dann geht der Puls erst hoch. Man fährt nicht mit dem Kopf, es geht viel, viel schneller. Am schnellsten ist ein Fahrer, wenn er sozusagen den Kopf ausschaltet.

Maurer sagt, er empfinde jeden Tag „Vorfreude und Vorfreude und Vorfreude“ auf den Flug ins All, auf „diesen Moment: ich habe es geschafft. Das war jetzt das, wofür ich so lange so hart gearbeitet habe“. Er, der Wissenschaftler, wird die Erde verlassen, weg sein. Im All.

Maurer: Das wird auch ein befremdliches Gefühl sein. Alle Astronauten, die hochfliegen, kommen verändert zurück. Man fliegt in neunzig Minuten einmal um die Erde. Du kennst das als Saarländer. Wenn du dort aufwächst, ist das Saarland der Kosmos. Irgendwann wird man erwachsener und erkennt ...

Bernhard: ... die Pfalz gibt es auch noch.

Maurer: Ja, genau. Und Deutschland. Dann siehst du dich irgendwann als Europäer. Irgendwann arbeitet man ganz international, mit Amerikanern und Russen. Und erkennt, die Erde ist doch begrenzt. Als Astronaut siehst du das in neunzig Minuten. Du hast 16 Mal Sonnenaufgang und Sonnenuntergang am Tag. Das ist nur eine Kugel, und wir sitzen alle auf dieser einen Kugel, alle im gleichen Rennwagen. Warum machen wir uns das Leben so schwer? Warum machen wir unseren Rennwagen kaputt? Unseren Planeten? Das sind die Fragen, die kommen in jedem Astronauten hoch. Der Weitblick, alles in Frage zu stellen. Alle kommen ein Stück verändert zurück. Viel offener, denke ich.

Weitere Artikel