Ein letzter Blick auf das Wasser, ein letztes Mal barfuß auf dem Holzsteg, die Reise ist fast zu Ende. Auf den Moment, der Alexandra Carlin gleich zu Tränen rühren wird, hat sie so lange gewartet. Eben noch packte sie ihren Koffer, mit Kleidung aus Frankreich und Eindrücken aus Südafrika. Bereit, in ihre Geburtsstadt Paris zurückzufliegen. Und plötzlich traut sie ihrer Nase kaum, ein süßlich-klebriger Duft liegt in der Luft, weich und belebend zugleich. Sie zwängt sich zwischen Hauswand und Gartenzaun durch wilde Sträucher, die zarten Hände schützend vor dem Gesicht. Wilde Bienen haben ihn schon lange vor ihr gefunden: den Honigbusch. Ein Strauch, der nur in Südafrika wächst und dessen gelbe Blüten für die Herstellung von Tee verwendet werden. Die Französin ist sprachlos. Tagelang hatte sie auf der Garden Route nach diesem seltenen Gewächs gesucht. Dabei war es so nah – im Garten des Ferienhauses, das sie bewohnt hat.
Das Handwerk: Eine Geschichte schreiben – und zwar ohne Worte
Seit neun Jahren arbeitet Alexandra Carlin bei Symrise, einem der weltweit führenden Unternehmen für Duft- und Geschmacksstoffe. Im Jahr 2011 erhielt sie ihr Zertifikat zur Parfümeurin, seitdem kreiert sie Düfte für den weltweiten Markt. Einige auf Kundenanfrage, andere aus freien Stücken, alle gerne: „Manche Kunden möchten zu viele Düfte in ihrem Parfüm haben, das macht die Komposition unruhig. Dann muss ich herausfinden, welchen Duft ich subtrahieren kann“, sagt Carlin, die mit bis zu zweihundert Düften gleichzeitig hantiert. Gelernt hat sie das Handwerk an den Parfümschulen ISIPCA in Versailles und an der unternehmenseigenen am deutschen Standort Holzminden. Außerdem vertiefte sie ihr Wissen bei einem Parfümeur im südfranzösischen Grasse, der Welthauptstadt des Parfüms, wo auch schon Jean-Baptiste Grenouille in Patrick Süskinds Das Parfum seinen Geruchssinn trainiert hat. Eigentlich wollte sie Schriftstellerin werden, Menschen mit Worten berühren, doch dann das: „Als ich 18 Jahre alt war, habe ich im Radio Parfümeure über ihren Beruf sprechen hören und wusste sofort, das ist der Job meines Lebens.“
Und was lernt man an der Parfüm-Universität? Riechen? „Ja, und zwar so lange, bis man in der Lage ist, Düfte in ihre Einzelbestandteile zu zerlegen und die Dosierung der Zutaten zu erriechen.“ Eine ganz besondere Begabung, die es jeden Tag zu verbessern gilt, denn die Rohstoffe eines Parfüms kann jeder auswendig lernen, da ist sie sich sicher. Alles nur eine Frage der Zeit. „Aber ein Parfüm zu komponieren, ist eine ganz andere Herausforderung. Dabei muss man Menschen berühren, genau den Duft finden, der ihr Herz erobert. Eine Geschichte schreiben – und zwar ohne Worte.“
Die 36-Jährige trägt ein weißes T-Shirt, die enge schwarze Jeans zeichnet ihre durchtrainierten Beine ab. Früher feierte sie Erfolge im Dreisprung und Hundertmetersprint. Das bunte Seidentuch weht mit ihren hellbraunen Haaren im Wind. Ihr Gesicht ist zart und hell, einige Sommersprossen bahnen sich den Weg über ihre Nase. Die braunen Augen leuchten. Sie reibt die Kuppen von Daumen und Zeigefinger aneinander, dazwischen ein dunkelgrünes Blatt, saugt die Struktur der Pflanze mit ihren Händen auf, schließt die Augen und sagt: „Jetzt muss ich wieder Regeln brechen, Denkmuster ignorieren und unvoreingenommen sein. Denn jetzt darf ich an alles denken – nur nicht an Pflanzen, sonst fehlen mir die richtigen Bilder im Kopf.“
Wenige Minuten später ist sie sich sicher, das Blatt riecht wie Hammelfleisch auf einem Kohlegrill, das einen Hauch zu rauchig ist und liebevoll von Pfefferkörnern umarmt wird. Um Gerüche so in Worte zu fassen, braucht diese Frau nicht viel, nur einen freien Kopf: „Ich ziehe meine Inspiration aus Reisen, dem Kennenlernen neuer Kulturen, aber auch aus Romanen, Ausstellungen und Musik. Das alles sensibilisiert mich. Und mit diesem Gefühl entstehen dann meine Geschichten.“ Verpackt in einem Flakon.
Nach einem Atemzug schließt sie den Porsche 911 SC ins Herz
Südafrika fehlte noch im Duftkosmos der Pariserin. Dieses Land ist perfekt, um Natur zu atmen, Baumrinde abzuknubbeln, über Gräser zu streichen, an Blüten zu riechen. Carlin macht auch keinen Halt vor einem Büschel Wolfshaare, das an einem Maschendrahtzaun hängen geblieben ist. Sie streckt ihre Nase ans Geländer der Tsitsikammabrücke, an den Sand des Wilderness Beach, an Stahlseile, an Autositze. Im Vorbeigehen errät sie das Parfüm der Kellnerin, erkennt das Shampoo der Fotografin. Nach nur einem Atemzug schließt sie den silbernen Porsche 911 SC aus dem Jahr 1978 ins Herz. Weil er so wunderbar horsy riecht, „das erinnert mich an einen Urlaub in der Mongolei. Die mongolischen Pferde duften ganz anders als Pferde in Frankreich“, sagt sie, in Gedanken längst die Schublade der Urlaubserinnerungen geöffnet. Sie drückt ihre Nase erneut auf den Ledersitz des Targa: „Kräftig und wild, das riecht nach Abenteuer.“
Sie summt vor sich hin, während sie die Berge des Franschhoek-Passes hinunterfährt. Ein kleiner Essensstand durchbricht das Bergpanorama, verlassen am Straßenrand. Toast gibt es dort, sie lacht und erzählt: „Früher bin ich nach der Schule oft zu meiner Oma gegangen. Auf den letzten hundert Metern hatte ich immer einen süßlichen, leicht röstigen Geruch von getoasteter Brioche in der Nase. Da wusste ich, dass meine Oma gebacken hatte – und war beruhigt, dass sie noch lebt.“ Für Carlin ist das der Duft ihres Lebens.
Der Targa lässt die Garden Route ins Innere strömen
Momentan riecht sie am liebsten Vetiver, tropisches Süßgras aus Asien. „Vetiver vereint so viele Bilder im Kopf. Es riecht rauchig und holzig, nach Erdnüssen und Grapefruit zugleich.“ Es gibt aber auch Gerüche im Leben von Carlin, die sie bis in ihre schlimmsten Träume begleiten. Zu gerne würde sie diese vergessen, doch das ist gar nicht so leicht. Der Geruch von schäbigen U-Bahn-Stationen ist so ein Albtraum – die Mischung aus Abfall, verschüttetem Bier, heimatlosen und gehetzten Menschen.
Der Targa lässt die Garden Route ins Innere strömen. Carlin fährt über Gordon’s Bay nach Knysna gen Westen. Die fruchtbare Gegend und die hügeligen Weinberge rund um Kapstadt liegen weit hinter ihr. Sie streckt ihr Kinn nach oben, es riecht verbrannt, irgendwo in der Nähe brennt Feuer. Sie entscheidet sich für einen Umweg. Für eine Parfümeurin spielen sich die wahren Abenteuer abseits der großen Straßen ab. Dann, wenn sie den Porsche geparkt hat und die Natur erkundet, Stift und Notizbuch in der Hand, alle Sinne geschärft. „Ich muss meine Nase Tag für Tag aufs Neue trainieren“, erklärt sie und blickt auf die Zeit nach der Geburt ihres Sohnes Sasha zurück. In den Monaten danach verzichtete sie einige Male auf Parfüm. „Denn wenn du Parfüm verwendest, dann riecht dein Baby nur noch nach dir.“ Eine absolute Ausnahme für Carlin, denn „ohne Parfüm fühle ich mich nackt“.
Kopfnote, Herznote und Basisnote
Sie erklärt, dass sich alle Kompositionen in eine Duftpyramide einordnen lassen. Die Kopfnote wird als Erstes wahrgenommen, verfliegt aber auch am schnellsten. Die Herznote, der größte Bestandteil eines Parfums, hält lange an und geht die stärkste Verbindung mit der Haut ein. Die Basisnote verbindet sich ganz individuell mit der eigenen Haut. Sie entwickelt bei jedem Menschen eine andere Duftnote. Carlin trinkt einen Chai Latte und schreibt ihre Eindrücke in ihr kleines Buch. Um sich zu erinnern, schließt sie die Augen, versucht, Düfte abzurufen, in Worte zu fassen und erneut abzuspeichern.
Zwischendurch nippt sie an ihrem Wasser. Wasser hat sie auf Inspirationstouren immer dabei. Die Flasche liegt in der Handtasche neben einem T-Shirt von ihrem Freund, eine Nacht lang getragen. Es riecht nach Thomas. Sie schließt die Augen, wie damals, beim ersten Kennenlernen vor einigen Jahren. Mit ihm möchte sie wiederkommen, Südafrika hat sie in ihren Bann gezogen. Ist es so, wie sie es sich vorgestellt hat? „Ich hatte viele Bilder und Gerüche im Kopf. Meine Assoziationskette: ältester Kontinent, Beginn der Welt, Früchte, roter Sand, große Tiere, Urknall. Sinnlich und animalisch zugleich, nach Honig, Freiheit, Weite, Rooibos und Rauch duftend.“ In ihren Gedanken war alles rot. „In Wirklichkeit ist es grün.“ Die Landschaft ist so vielseitig. Es scheint unmöglich, sich nicht zu verlieben. Schroffe Steilküsten und einsame Strände wechseln sich mit Duftteppichen aus Proteablüten ab. Plötzlich fährt man durch einen dunklen Wald mit riesigen Steineiben, deren biegsame Arme durch das Targa-Dach schnalzen.
Sie schließt ihr Notizbuch und erzählt, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, um Gerüche festzuhalten: mit Hightech, genannt Headspace. „Das ist ein Gerät, mit dem ich den Geruch einer lebendigen Pflanze einfangen kann. Darin werden die Duftstoffe in ihre kleinsten Strukturbausteine zerlegt, man erhält quasi einen Bauplan der Stoffe und kann sie anschließend im Labor nachbilden.“ Carlin hat nur ihre Sinne verwendet, Düfte in Worte gefasst. Ihre letzte Notiz gilt dem Honigbusch: „Es ist der Duft der Freiheit im Herzen.“
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche-Kundenmagazin Christophorus, Nr. 378
Text: Christina Rahmes // Fotografie: Petra Sagnak